Thomas Frisch | Veranstaltungsbericht |

Soziologie der Bewertung

Workshop an der Universität Bremen, 10.–11. Dezember 2015

Ein vierköpfiges Organisationsteam des Instituts für empirische und angewandte Soziologie, bestehend aus Enno Aljets, Frank Meier, Thorsten Peetz und Désirée Waibel, lud im Dezember zu einem zweitägigen Workshop an die Universität Bremen, um sich intensiv mit Bewertung als allgegenwärtigem sozialem Phänomen zu befassen.

In der Einführung stellte DÉSIRÉE WAIBEL (Bremen) zunächst die Ziele der Veranstaltung vor, die vor allem unterschiedlichste Ansätze miteinander ins Gespräch bringen sollte. Ein Blick auf das Programm verdeutlichte die Heterogenität der Beträge hinsichtlich ihrer Forschungsgegenstände und theoretischen Verankerung. Waibel bediente für dieses bunte Sammelsurium an Ideen, Konzepten und Herangehensweisen die Metapher eines Labyrinths, das es zu erkunden und systematisch zu nutzen gelte, was nur mittels einer vergleichenden Perspektive geschehen könne. Angesichts des relativ jungen Interesses der deutschsprachigen Soziologie an Praktiken des Wertens und Bewertens – zumindest in dieser expliziten Form – stünden auch essenzielle Fragen im Fokus: Sei eine Soziologie der Bewertung überhaupt notwendig und was genau solle darunter verstanden werden? Als ersten Ansatzpunkt hielt sie fest, dass die Forschungsobjekte einer Soziologie der Bewertung nicht klar definiert werden könnten, weil sie quer zu allen Gegenstandsbereichen und Bindestrichsoziologien liegen würden.

Grundlegende Überlegungen zur Soziologie der Bewertung

OLIVER BERLI (Köln) und STEFAN NICOLAE (Trier) knüpften in ihrem anschließenden Plenarvortrag direkt an diese Bestandsaufnahme an, indem sie die Arbeit an einer Soziologie des Wertens und Bewertens als ein ambivalentes Unterfangen bezeichneten, dessen gemeinsamer Nenner nach Stefan Hirschauer nicht ein Forschungsobjekt, sondern vielmehr ein Forschungsziel sein müsse. In der Folge unternahmen sie den Versuch, etwas Orientierung im Labyrinth zu gewinnen. Die unübersichtliche Entwicklung bisheriger Forschung wurde mit Verweis auf Pierre Bourdieu, Luc Boltanski & Laurent Thévenot, Michèle Lamont, David Stark, Alfred Schütz sowie Peter Berger & Thomas Luckmann deutlicher strukturiert. In der anschließenden Diskussion kam mit dem Verhältnis zwischen Wissen und Werten, unter Verweis auf das Postulat der Wissenssoziologie „Werten setzt Wissen voraus“, bereits eine der zentralen Fragen der beiden Tage auf.

Im zweiten Plenarvortrag präsentierte MICHAEL HUTTER (Berlin) seine Kritik am vermeintlichen Primat des Wissens. Er verknüpfte die Bedeutung des Wertens mit schöpferischen Situationen, Momenten also, die sich gerade durch ein hohes Maß an Ungewissheit auszeichnen. Hutter versteht Wertungen als momenthafte, spielgetriebene Performances und veranschaulichte dies in seinen Ausführungen u.a. sehr eindrücklich mit einem Klangbeispiel der Doors. Die Transkripte der Diskussionen unter den Bandmitgliedern zeigen, wie schwer es ihnen fällt, die Klänge der damals gerade erst erfundenen elektronischen Synthesizer sprachlich zu fassen und somit auch zu werten.

ANNE K. KRÜGER und MARTIN REINHART (Berlin) unternahmen am zweiten Tag einen weiteren Versuch, den bisherigen Forschungsstand einer Soziologie der Bewertung zu sichten und eine übergeordnete Agenda für das noch nicht etablierte Feld vorzuschlagen. Dabei machten sie sich für eine Perspektive stark, die einerseits zwischen Wert und Werten sowie zwischen Wertzuschreibung und Bewertung differenziert und andererseits den Emotionen stärkere Bedeutung zuschreibt, indem sie, nach Georg Simmel, zwischen Wertgefühlen (affektiv) und Wertabwägungen (kognitiv) unterscheidet.

Bewertungen in Schule und Wissenschaft

HERBERT KALTHOFF (Mainz) beschäftigte sich mit der grundlegenden Frage, wie Humandifferenzierung funktioniert. Anhand vieler Beispielsituationen, die er in Schulen beobachtete, illustrierte er das komplexe Zusammenspiel verschiedener formaler und informeller Prozesse, das am Ende in eine quantifizierte Bewertung der einzelnen Schüler_innen mündet. So verwenden Lehrer_innen eine Vielzahl von Methoden der Leistungsbeurteilung, vergleichen permanent einzelne Personen mit sich selbst und anderen oder passen ihren eigenen Bewertungsmaßstab laufend an.

ACHIM BROSZIEWSKI (Kreuzlingen) wies in seinem Beitrag darauf hin, dass Werte und Wertungen ohnehin ein universaler Sachverhalt der soziologischen Theorie seien und ihre eigenständige Dynamik in der Frage nach ihrer sozialen Form begründet liege, die er in der Unterstellung, der Unterschwelligkeit und der Implizität verortete. In der Folge stellte er unter Rückgriff auf Niklas Luhmann sowie ebenfalls am Beispiel der Personen- und Organisationsbewertung in der Schule heraus, dass Bewertungskompetenzen nur innerhalb eines geschlossenen Systems bestimmbar seien.

JULIANE LARKE und ANDREAS BREITER (Bremen) argumentierten in ihrem Beitrag dafür, Bewertungen nicht nur als sozialen, sondern auch als materiellen Prozess zu begreifen. Anhand von drei Fallbeispielen zur Verwendung digitaler Datenerhebungsverfahren in US-amerikanischen Schulen zeigten sie, dass Bewertungstechnologien keineswegs wertneutral sind. Vielmehr könnten sie, ursprünglich als Maßnahme zur Verbesserung der schulischen Ausbildung gedacht, als mächtige Kontrollinstrumente eingesetzt werden, denen Schüler_innen und Lehrer_innen passiv ausgeliefert seien.

MELIKE JANßEN und ARIADNE SONDERMANN (Bremen) stellten Ergebnisse aus ihrer laufenden Studie zu den Auswirkungen universitärer Leistungsbeurteilungen auf die Identität von Professor_innen vor. Anhand von zwei konträren Beispielen veranschaulichten sie die Pluralität der Deutungen, die zwischen, aber auch innerhalb von einzelnen Disziplinen auftraten. Über ihren subjektorientierten Zugang konnten sie zeigen, dass der Umgang mit dem zunehmenden Evaluationsdruck vor allem in geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern häufiger als Versuch gedeutet werden kann, die eigene berufliche Identität gegenüber „fremden“ Leistungskriterien zu behaupten.

MATTHIAS HAHN und die krankheitsbedingt abwesende GABRIELE WAGNER (Hannover) vertraten die Ansicht, Bewertungsprozesse würden sich in einer Organisation, wie sie Universitäten darstellen, nur mit organisationstheoretischen Logiken hinreichend erklären lassen. Auf der Basis empirischen Materials präsentierten sie einige grundlegende Probleme, die sich für Qualitätsmanager_innen im Hochschulbereich ergeben. Vor diese Herausforderungen gestellt, würden Mitarbeiter_innen des Qualitätsmanagements fünf Lösungsansätze zu deren Bewältigung entwickeln, indem sie Qualitätsmanagement als Wissenschaftsprojekt, Erziehung, Dienstleistung, Beratung oder auch als Wettbewerb definieren.

BERND KLEIMANN (Hannover) verdeutlichte in seinem Vortrag die komplexe Architektur von Bewertungsordnungen am Beispiel des äußerst formalisierten Bewertungsprozesses von Berufungsverfahren an Hochschulen. Dabei verwies er auf die essenzielle Bedeutung der Beobachtung wie des (legitimen) Vergleichs für die Kommunikation von Bewertungen. In der Folge schlug er ein dreidimensionales Modell vor, das die komplexen Einflussfaktoren analytisch einer Zeit-, Sozial- und Sachdimension zuordnete.

Einen interessanten Zugang zur Erfassung akademischer Werte wählte JULIAN HAMANN (Bonn), indem er Nachrufe aus verschiedenen Disziplinen und Ländern untersuchte. Dabei identifizierte er zwei diskursive Praktiken, die diesem Genre ihren Stempel aufdrücken. Zum einen die Darstellung der Forschungsbiografie als kohärentes Ganzes, die das jeweilige Subjekt mit Verweisen auf Errungenschaften und andere namhafte Wissenschaftler_innen im akademischen Universum positioniert. Zum anderen werden die Biografien vor allem durch Erzählungen über „natürliches Talent“ und akademische Verdienste geprägt.

Anhand der historischen Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Perspektive auf Korruption demonstrierte FRAN OSRECKI (Osnabrück) den Wandel von einem funktionalistischen zu einem ökonomisch-quantitativen Paradigma, der sich ab den 1970er-Jahren vollzogen habe. Als Gründe für diesen Umschwung führte er methodologische Probleme und unklare Terminologien an, deren Lücken ökonomische Modelle hätten füllen müssen, die Korruption in numerischen Vergleichen und Rankings quantifizierbar und messbar gemacht hätten.

Den einzigen Vergleich von Bewertungsprozessen in unterschiedlichen Systemen unternahm MARTINA FRANZEN (Berlin). Am Beispiel der Gestalt des Kritikers zeigte sie, wie sich in Wissenschaft und Kunst konträre Rollenkonfigurationen herausgebildet haben. Während die Kunst eine identifizierbare Figur des Kritikers kenne, trete die Person in der Wissenschaft weitgehend hinter die Anonymität des Gutachters zurück. Eine Gemeinsamkeit besteht allerdings im Umgang mit der von Franzen attestierten Krise der Kritik in beiden Systemen. Sie soll durch eine Demokratisierung der Kritik aufgelöst werden, wie Franzen anhand einiger Beispiele, vor allem aus dem breiten Spektrum von Onlineaktivitäten, erläuterte.

Bewertungen in Kunst, Kultur und Religion

LUKAS CREPAZ (Essen), CHRISTIAN HUBER und TOBIAS SCHEYTT (Hamburg) zeigten am Beispiel der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 die komplexe, aber produktive Beziehung zwischen den beiden Konzepten der Kommensurierung (nach Wendy Espeland / Michael Sauder) und der Heterarchie von Wertordnungen (Stark bzw. Boltanski / Thévenot). Sie machten dabei deutlich, wie eine Reihe unterschiedlich mächtiger Akteure mit unterschiedlichen Interessen dynamisch und situationsbezogen Einfluss auf die Bewertung von Kunstprojekten genommen und sich dabei auf verschiedene interne und externe Bewertungsmaßstäbe berufen habe.

Auf die Bedeutung von Kontextualisierung und Konflikthaftigkeit machte TASOS ZEMBYLAS (Wien) in seinem Vortrag aufmerksam. Anhand eines fiktiven Beispiels, der Neuinterpretation von Samuel Becketts Warten auf Godot durch eine junge Regiestudentin, stellte er die Frage in den Raum, ob die gleiche Bewertungsaussage in unterschiedlichen formellen und informellen Kontexten dieselbe Bedeutung habe und wie mögliche Unterschiede und Bewertungskonflikte analytisch wie methodisch interpretiert werden könnten.

DÉSIRÉE WILKE (Salzburg) beschäftigte sich mit der verbalen Kommunikation von Bewertungen in einem basisdemokratisch organisierten Streichquartett. Anhand der Analyse von sogenannten Interventionssequenzen, d.h. Situationen, in denen das Spiel unterbrochen wird, um eine Bewertung abzugeben, zeigte sie, mit welchen kommunikativen Problemen Akteure in diesem Fall konfrontiert sind und welche Strategien sie bei der Mitteilung eines Urteils anwenden, um das Verletzungspotenzial der Kritik möglichst gering zu halten.

MARKUS WALZ (Leipzig) gab einen Einblick in die Qualitätsdebatte in Museen und Bibliotheken. Durch die unkoordinierten Maßnahmen verschiedenster Akteure auf Bundes-, Länder- und Institutionenebene sei eine schwer durchschaubare Landschaft von Zertifizierungen entstanden, die in ihrer Breite so nicht gewollt gewesen sei. Die Episode sei ein gutes Beispiel für das Scheitern von Standardisierungs- und Vergleichsbarkeitsbemühungen.

Einen ebenfalls sehr formalisierten Bewertungsprozess nahm HILMAR SCHÄFER (Frankfurt/Oder) unter die Lupe. Unter Rückgriff auf praxistheoretische Überlegungen und mit Hilfe des Begriffs Bewertungsgemeinschaften analysierte er den mehrstufigen Bewerbungs- und Auszeichnungsprozess, in dem über die Aufnahme kultureller Stätten in die UNESCO-Welterbeliste entschieden wird. Eine besondere Rolle kommt dabei der laut Schäfer zentralen, aber umkämpften Kategorie „Authentizität“ zu.

INSA PRUISKEN und THOMAS KERN (Chemnitz) präsentierten schließlich eine Studie zu den spezifischen Nischenstrukturen dreier Megakirchen und einer großen konventionell evangelikalen Gemeinde im US-Bundestaat Texas. Die ausgewählten Fallbeispiele würden nicht nur zeigen, wie diese religiösen Organisationen zwischen zwei konkurrierenden Bewertungsmaßstäben – dem normativen, theologisch-moralischen Anspruch und dem kognitiven Wachstumsanspruch – wählen müssten, sondern auch, dass eine Übertonung der einen zur Schwächung der anderen Wertordnung führe.

Bewertungen in Arbeit und Wirtschaft

NADINE ARNOLD und RAIMUND HASSE (Luzern) erläuterten anhand des Beispiels der Markenlandschaft im Schweizer Einzelhandel, wie die Bewertung von Vertrauensgütern organisiert werden kann. Moralische Qualitäten, wie sie Biosiegel beschreiben, seien in ihrem Kern sowohl unsicher als auch voraussetzungsreich. Daher werde Glaubwürdigkeit in diesem Fall über Drittparteien hergestellt, die als Standardisierer, Zertifizierer und Akkreditierer aufträten. Die Einbindung Dritter hebe den Organisationsgrad in der Lebensmittelbranche und führe zur Schaffung neuer Bewertungsschlaufen.

LISA KNOLL (Hamburg) sprach sich in ihrem Beitrag dafür aus, Finanzmärkten keinen analytischen Sonderstatus zuzusprechen, unterschieden sie sich doch von Produzentenmärkten lediglich durch die Spezifik ihres Produkts, das in einem besonderen Maß durch Unsicherheit gekennzeichnet sei. Unter Rückgriff auf die Arbeiten der Économie des conventions (EC) nahm sie Händler wie Analysten in den Blick und kam zu dem Schluss, dass ihnen keine anderen handlungspraktischen Formen zur Bewältigung der Unsicherheit zur Verfügung stünden als Akteuren in anderen Wirtschaftszweigen.

Im selben Feld, aber am Beispiel von Ratingagenturen, machte NATALIA BESEDOVSKY (Bremen) deutlich, inwiefern Bewertungen konstitutiv für das bewertete Objekt selbst sein können. Als zentrales Ergebnis präsentierte sie zwei konkurrierende kalkulative Praktiken oder Kulturen des Wertens, die traditionelle Berechnung und die Structured Finance, die sich hinsichtlich der verwendeten Daten und Methoden, der epistemologischen Annahmen und schließlich in ihrer Risikobewertung unterscheiden.

MICHAEL FLORIAN (Hamburg) schloss in seinem Vortrag thematisch an Michael Hutter an, indem er am Beispiel medial inszenierter Business Pitches, also organisierten Wettbewerben zur Präsentation neuer Geschäftsideen vor potenziellen Investoren, Probleme in der Beurteilung von Innovationen herausarbeitete. Unter Verweis auf Lucien Karpiks Ökonomie des Einzigartigen sowie die Arbeiten von Boltanski / Thévenot, Lamont und Bourdieu versteht er Bewertungen als Prozesse der Kategorisierung, Legitimation und Kapitalisierung.

STEFAN KIRCHNER und SVEN HAUFF (Hamburg) beschäftigten sich mit Vorstellungen von Arbeitsqualität in Deutschland und den USA. Ihre Analyse von Daten des International Social Survey Program zeigte einerseits, und wenig überraschend, Gemeinsamkeiten bei den universellen Faktoren Einkommen und interessante Arbeitsinhalte. Andererseits konnten in Deutschland positive Zusammenhänge mit der Arbeitsmarktsicherheit und selbständiger Tätigkeit festgestellt werden, während in den USA Arbeitsplatzsicherheit und Karrierechancen mehr Bedeutung beigemessen werde.

Bewertung im Kontext sozialer Ungleichheit und Gewalt

BETTINA MAHLERT (Aachen) unternahm den Versuch, die gesellschaftstheoretischen Perspektiven von Talcott Parsons, Luhmann und Bourdieu zu miteinander zu verknüpfen. Status ist in ihrem Verständnis eine besondere Form der Personenbewertung, die im Gegensatz zu formalen Bewertungsprozessen, wie bei Sportwettbewerben oder Universitätsrankings, größtenteils informell und implizit abläuft, dafür aber allgegenwärtig ist.

KATJA HERICKS (Potsdam) stellte den historischen Aufstieg des Leistungsprinzips zur institutionalisierten Grundlage einer vermeintlich gerechten gesellschaftlichen Bewertung dar. Als entscheidende Bedingungen für den Erfolg dieser Idee, die erst im späten 19. Jahrhundert und zunächst negativ konnotiert aufkam, führte sie einerseits die durch Kategorisierung und Quantifizierung hergestellte Vergleichbarkeit und andererseits die Universalisierbarkeit des Konzepts an.

ILKA SOMMER (Berlin) beschäftigte sich mit einem sehr spezifischen Kriterium der ungleichen Bewertung, nämlich der Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse in Deutschland. Statt von Anerkennungsgesetzen sollte ihrer Ansicht nach besser von „Bewertungsverfahrensgesetzen“ gesprochen werden, denn die Anerkennung von Gleichwertigkeit erfolgt ihren Ergebnissen zufolge höchst selektiv bzw. stellt eine seltene Ausnahme dar. In der Folge sei die Annahme einer Ungleichwertigkeit von Berufsabschlüssen, sowohl in den Köpfen der Bewertenden als auch der Bewerteten, fest verankert.

Auf der empirischen Grundlage von Geburtsnarrativen im Internet und Interviews mit Expert_innen aus dem Bereich der Geburtshilfe stellte CECILIA COLLOSEUS (Mainz) Überlegungen zur Selbst- und Fremdbewertung des Körpers an. Die Wahrnehmung von Geburt und Schwangerschaft sei demnach durch ein evidenzbasiertes biomedizinisches Masternarrativ dominiert, dem ein affektorientiertes Counternarrativ der Hebammen gegenüberstehe. Colloseus sprach sich aber in ihrem Vortrag für eine Gleichbehandlung der beiden unterschiedlichen Bewertungspraxen aus.

In seinem Vortrag über exzessive Gewalt schlug THOMAS HOEBEL (Bielefeld) vor, Schwachpunkte in der Erklärung exzessiver Gewalt, die die Mikrosoziologie der Gewalt vor allem von Randall Collins und Jack Katz vorgelegt hat, durch eine Ergänzung mit der Économie des conventions auszugleichen. Am Beispiel der Ereignisse rund um den Terrorangriff auf die Redaktion der Zeitschrift Charlie Hebdo stellte er die Bedeutung konventionsbasierter Handlungslinien in den Mittelpunkt, von denen die Angreifer nicht abrücken, weil sie die Konfrontation mit ihren Opfern und Gegner nicht als nennenswerte kritische Momente erleben.

Fazit

Eine abschließende Antwort auf die anfangs gestellte Frage nach dem Selbstverständnis einer Soziologie der Bewertung konnte der Workshop natürlich nicht liefern. Es hat sich vielmehr gezeigt, dass die Zugänge und Abzweigungen des Labyrinths noch lange nicht erkundet, geschweige denn kartografiert sind. Zu unterschiedlich blieben die Annäherungen an das Thema und letztendlich auch das jeweilige Verständnis der zentralen Begrifflichkeiten von Wert, Wertung und Bewertungen. Die Beiträge und Diskussionen haben aber in jedem Fall einige produktive Fragen aufgeworfen, wie z.B. nach dem Verhältnis von Wissen und Werten oder nach der gesellschaftstheoretischen Einbettung der Debatte. Außerdem lieferte die Vielzahl an Einzelstudien wertvolle Einblicke in Details wie Komplexität ausgewählter Bewertungssituationen und verdeutlichte die Allgegenwärtigkeit des Phänomens. Angesichts der Bedeutungszunahme von Onlinebewertungspraktiken in den letzten Jahren war es allerdings verwunderlich, dass Medien und Technologien kaum Berücksichtigung fanden. Die Herausforderung des Forschungsfeldes liegt nun einerseits darin, sich methodisch mehr dem Vergleich unterschiedlicher Kontexte zu widmen – vielleicht auch das Potenzial quantitativer Verfahren intensiver auszuloten. Andererseits wird es notwendig sein, die vorhandenen Theoriebezüge zu verfeinern und dabei auch die affektive Komponente von Bewertungen stärker hervorzuheben, um das Zusammenspiel der verschiedenen Dimensionen von Bewertungsprozessen in unterschiedlichen Situationen besser verstehen zu können.

Konferenzübersicht:

Desirée Waibel (Bremen), Einführung

Oliver Berli (Köln) und Stefan Nicolae (Trier), Die feinen Ähnlichkeiten. Zur Problematik einer Soziologie des Wertens und Bewertens

Michael Hutter (Berlin), Momente der Wertung

Lukas Crepaz (Ruhr.2010 GmbH & Kultur Ruhr GmbH) / Christian Huber / Tobias Scheytt (Hamburg), Bewertung und Organisationsdynamiken. Zur wechselseitigen Abhängigkeit von Wertordnungsheterarchien und Kommensurierung

Nadine Arnold / Raimund Hasse (Luzern), Vertrauensgüter und die Organisation ihrer Bewertung

Matthias Hahn / Gabriele Wagner (Hannover – Wagner krank), Die Bewertung der Organisation bzw. die Organisation der Bewertung

Lisa Knoll (Hamburg), Marktkonstruktionen und Bewertung

Stefan Kirchner / Sven Hauff (Hamburg), Was ist gute Arbeit? Unterschiede in der Bewertung der Arbeitsqualität zwischen den USA und Deutschland

Bettina Mahlert (Aachen), Bewertungspraktiken im Kontext sozialer Ungleichheit. Die symbolische Konstitution gesellschaftlichen Status

Insa Pruisken / Thomas Kern (Chemnitz), Bewertung im Feld der Religion. Eine netzwerkanalytische Untersuchung am Beispiel US-amerikanischer Megakirchen

Katja Hericks (Potsdam), Individuell zurechenbare Positionierung: Die Idee der Leistung als Versprechen einer gerechten Bewertung

Michael Florian (Hamburg), Die Bewertung des Einzigartigen: ‚Business Pitches‘ als interaktive Instanz für die Beurteilung von Innovationen

Ilka Sommer (Berlin), Die Gewalt des kollektiven Besserwissens. Zur Anerkennung und Bewertung ausländischer Berufsqualifikationen in Deutschland

Markus Walz (Leipzig), Bewertungskulturen in Kulturinstitutionen – Self Audits, Zertifizierungen und Prämierungen für deutsche Bibliotheken und Museen im Vergleich

Juliane Jarke / Andreas Breiter (Bremen), Datafying education. How digital assessment practices reconfigure the organisation of learning

Hilmar Schäfer (Frankfurt/Oder), Authentische Kultur? Zur Praxis der Bewertung kulturellen Erbes am Beispiel des UNESCO-Welterbes

Natalia Besedovsky (Bremen), Die Co-Konstituierung von Praktiken und Ideen: Kalkulatorische Praktiken von Ratingagenturen und ihr Einfluss auf Risikokonzeptionen in Finanzmärkten

Cecilia Colloseus (Mainz), Kann man dem Weibe trauen? Die Bewertung des Körpers durch medizinische Expert_innen im Kontext von Schwangerschaft und Geburt

Herbert Kalthoff (Mainz), Beobachten – Differenzieren – Klassifizieren. Zur Praxis der schulischen Humandifferenzierung

Désirée Wilke (Salzburg), Bewertungsprozesse als kommunikative Praxis am Beispiel des basisdemokratischen Musizierens

Achim Brosziewski (Kreuzlingen), Bewertung als strukturelle Schließung der Schulorganisation

Melike Janßen / Ariadne Sondermann (Bremen), Die akademische Identität als Grenze universitärer Leistungsbewertungen?

Martina Franzen (Berlin), Die Rolle des Kritikers im Wandel der Systeme

Bernd Kleimann (Hannover), Zur Architektur von Bewertungsordnungen: Das Beispiel Berufungsverfahren

Tasos Zembylas (Wien), Zur Kontextualiserung von Bewertung

Anne K. Krüger / Martin Reinhart(Berlin), Wert, Werte und Wertungen – Ansätze für eine Soziologie der Bewertung

Julian Hamann (Bonn), Der finale Peer Review. Zur Bewertung von Forschungsbiographien in akademischen Nachrufen

Fran Osrecki (Osnabrück), Eine kurze Geschichte der Messbarkeit von Korruption

Thomas Hoebel (Bielefeld), „Wir töten keine Frauen!“ Konventionsbasierte Stützen extensiver Gewalt

Postersession

Moritz G. Sowada (Münster), Bewertungsprozesse im Rahmen von Schulinspektion: Wie Schulinspektoren zu ihrem Urteil kommen

Jonathan Kropf (Kassel), Intrusion qua technischer Affordanz?

Sabrina Wyss (Luzern), Mythos Emotion. Die Emotionalisierung von Beurteilung und professionelle Freiräume

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Christina Müller.

Kategorien: Epistemologien Gesellschaftstheorie

Thomas Frisch

Thomas Frisch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg und erforscht im Rahmen des DFG-Projekts „Mediale Teilhabe“ den Einfluss digitaler Medien auf den Tourismus. Sein Studium der Soziologie absolvierte er an der  Universität Salzburg sowie an der Universidade Federal do Rio de Janeiro. Zu seinen Forschungsinteressen zählen u.a. Tourismus- und Mediensoziologie, Soziologie des Bewertens, Slum Tourismus und Urban Studies.

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