Christian Helge Peters | Veranstaltungsbericht | 19.11.2015
Sociological Perspectives on Emotional Reflexivity
Tagung am Hamburger Institut für Sozialforschung, 30. September bis 2. Oktober 2015
Vom 30. September bis zum 2. Oktober fand am Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) eine Tagung zum Thema Emotionale Reflexivität statt. Organisiert wurde die Tagung von Jörg Potthast in Kooperation mit dem HIS.
Nach einer kurzen Begrüßungsrede von WOLFGANG KNÖBL (Hamburg), dem Direktor des Instituts, wies JÖRG POTTHAST (Siegen) in seinem einleitenden Kommentar auf den Grund und die Bedeutung des Tagungsthemas hin: Zwar herrsche in der soziologischen Diskussion mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich beim Phänomen der Reflexivität nicht um einen rein kognitiven Vorgang handele, doch sei diese Einsicht bislang nicht ausreichend vertieft worden. Es sei daher nach wie vor offen, wie emotionale Reflexivität überhaupt konkret „funktioniert“. Unter Rekurs auf die soziologische Tradition stellte er idealtypisch zwei Ansätze gegeneinander, die jeweils einen Teil des Begriffspaares „emotionale Reflexivität“ ausblendeten: Demnach betrachte der holistische Ansatz zwar emotionale Gruppendynamiken, vernachlässige dabei jedoch deren Reflexivität, wohingegen der atomistische Ansatz das rationalistisch-reflexive Verhalten von Individuen zwar fokussiere, dabei jedoch deren emotionale Entscheidungsgründe ausblende. Die Frage, die es Potthast zufolge zu beantworten galt, lautete daher wie folgt: Wie werden Gefühle reflexiv beziehungsweise was ist überhaupt emotionale Reflexivität?
Im Panel zur „Practical reflexivity“ führte LARISSA SCHINDLER (Hamburg) am Gegenstand der Martial Arts aus, wie Formen praktischen Wissens über verschiedene Kampftechniken, also letztlich körperliche Praktiken, in Kampfsportschulen vermittelt und antrainiert werden. Während ihrer teilnehmenden Beobachtung habe sie erkannt, dass diese Wissensübertragung nicht rein sprachlich funktioniert. Die verbale Form der Wissensübertragung werde vielmehr begleitet von einer visuellen, die sich über die Beobachtung der einzustudierenden Körperpraktiken vollzieht. Sehen allein reiche jedoch ebenfalls nicht aus, sondern es bedürfe zudem noch einer somatischen Form der Vermittlung zur Aneignung der zu erlernenden Praktiken. Diese Form der Wissensvermittlung arbeite mit direkten körperlichen Berührungen und dem Nachvollzug von Bewegungen in Interaktion mit anderen Körpern. Offen blieb bei der Darstellung allerdings die leitende Frage nach der Rolle der Emotionen, die von der Referentin nicht näher thematisiert wurde. Das Konzept der somatischen Vermittlung böte aber eine Weiterführung hinsichtlich der Rolle von Emotionen im Prozess der Wissensübertragung an.
Ein anderes Beispiel praktischer Reflexivität bot der Vortrag von THOMAS SCHEFFER (Frankfurt am Main), der sich mit der Frage auseinandersetzte, wie Affekte als Ausdruck (moralischer) Verunsicherung im Rahmen institutionalisierter Kommunikationsprozesse transformiert werden. Als Beispiel diente ihm der Funkverkehr im Vorfeld des von dem deutschen Oberst Klein befehligten Bombereinsatzes auf zwei entführte Tanklastzüge im afghanischen Kundus im September 2009, der den Tod von mehr als 100 Zivilisten zur Folge hatte. Im Zuge einer Analyse des Kommunikationsverlaufs rekonstruierte Scheffer, wie der anfangs von einem der Piloten spontan empfundene moralische Affekt, der sich dann zwischen allen beteiligten Akteuren ausbreitete, mit einem Widerwillen gegen den Einsatzbefehl – dem „trouble“ – einherging. Im Rahmen des standardmäßig vorgeschriebenen Prozedere durch die Verständigung über bestimmte Situationsdeutungen seitens der beteiligten Akteure wurde der „trouble“ kleingearbeitet und schließlich zum Verstummen gebracht. Erst dann konnte der Einsatz ausgeführt werden. Dieser aus organisationssoziologischer Perspektive wenig überraschende Befund mündete in die Feststellung, dass die Bedeutung institutioneller Rahmenbedingungen für die Ermöglichung oder Verhinderung von Prozessen emotionaler Reflexivität weiterer Aufklärung im Rahmen vergleichender Untersuchungen bedürfe.
Im anschließenden Panel zum Thema „Collective emotions“ untersuchte ANNETTE SCHNABEL (Düsseldorf) in einem gleichermaßen ideengeschichtlich wie systematisch argumentierenden Vortrag die Rolle von Gefühlen in den klassischen Sozialtheorien der Moderne. Als Ergebnis ihrer kritischen Rekapitulation der soziologischen Traditionsbestände von Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber über Norbert Elias und Talcott Parsons bis hin zu Ulrich Beck und Michel Foucault konstatierte sie das Fehlen einer konsistenten Theorie, die sowohl das individuelle Moment der Verschiedenartigkeit von Emotionen als auch das kollektive Moment ihrer Gleichartigkeit angemessen erklären kann. Das zentrale konzeptionelle Problem der vorhandenen Ansätze, so Schnabel, bestehe in einer Überbetonung der Selbst/Andere-Dichotomie, die beide Teile zu stark voneinander abgrenze und umgreifende Elemente, wie zum Beispiel die gemeinsam erfahrene Atmosphäre einer Situation, vernachlässige. Ausgehend von den konstatierten Defiziten der bestehenden Erklärungsansätze formulierte sie am Ende ihres Vortrags Bausteine zu einer holistischen Theorie geteilter Emotionen, die in der Lage sein soll, die starre Selbst/Andere-Unterscheidung zu vermeiden und konstitutive Beziehungen zum Anderen, wie sie unter anderem in Form des Phänomens der Spiegelung vorliegen, sowie die Erklärungskraft von Situationen zu berücksichtigen.
Einen anderen Aspekt fasste CHRISTIAN BORCH (Kopenhagen) ins Auge, der sich in konstruktiver Weise mit der in den älteren Massentheorien von Gustave Le Bon und Gabriel Tarde formulierten Einsicht der Steigerungsfähigkeit kollektiver Emotionen auseinandersetzte. Am Phänomen des „avalanching“, also der lawinenartigen Selbststeigerung und -verstärkung kollektiver Prozesse, ging er genauer auf die Eigenlogik von Massen als Kollektivakteuren ein, die er als eine Form emotionaler Reflexivität zu deuten suchte. Demnach komme es im Rahmen des „avalanching“ einerseits zu einer rasanten Expansion von Nachahmungen, die aber andererseits auch zu einem Kollaps der Masse führen und so einen Prozess der kollektiven Reflexivität auslösen könnten. Am Beispiel des computergestützten, durch Algorithmen gesteuerten Hochfrequenzhandels an den Börsen skizzierte Borch am Ende seines Vortrags Anknüpfungspunkte für weiterführende (post-humanistische) Forschungen, die Aspekte der Massentheorie zur Analyse der Logik und Funktionsweise algorithmischer Handelstechniken, also für andere Formen der Sozialität mit materiellen Techniken nutzen sollen. Derartige Untersuchungen vermögen sicherlich zur weiteren Aufhellung der Problematik emotionaler Reflexivität beizutragen, an die sie eher lose angekoppelt sind. JACK KATZ (Los Angeles) jedoch schien daran starke Zweifel zu haben, kritisierte er doch in seinem Diskussionsbeitrag die mangelnde empirische Sättigung und das metaphorische Denken der älteren Massentheorien, die er lediglich als Beiträge zur Ideengeschichte, aber nicht zur Soziologie gelten lassen wollte.
Im Panel mit dem markanten Titel „Emotional ghettos“ berichtete BOWEN PAULLE (Amsterdam) in eindringlicher Weise von seinen Beobachtungen an Schulen in „sozialen Brennpunkten“ New Yorks und Amsterdams. Im Mittelpunkt seines analytischen Interesses stand dabei das Phänomen des „coming hard“, das den Prozess der Aneignung einer neuen, Sprache, Verhalten, Kleidung und Körperlichkeit prägenden aggressiven Identität durch zuvor unauffällige männliche Jugendliche aus prekären sozialen Verhältnissen meint. Paulle beschrieb diesen Vorgang, den er aus der Perspektive eines an der Schule unterrichtenden Lehrers beobachtete, als einen weitgehend prä-diskursiven und körperlichen, aber keinesfalls biologistischen oder kognitivistischen Prozess. Während des „hardening“ verlören die Jugendlichen ihre instinktive Verbindung zu ihrem Körper und ihrem dem Prozess vorangehenden „authentischen“ Selbst, und letztendlich auch zu ihrer rationalen Reflexivität. Statt dessen gingen sie dazu über, die diskursive Ebene der Verhaltenssteuerung in wachsendem Maße auszublenden und beispielsweise ihre Angst oder ihre Selbstzweifel in zur Schau gestellte extreme Aggressivität, Coolness und die Nachahmung von Redeweisen und Kleidungsstilen zu transformieren, um sich so den Respekt der übrigen SchülerInnen und ein „standing“ in der von ihnen für relevant erachteten „peer-group“ zu sichern. Interessant mit Blick auf das Tagungsthema war die Beobachtung, dass die Jugendlichen in besonderen Gesprächssituationen zwar zu relativ nüchternen und zutreffenden Selbstbeschreibungen fähig waren, das Wissen um die schwindenden eigenen Zukunftsaussichten aber keine Einstellungs- oder Verhaltensänderung zur Folge hatte.
PAULINE DELAGE (Lausanne) widmete sich dem Thema der Tagung im Panel über „Professional emotion work“ mit Blick auf die emotionale Arbeit von professionellen Fürsprecher_innen, die von häuslicher Gewalt betroffene Frauen betreuen. In ihrem Vortrag, in dem sie die Ergebnisse einer vergleichenden Untersuchung zweier Hilfsprojekte in Frankreich und den USA präsentierte, machte sie auf die grundlegende Bedeutung von selbstreflexiven Prozessen für die Arbeit der Fürsprecher_innen aufmerksam. Für diese seien der reflexive Umgang mit den eigenen Emotionen und die Wahrung eines Mindestmaßes an Distanz zu den Betroffenen unerlässlich, um sich in ihrem professionellen Handeln nicht zu stark durch persönliche Gefühle beeinflussen zu lassen. Für ihre Arbeit müssten die Fürsprecher_innen aber nicht nur ihre eigenen Gefühle analysieren und kontrollieren, sondern auch die ihrer Klientinnen. Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen ebenso wie die des Gegenübers kompetent zu reflektieren und sie je nach Situation steuern zu können, wollte Delage dabei als Ausweis von Professionalität im positiven Sinn verstanden wissen. Damit bezog sie indirekt Position gegen Scheffer, der in seiner Analyse zu einer kritischeren Bewertung professioneller Distanz gelangt war.
Im zweiten Vortrag des Panels betrachtete NICOLAS DODIER (Paris) die von Anwält_innen vor Gericht geübte Praxis strategischer Reflexivität, die darauf abziele, den Respekt vor gefühlten moralischen Regeln wie Menschlichkeit, von denen man annimmt, dass sie allgemein geteilt werden, zum Ausdruck zu bringen, um so die eigenen Erfolgschancen zu steigern. Am Beispiel eines Strafprozesses gegen eine Reihe von Ärzten, die angeklagt waren, durch falsche Behandlungsmethoden den Tod von mehr als 100 Patient_innen verschuldet zu haben, führte er aus, mit welchen Strategien die Prozessparteien der doppelten Herausforderung zu begegnen suchten, einerseits ihre Humanität und Anteilnahme mit den Opfern und deren Angehörigen zum Ausdruck zu bringen, und sich andererseits um eine möglichst objektive Rekonstruktion der Geschehnisse zu bemühen. Zu diesem Zweck, so Dodier, hätten sich die Anwälte nicht nur bemüht, vor den Geschworenen als gute Menschen zu erscheinen, sondern auch darum, ihre eigenen Emotionen aus den Prozessen so gut wie möglich herauszuhalten, um nicht als voreingenommen zu gelten.
SYLVIA TERPE (Halle) begann das Panel „Concepts (distinctions)“ mit einem Vortrag zu dem schon rein begrifflich interessanten Phänomen epistemischer Gefühle, die entstünden, wenn jemanden etwas „auf der Zunge“ liege, jemand ein „Aha-Erlebnis“ oder eine „Ahnung“ habe. Ihre Besonderheit liege darin, dass sie Prozesse emotionaler Reflexivität anregen können. Auf diese Weise machten sie Personen auf vielfältige Dinge wie Erinnerungen, Gefühle oder Sachverhalte aufmerksam, die sie zwar intuitiv kennen, aber in einer bestimmten Situation gerade nicht abrufen können. Das Besondere an diesen Gefühlen sei, dass sie Wissen, Glauben und Emotionen gleichermaßen adressieren. Sie könnten emotionale Erfahrungen aufrechterhalten oder transformieren und Denkprozesse motivieren oder einfrieren. In diesem Zusammenhang warnte Terpe allerdings vor dem Missverständnis, epistemische Gefühle könnten Prozesse emotionaler Reflexivität nicht nur anregen, sondern auch ihren Ausgang in direkter Weise determinieren. Der Reflexionsprozess selbst werde vielmehr noch von zahlreichen anderen Faktoren beeinflusst, so dass sich sein Ausgang nicht genau prognostizieren lasse.
Eine Theorie der Affektbeziehungen entwickelte CHRISTIAN VON SCHEVE (Berlin) im zweiten Vortrag des Panels: Mit Blick auf die affektive Relationalität verschiebe sich der Blick von individuellen und intentionalen Emotionen zu sozialen, relationalen und situierten Beziehungen zwischen affizierten Körpern. Affekte verbänden unterschiedliche Elemente wie Menschen, Ideen oder Dinge auf eine spezifische Weise und formten so ihrerseits die Art, wie die Elemente in Kollektiven miteinander räsonieren. Menschliche affektive Beziehungen sind vor allem vorreflexiv und unbewusst. Er betonte, dass diese Verbindung selbst aber nicht präsozial sei, wie viele philosophische Affekttheorien tendenziell nahelegen würden. Affektive Dynamiken seien vielmehr stets in verschiedene Strukturen (Ökonomie, Machtverhältnisse) eingebunden und darüber hinaus auch von symbolischen Repräsentationsprozessen und Diskursen geprägt. Affektive Beziehungen sind daher nicht völlig abiträr, sondern von den komplexen sozialen Situationen beeinflusst und in eine bestimmte Richtung gelenkt. Sie lassen sich bis zu einem gewissen Grad steuern und für bestehende Machtverhältnisse vereinnahmen. Für die Analyse der sozialen Struktur der Affekte schlug er ethnographische Forschungsdesigns, narrative Interviews oder Momentaufnahmen affektiver Gefühle vor.
Dass Emotionen als Narrative verstanden werden können, war die These, für die HELLA DIETZ (Göttingen) in ihrem Vortrag im Panel „Concepts (syntheses)“ argumentierte. Unter Rekurs auf die pragmatistische Tradition und ein weit verstandenes Konzept der Narration suchte sie die Entstehung der zivilgesellschaftlichen Opposition im Polen der 1980er-Jahre zu erklären. Demnach entstehe Reflexivität immer dann, wenn ein Handlungsproblem in einer Situation gelöst werden muss. Zu diesem Zweck entwickelten die Beteiligten Narrative, die ihnen geeignet schienen, heterogene Elemente wie Personen, Ideen oder Ziele zu einer (politischen) Einheit zusammenbringen. Generell, so Dietz, seien Emotionen narrativ strukturiert und ließen sich nur im Rahmen von Narrationen (reflexiv) verständlich machen. Der Vorteil ihres Konzepts zeige sich darin, dass Reflexion keiner starken kognitiven Reflexionsleistung der einzelnen Individuen mehr bedürfe, da deren Reflexivität immer schon emotional beeinflusst sei. Emotionen ermöglichen dann die Anpassung und Veränderung von Verhalten, ohne einen starken Begriff von Reflexivität. Bei der Untersuchung emotionaler Reflexivität verschiebe sich der analytische Fokus dann auf die Prozesse der Narration und auf soziale Konfigurationen, in denen Narrative entstehen.
Im zweiten Vortrag des Panels „Concepts (syntheses)“ behandelte NINA DEGELE (Freiburg i. Br.) Gruppendiskussionen als eine spezifische Methode zur Untersuchung affektiver Reflexivität. Letztere charakterisierte sie dabei als den Moment, in dem das Gesagte der Rekapitulation und Bewertung durch die Beteiligten zugänglich wird. Einmal in Gang gesetzt, vollziehe sie sich als ein gleichermaßen rationaler wie affektiver Prozess. Gruppendiskussionen seien zur Untersuchung des Phänomens deshalb besonders gut geeignet, weil deren Interaktionsdynamik bestimmte, für gewöhnlich stärker kontrollierte Affekte leichter entstehen und sichtbar werden lasse. Anhand von Diskussionen über Fußball zeigte sie, wie es den Beteiligten nicht immer gelang, ein adäquates Bild von sich herzustellen und im Laufe der Diskussion aufrecht zu erhalten. Stattdessen hätten diese sich immer wieder dabei ertappt, wie sie Dinge sagten, die sie ihrem eigenen Selbstverständnis nach eigentlich ablehnen. Affektive Reflexivität bezeichne genau diesen Moment, plötzlich einsetzender (Selbst-)Erkenntnis.
JACK KATZ schloss mit seinem Beitrag im Panel „Transcending situations“ die Reihe der Vorträge ab. Er explizierte anhand vielfältiger Alltagstätigkeiten wie dem Essen mit Besteck, Haarekämmen oder Waschen unterschiedliche Situationen oder „Projekte“ mit je unterschiedlichen Regeln, die den Akteuren mehr oder weniger bewusst sein können. Jeder Wechsel zwischen solchen Situationen unterbreche das Selbst in seinem „flow“, weshalb es die verlorene Kontinuität durch eine Art Übersprunghandlung wieder herstellen müsse. In den letzten zwei Beispielen reagierten die agierenden Personen quasi unbewusst in einer Situation, weil sie ihnen im Laufe der Zeit zur Routine geworden sei. Klarer Regeln bedürfe es daher nicht. Dieses „Unbewusste“ lasse sich im Alltag beobachten, weshalb Katz von einem „visible unconsciousness“ sprach: Personen besäßen demnach für die unterschiedlichen alltäglichen Situationen ein ganzes Set unbewusster Routinen. Er verallgemeinerte seine Untersuchungen der verschiedenen Situationen dahingehend, dass er vorschlug, die sich stets in der Gegenwart vollziehende praktische Bewältigung des sozialen Lebens, ja das soziale Lebens selbst als Aneinanderreihung (zeitlich) segmentierter Projekte zu begreifen. Biologisches Leben verlaufe im Gegensatz zum sozialen aber kontinuierlich.
In der von JÖRG POTTHAST geleiteten Abschlussdiskussion kamen schließlich eine Reihe offener Fragen zur Sprache, von denen einige auch schon im Verlauf der Tagung aufgeworfen, aber nicht näher erörtert worden waren. Weitgehend einig war man sich darin, dass die in den einzelnen Vorträgen nicht immer hinreichend trennscharf vorgenommene Unterscheidung zwischen Emotionen und Affekten weiterer Aufklärung bedürfe. Die gleiche Ansicht herrschte auch hinsichtlich der damit zusammenhängenden Frage nach der Differenz zwischen emotionaler und affektiver Reflexivität, die im Verlauf der Tagung ebenfalls unbeantwortet geblieben war. Außerdem war man der Meinung, dass emotionale Reflexivität zukünftig noch deutlicher von anderen Formen der Reflexivität wie körperlicher oder kognitiver Reflexivität abgegrenzt werden müsse. Erst mit klarer Begriffsschärfe könnten Emotionen und Affekte in ihren Beziehungen etwa zu konkreten Situationen, zur Biographie der Individuen oder zum Körper genauer beschrieben werden. Ebenso blieb weitgehend offen, welche konzeptionelle Rolle bestimmte Verhaltensweisen oder Techniken für das Verhältnis von Reflexivität und Emotionen spielen und in welchen Forschungsfeldern sich Prozesse emotionaler Reflexivität besonders gut beobachten lassen. Und schließlich wurde auch auf die Notwendigkeit der Ausarbeitung einer adäquaten Methodologie sowie spezifischer Methoden zur besseren Analyse des komplexen Phänomenbereichs verwiesen.
Insgesamt bot die Tagung somit anregende Einblicke in eine Vielzahl von Themengebieten und Forschungsansätzen, was durchaus als Beleg für die Fruchtbarkeit des Konzepts der emotionalen Reflexivität gelten kann. Die in der Schlussrunde formulierten offenen Fragen, die mehr oder weniger grundlegender Art waren und deren Beantwortung oder zumindest eingehende Diskussion während der Konferenz nicht ausreichend geschah, offenbarten aber auch ein Problem der Veranstaltung, nämlich ein fehlendes Bemühen um stärkere theoretische Systematisierung und begriffliche Präzisierung. Für die Zukunft bleibt dies eine Aufgabe, der es sich lohnt weiter nachzugehen, um Emotionen und Reflexivität noch tiefergehender zusammen zu denken.
Konferenzübersicht:
Wolfgang Knöbl (Hamburg), Greetings and opening remarks
Jörg Potthast (Siegen), Introductory remarks
Practical Reflexivity
chair: Jörg Potthast
Larissa Schindler (Hamburg), Ready to fight: A sociology of practical knowledge
Thomas Scheffer (Frankfurt am Main), Dealing with troubling figures. A case of emotional Reflexivity
Collective Emotions
chair: Thomas Scheffer
Annette Schnabel (Düsseldorf), Sharing of emotions – easily done but hard to explain
Christian Borch (Kopenhagen), Crowd theory and emotional reflexivity: Reflections on social avalanching
Emotional Ghettos
chair: Larissa Schindler
Bowen Paulle (Amsterdam), Coming hard: The primacy of embodied stress responses in high poverty schools
Professional emotion work
chair: Nina Degele
Pauline Delage (Lausanne), Emotional work as a professional jurisdiction. How domestic violence advocates define their work by managing survivors’ emotions and controlling their own
Nicolas Dodier (Paris), Dealing with compassion at work. Strategic reflexivity among court lawyers
Concepts (distinctions)
chair: Annette Schnabel
Sylvia Terpe (Halle), Epistemic feelings as promoters of (emotional) reflexivity
Christian von Scheve (Berlin), Reflexivity between affect and emotion: Theory and related evidence
Concepts (syntheses)
chair: Christian von Scheve
Hella Dietz (Göttingen), Emotions as narratives: Syntheses of the heterogeneous in protest movements and beyond
Nina Degele (Freiburg i. Br.), Football as an emotional outlet: Group discussions as methodological tools for reconstructing affective reflexivity
Transcending situations
chair: Hella Dietz
Jack Katz (Los Angeles), Provocations of self: Evoking, provoking, insulating, grounding and collaboratively actualizing personal identity
Jörg Potthast (Siegen), Notes for a concluding discussion
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Affekte / Emotionen Gesellschaftstheorie
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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