Jürgen Osterhammel | Interview | 11.01.2024
Über heilige Grundtexte und die Rolle von Rezensionen
Sieben Fragen an Jürgen Osterhammel
Ohne die Lektüre welchen Buches wären Sie heute ein anderer?
Zur Beantwortung dieser Frage muss ich weit zurückgehen. Lektüren, die einem im Nachhinein als existenziell weichenstellend erscheinen, sind Leseerlebnisse aus jungen Jahren. Mein großes Erweckungsjahr war 1968. Im Juni war ich sechzehn geworden und kam nach den Sommerferien in Hanau am Main in die 12. Gymnasialklasse, also die noch nicht „reformierte“ im Klassenverband unterrichtete Oberstufe. Damals hatte ich die inzwischen (leider) längst aufgegebene Eigenschaft, in Büchern zu vermerken, wann ich sie las. Weil ich bei vielen späteren Umzügen eine riesige Menge an Büchern verloren, verschenkt und verkauft habe, die heiligen Grundtexte meiner Jugend aber stets mitgekommen sind, kann ich das Pensum von 1968 ungefähr rekonstruieren. 20. bis 22. Juni: Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner (1952, in einer Taschenbuchausgabe von 1964 ausgerechnet bei dem Popularverlag Droemer-Knaur – so volksnah war T.W.A. einst). Ein pädagogisch halsbrecherischer Musiklehrer ohne Sinn für Kindeswohl hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Ich hatte keine Ahnung, wer Adorno war und nie einen Ton der Musik Richard Wagners gehört (er fehlte im heimischen Plattenschrank: der Mutter war er „zu laut“, dem Vater politisch verdächtig). Damals habe ich mich mit Lineal und Farbstiften (das Wichtigste in rot, Nebenthesen in blau, usw.) über die immerhin 166 Seiten kniffligster Prosa hergemacht – und, so denke ich im Rückblick ganz unbescheiden, sehr viel verstanden. Nimmt man aus jenem Jahr, in dem außerdem noch das Wesentliche von Kafka erschmökert wurde, zwei weitere intensiv absorbierte Leseobjekte hinzu, dann war mein Startpaket ins intellektuelle Leben geschnürt: 1) Eugen Kogon, Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager (1946, immer wieder aufgelegt), ein Buch, dessen schockierende Wucht auch heute leicht erfahrbar ist, und 2) Ralf Dahrendorfs Gesellschaft und Demokratie in Deutschland (1965), das elegante Meisterwerk eines historisierenden sozialwissenschaftlichen Rationalismus.
Seltsam, dass mir im tiefen Rückblick drei derart deutsche Bücher einfallen, habe ich mich doch später zwar mit mancherlei Themen wissenschaftlich beschäftigt, aber nie mit Deutschland.
Welches war die beste/schlechteste Buchempfehlung, die Sie je bekommen haben?
Die meisten schlechten Buchempfehlungen folgen aus unkritischen Rezensionen, deren Enthusiasmus man auf den Leim geht. Ist das schlimm? Wenn man merkt, dass man dabei ist, seine Zeit zu verschwenden, kann man das Buch wieder zuklappen. Hoffentlich hat man dann nicht zu viel Geld dafür ausgegeben. Oder man macht das unverdiente Lob zum Ausgangspunkt für eigene Kritik. Bücher – und auch Rezensionen – können auf ganz unterschiedliche Weise „schlecht“ sein, also auch produktiv und anregend wirken. „Schlechte“ Hinweise sind manchmal Warnungen: Finger weg von diesem Buch! Wenn man dieser Warnung Folge leistet, wird man freilich nie erfahren, ob sie berechtigt war. „Gute“ Empfehlungen gehören meist zur Kategorie „Geheimtipp“. In meiner Londoner Studienzeit wurde ich als Nicht-Anglist immer wieder auf englische Autoren aufmerksam gemacht, von denen ich nie gehört hatte. Einmal wurde mir beispielsweise Joseph Conrad ans Herz gelegt, aus einer polnischen Adelsfamilie stammend, in der heutigen Ukraine geboren, Englisch auch für ihn eine „Fremd“-Sprache. Man kennt heute Heart of Darkness (1899), seine Erzählung über die Kongogreuel. Aber: Alles von ihm! Egal, wo man anfängt! Es lohnt der Lektüre, von Almayer’s Folly (1895) bis zu The Rover (1923). Selbstverständlich war Conrad kein verschollener Autor, das Geheime an diesem Tipp war vollkommen subjektiv, eine Erlösung aus der eigenen Ignoranz.
Mit dem:der Protagonisten:in welchen Buches würden Sie gern tauschen?
Die Bücher, die ich lese, sind auch im Ruhestand meist Fach- und Sachbücher, zunehmend philosophische, auch soziologische Klassiker, die ich noch nicht kannte, selten Romane. Alle diese Bücher haben meist keine identifikationstauglichen Hauptfiguren. Also eine besonders schwierige Frage. Gerade habe ich Jan Philipp Reemtsmas Wieland-Biografie (2023) gelesen. Ja, Christoph Martin Wieland in Weimar (dort lebte er von 1772 bis 1813) wäre ich gerne gewesen: Goethe, Schiller, Herder und die zahllosen Besucher im Weltdorf Weimar aus größtmöglicher Nähe.
Welches Buch hat Sie bei der Lektüre in Rage versetzt?
Ein Wutleser bin ich nie gewesen, auch kein Wutschreiber. Dafür aber ein großer Bewunderer des literarischen Meisterwüterichs Karl Kraus, jetzt leicht zugänglich über die fabelhafte Biografie von Jens Malte Fischer.
Was mich allerdings regelmäßig ärgert, sind „gehypte“ Sachbuchseller – oftmals Übersetzungen, also Bücher, die offensichtlich von Anfang an als Bestseller konzipiert und lanciert wurden. Viele sind sehr gut, manche eben nicht. Da passt der Titel nicht zum Inhalt, Thesen werden „evidenzunbasiert“ überzogen, narrative Techniken kommen übertrieben zum Einsatz, kurz: die Leser:innen werden für dumm verkauft. In meinen Rezensionen bricht der Unmut darüber gelegentlich hervor. Bei robusten Erfolgsautor:innen darf er das, bei Besprechungen von Erstlingswerken ist Milde moralisch geboten.
Welches Buch hat Ihnen in der Retrospektive besser gefallen als während des Lesens?
Dantes Divina commedia, irgendwann einmal während des Studiums der Altgermanistik beiläufig und ohne tieferen Eindruck zur Kenntnis genommen, dann im ersten Corona-Winter wieder hervorgeholt: Ich habe den italienischen Originaltext mit mehreren Übersetzungen auf dem Tisch ausgebreitet, allerdings nur das Inferno sorgfältig und bis zum Ende durchgeackert. Soziologisch vermutet, haben wahrscheinlich Hunderte verunsicherter Bildungsbürger:innen an Weihnachten 2020 Dante gelesen. Oder Proust, oder Joseph und seine Brüder – eben das, was man immer mal lesen wollte. Nur ist Dante nicht so nervenschonend wie diese gemächlichen Großerzählungen; für zartere Gemüter wären trigger warnings angebracht.
Welches verliehene Buch hätten Sie gern zurück?
Wenn ich die Frage radikalisieren darf (weil alle verliehenen Bücher, wenn ich recht sehe, immer ordentlich retourniert, oder sonst sanft und erfolgreich angemahnt worden sind): Welchem verschenkten Buch trauere ich besonders nach? Nachdem ich mir meinen ersten (MS-DOS) Computer gekauft hatte, stand ich völlig ratlos vor dem Problem der „Einrichtung“ dieser seltsamen Kiste, zu der von meiner elektrischen Schreibmaschine aus kein Weg hinführte. Der Bekannte eines Bekannten hat das dann für mich übernommen. Auf die Frage, wie ich ihm dafür danken könne, antwortete er, er habe in meinem Regal die Erstausgabe von Arno Schmidts Fouqué und einige seiner Zeitgenossen (1958) gesehen. Da gab es nichts mehr zu verhandeln.
Ihr literarischer guilty pleasure?
Eine gute Gelegenheit, aus der Perspektive der empirischen Literatursoziologie zu antworten (gibt es sie überhaupt noch?). Ich bin nämlich als Oberstufenschüler über die Soziologie zu meinem Hauptfach Germanistik gelangt, genauer gesagt, durch die frühe Lektüre von Leo Löwenthal (Literatur und Gesellschaft, 1964), Georg Lukács, Arnold Hauser (Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, 1953) und des französischen Satirikers, Jounalisten und Professors für Komparatistik Robert Escarpit (Das Buch und der Leser, 1961). Als ich dann 1970 in Marburg anfing, war ich erstaunt darüber, dass unter den Dozenten der Literaturwissenschaft von diesen Autoritäten nur Lukács bekannt war. Erst der Soziologe Heinz Maus (1911–1978), der mein erster soziologischer Lehrer wurde und mit dem man auch als undergraduate in seiner Sprechstunde schnell ins Gespräch kam, erwies sich als ein profunder Kenner der Literatur-, Musik- und Kunstsoziologie.
Meine gefährlichste Sucht ist eine praktische. Seit Jahrzehnten kaufe ich mehr Bücher, als ich bei mir zu Hause unterbringen kann. Die Bibliothek ist vom Jugendzimmer des Pennälers (mit einem Regal, das ich immer noch besitze) bis zum Freiburger Domizil des Pensionärs immer schneller gewachsen als die entsprechende Aufbewahrungskapazität. Vor mehr als drei Jahrzehnten brachte meine Frau, Sinologin und heute Professorin für chinesische Geschichte, eine enorme Sammlung von Büchern aus und über China in den Hausstand ein. Diese Teilbibliothek hat ihre eigene Expansionsdynamik entwickelt, ist in einem drei Meter hohen Raum an allen Wänden hochgekrochen und erfordert den Gebrauch einer Leiter, die so sinnreich konstruiert ist, dass man in zwei Metern Höhe auf ihr sitzen und Konfuzius lesen kann.
Guilty pleasure im üblicheren Sinne: die Lektüre von musikhistorischer Literatur (zuletzt Christoph Wolff, Bach's Musical Universe, 2020), oft von Klangillustrationen aus der hauseigenen CD-Sammlung begleitet – guilty, weil zeitraubend und ablenkend, wenn man weiter Wissenschaft machen will, sonst ein Rentnerspaß.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Kultur Medien Wissenschaft
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