Herbert Schwaab | Essay | 20.11.2024
Verdrängte und wiedergewonnene Wirklichkeiten
Eine Analyse des True-Crime-Genres anhand der Serie „The Program: Cons, Cult and Kidnapping“
In einer Szene der Netflix-Produktion The Program (USA, 2024) sitzen zwei dreißigjährige Frauen in Schuluniform im Klassenraum einer Schulruine und reinszenieren die Übung eines dort mit ihnen durchgeführten Therapierituals. Sie wiederholen immer wieder die Formel „Palms up, Palms Down, Palms Together, Palms Apart“ und machen dabei entsprechende Bewegungen mit den Händen. Auf die Frage, wie lange sie diese Übung durchführen mussten, antworten sie: „Acht Stunden am Stück, ohne Unterbrechung.“ Die Formel ist das beklemmende Mantra einer Serie, die sich mit den rigiden Mechanismen einer brachialen und unmenschlichen Erziehungsmethode von Jugendlichen in den USA beschäftigt sowie mit deren Unterbringung in einer Institution, die mehr Gefängnis als Schule war. Aufgrund ihrer Ästhetik und Dramaturgie ist die Serie eindeutig im True-Crime-Genre zu verorten – und geht zugleich darüber hinaus. Denn The Program ist von Opfern der sogenannten Troubled Teenager Industry gemacht und gibt ihnen eine Stimme. Die ehemaligen Insass:innen der Erziehungsanstalt erlangen Macht über ihr Schicksal und legen die kriminellen Strukturen der Institution offen.
Mein Beitrag will nach einem kurzen Blick auf bestimmende Merkmale von True-Crime-Formaten deutlich machen, wie The Program das Genre erneuert und problematischen Konventionen nicht entspricht. Vor allem geht es darum, zu diskutieren, wie True-Crime-Serien – die auf Plattformen wie Netflix oder Amazon Prime Video in den letzten Jahren stark nachgefragt sind – dazu neigen, die Wirklichkeit zu verdrängen, das heißt das Material stark zu inszenieren und zu ästhetisieren, wodurch der dokumentarische Charakter immer weiter in den Hintergrund gerät.
Charakteristika von True Crime
Es gibt zwei zentrale Bezugspunkte, die die Ästhetik von True-Crime-Serien und ihren Umgang mit der Wirklichkeit prägen. 1966 erschien Truman Capotes Roman In Cold Blood (dt. Fassung: Kaltblütig), in dem er den Überfall auf das Haus einer vierköpfigen Familie in Kansas und deren Ermordung sowie die Hinrichtung der Täter nacherzählt. Capote begründete damit das Genre des Tatsachenromans, einer kunstvollen dramaturgischen Komposition aus soziologischen Protokollen der Wirklichkeit. Tue-Crime-Literatur imitiert bis heute stilistische Merkmale des Romans, etwa indem sie häufig genretypisch mit genauen Beschreibungen von zunächst alltäglich erscheinenden Orten beginnt, die sich im Laufe der Erzählung als Schauplätze schrecklicher Verbrechen entpuppen.
Den zweiten Impuls für die aktuelle True-Crime-Ästhetik lieferte der Dokumentarfilm The Thin Blue Line (USA, 1988) von Eroll Morris. Der Film ist eine detektivische Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Fehlern in der Ermittlung und Verurteilung des vermeintlichen Täters eines Polizistenmordes. Im Zuge der filmischen Recherche wurde der wahre Mörder zu einem Geständnis bewegt. Morris experimentierte mit Erzählformen und Ästhetiken, die die Vieldeutigkeit der Wirklichkeit zu vermitteln suchen.[1] Er nutzte dafür ein performatives Element, welches das dokumentarische True-Crime-Format nachhaltig veränderte: Verschiedene Reenactments der Tat sollen die unterschiedlichen Perspektiven auf das Verbrechen und die widersprüchlichen Zeugenaussagen illustrieren. Neben den Nachstellungen der Tat verwendet der Film zahlreiche für eine Dokumentation ungewöhnliche Stilisierungen, um seine vielschichtige Auseinandersetzung mit Wirklichkeit und Gerechtigkeit zu verdeutlichen. Dazu gehören die Inszenierung von Beweismaterial und Dokumenten, eine kalte Lichtsetzung, die mit vielen Blautönen arbeitet, ungewöhnliche Kameraperspektiven, stilisierte Hintergründe sowie die experimentelle Filmmusik des Komponisten Philip Glass.
Die Ästhetik von The Thin Blue Line beeinflusste weitere Dokumentarfilme der folgenden Dekaden. Viele von ihnen, wie etwa die Paradise-Lost-Trilogie (USA, 1996–2011) von Joe Berlinger, dokumentieren nicht nur Fälle, sondern beteiligen sich aktiv an den Ermittlungen und hinterfragen die Arbeit der Justiz. Die Streaming-Plattform Netflix spielte in den letzten Jahren einige True-Crime-Serien aus, die – ähnlich wie The Thin Blue Line – vor allem nach Schuld oder Unschuld fragen und massive Kritik an Polizeiarbeit und Justiz üben. Letzteres kann als Reaktion auf ein problematisches US-Justizsystem verstanden werden, das seit den 1980er-Jahren eine Obsession für Law-and-Order-Politik hat; mit verheerenden Folgen.[2]
Eine Manipulation der Wirklichkeit?
Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zum Vorbild The Thin Blue Line. Der Dokumentarfilm von Errol Morris bemüht sich um eine ästhetische Perspektive auf das Material und experimentiert mit der Darstellung von Ereignissen und Realität. True-Crime-Serien versuchen wiederum, mit einer attraktiv wirkenden Ästhetik kunstvoll geschnittene Collagen zu erstellen – Zusammenschnitte aus Bildmaterial von Gerichtverhandlungen, Interviewsequenzen, Audios, Beweismitteln und Reenactments. Die Ästhetik mag ähnlich sein, aber die Serien reflektieren weder ihren Wirklichkeitsbezug noch die Vielfältigkeit und Relativität von Perspektiven. Stattdessen manipulieren sie das Material – im Interesse einer effekthascherischen und spektakulären Komposition. Serien wie Making of a Murderer (USA, 2015) bauen bewusst melodramatische Cliffhanger-Momente ein und platzieren Beweismaterial dramaturgisch geschickt, um an bestimmten Stellen Spannung aufzubauen.[3]
The Jinx (USA, 2015) ist ein weiteres Beispiel für den ‚kreativen‘ Umgang mit Beweisen. Darin geht es um Robert Durst, einen reichen Erben, der wegen verschiedener Morde angeklagt war, die ihm aber nie nachgewiesen werden konnten. Die Serie wartet mit dem spektakulären Mordgeständnis von Durst auf, was Tanya Horeck in ihrer Studie zu den Effekten neuer digitaler Distributionsformen als formattypischen „money shot“ bezeichnet.[4] Das Geständnis ist auf ethisch fragwürdige Weise zustande gekommen, nämlich heimlich in einem Badezimmer, das Robert Durst während eines Interviews aufsuchte, wobei er annahm, das Mikrofon sei abgeschaltet. Aufgrund dessen war das Geständnis wohl juristisch nicht verwertbar war, sodass es bei der folgenden Neuverhandlung vor Gericht, bei der Durst verurteilt wurde, keine Rolle spielte. Dies hindert die Serie allerdings nicht daran, es zu ihrem Höhepunkt zu machen. Auch The Thin Blue Line lotete mit seinen bewussten Stilisierungen die Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarischen aus;[5] die Wirklichkeit zu manipulieren und Menschen heimlich abzuhören, wie es in The Jinx geschieht, ist allerdings etwas komplett anderes.
Die Mini-Serie The Vanishing at the Cecil Hotel von Joe Berlinger (USA, 2021) ist ein gutes Beispiel dafür, wie sorglos und willkürlich die Macher:innen teilweise mit der Wirklichkeit umgehen. Die Serie setzt sich mit dem nicht vollständig geklärten Tod einer jungen Touristin in Los Angeles auseinander, die in einem Wassertank auf dem Dach des berüchtigten Cecil Hotels gefunden wurde. The Vanishing at the Cecil Hotel, als Teil der Reihe Crime Scene auf Netflix veröffentlicht, wirkt wie eine Parodie des dokumentarischen Ethos, dem sich das Vorbild The Thin Blue Line verpflichtet sah. Auf den ersten Blick ist die audiovisuelle Investigation ähnlich elegant wie der Film von Morris: eine kunstvoll geschnittene Montage von Zeitungsartikeln, ausgeleuchteten Interviewsequenzen und Reenactments. Allerdings wirkt das neugedrehte Material – nächtliche Fahrten der Polizei mit Blaulicht oder Kameraeinstellungen durch das Guckloch einer Hoteltür – wie stock footage, also wie Aufnahmen, die in den verschiedensten Kontexten wiederverwendet werden können und keinen Bezug zu den Orten der Handlung haben. Das neugedrehte Material hat eine rein illustrative Funktion, soll Sendezeit füllen oder einen bestimmten audiovisuellen Flow generieren, an den die Netflix-Zuschauer:innen gewöhnt sind.
Für Simon Rothöhler steht die Serie exemplarisch für die forensische Obsession von True-Crime-Formaten, denen es nicht in erster Linie um Beweisführung und das Aufdecken von Wahrheit geht, sondern eher um eine Faszination für die Bilder des Verbrechens. In The Vanishing at the Cecil Hotel sind Originalbilder von Überwachungskameras zu sehen, die die letzten Minuten der Touristin vor ihrem Tod zeigen.[6] Die Serie dokumentiert unter anderem die Arbeit unzähliger Amateurdetektiv:innen und das sogenannte Web-Sleuthing, deren kollektive Suche nach Beweisen im Internet. Allerdings kreisen die Detektiv:innen und die Serie um das ‚leere Zentrum‘ des tragischen Falls einer Touristin mit psychischen Problemen, der aber kein Geheimnis bietet, das es zu entschlüsseln gilt.[7] Das Füllmaterial und die vielen willkürlichen Illustrationen gehen an der Wirklichkeit vorbei und verhöhnen den dokumentarischen Impetus.
Zur Analyse von The Program
Mit seinen ebenfalls auf Netflix veröffentlichten drei Folgen ist The Program: Cons, Cults and Kidnapping keine besonders lange Serie. Sie handelt von der sogenannten Troubled Teenager Industry – äußerst fragwürdigen Angeboten, die sektenartige Organisationen Eltern unterbreiteten, deren Kinder in Schwierigkeiten geraten waren. Das Ivy Ridge College im Staat New York, um das es in der Serie geht, war eine von vielen internatartigen Institutionen, die Teenager zum Teil mit Gewalt aus ihrem gewohnten Umfeld rissen und sie einem rigiden Erziehungsprogramm unterzogen. Das Programm hat seine Wurzeln, wie die Dokumentation deutlich macht, in verhaltenstherapeutischen Utopien und Selbsthilfeinitiativen der 1970er-Jahre, wurde allerdings von psychologischen Dilettanten, die daraus ein Geschäftsmodell machten, ‚weiterentwickelt‘. Ziel des Colleges, das ortsansässige Gehilfen ohne jegliche pädagogische Ausbildung anheuerte, war die komplette Überwachung, Bestrafung sowie engmaschige Führung der Schüler:innen, inklusive bizarrer Therapiesitzungen, die etwa aus der stundenlangen Wiederholung von Kinderreimen bestanden, wie eingangs beschrieben. Die ‚Behandlung‘ der Jugendlichen mündete, das zeigt die Dokumentation immer wieder, unvermeidbar in Gewaltexzessen der Betreuenden.
Vorhandenes Videomaterial
The Program teilt viele Merkmale mit Serien wie Making of a Murderer oder The Vanishing at the Cecil Hotel: Die Serie nutzt eine große Menge an bereits vorhandenem Material zu illustrativen Zwecken, so etwa Promovideos von Selbsthilfesekten aus den 1970er-Jahren, diverse Fernsehausschnitte, die sich auf Vorfälle in ähnlichen Einrichtungen beziehen, Aufnahmen von Überwachungskameras aus dem Ivy Ridge College und viel privates Videomaterial, hauptsächlich gedreht von der Hauptfigur und Regisseurin der Dokumentarserie Katherine Kubler in ihrer Kindheit und Jugend. Sich an bereits vorhandenem Material zu bedienen, ist nicht zuletzt deswegen überhaupt möglich, weil es derlei Sequenzen durch Video, Smartphone oder Court TV mittlerweile zur Genüge gibt. So nehmen etwa in Making of a Murderer stundenlange Aufzeichnungen von Fernsehübertragungen der Gerichtsverhandlung viel Raum ein.
In The Program dient das vorhandene Material der Veranschaulichung und Verarbeitung persönlicher Erfahrungen. Es handelt sich um ein dokumentarisches Projekt, in dem die Dokumentaristin die Trennung von ihrer Familie und die absurd unmenschlichen Verhältnisse in der Einrichtung aufzuarbeiten versucht. Darüber hinaus bringt die investigative Serie Freund:innen, die sich vor fast zwanzig Jahren in Ivy Ridge begegnet sind, in den verlassenen Ruinen wieder zusammen. Sie setzen sich gemeinsam mit ihren Erlebnissen als hilflose Opfer einer verbrecherischen Troubled Teenager Industry auseinander.
Performative Elemente
True-Crime-Serien und Dokumentationen greifen immer wieder auf performative Elemente zurück, zum Beispiel Reenactments mit Schauspieler:innen wie in The Thin Blue Line. Manchmal sind auch die dokumentierten Menschen selbst Teil der Aufführungspraxen, die dann darauf zielen, neue Perspektiven auf Erlebnisse zu finden oder traumatische Erinnerungen zu verarbeiten.[8]
Die Ruine der Schule ist in The Program der Ort der performativen Szenerie. Die Filmemacherin taucht mit ihren Mitschüler:innen, die sie nur mühsam Jahre später aufspüren konnte, in die damalige Welt ein. Sie studieren dort gemeinsam Akten und Kassetten mit Überwachungsvideos, die die Verbrechen belegen, und diskutieren ihre Erlebnisse. Dabei tragen sie mitunter Schuluniformen und stellen einige der Rituale nach, die Teil der ‚Therapiesitzungen‘ waren. All dies geschieht mit Freude und Genugtuung darüber, nicht mehr Opfer zu sein und eine ästhetische Distanz zu den Ereignissen zu finden. Die performativen Elemente wechseln sich mit typischen Bestandteilen dokumentarischer Produktionen ab, etwa Gespräche mit ehemaligen Mitarbeiter:innen über deren Verstrickungen in das System.
Ein emotionaler Höhepunkt ist das Telefongespräch von Alexa, eine der Insass:innen, die eine zentrale Rolle in der Dokumentation spielt, mit einem ihrer ehemaligen Betreuer, der ihren Drogentest gefälscht hatte, um sie fortan in Ivy Ridge als „Crack-Hure“ zu diffamieren. Ähnlich gelagert ist die Konfrontation der Filmemacherin mit ihrem Vater, der es erst nach zwanzig Jahren schafft, seine Schuld und seinen Fehler, sie dieser Institution überlassen zu haben, vor ihr und der Kamera zuzugeben. Dies ist ein klassisches dokumentarisches Vorgehen: Eine besondere, meist intensive Form der sozialen Interaktion soll ein Bekenntnis einer/eines Beteiligten evozieren, wodurch sich die öffentliche Sphäre des Films und der private Raum einer Familie vermischen.[9] Wie sehr dies zu den Konventionen unterhaltender dokumentarischer Formate gehört, verdeutlicht die Dominanz solcher in die Kamera gesprochener Bekenntnisse und Zeugnisse im Reality TV. Aber auch hier geht The Program einen anderen Weg. Katherine Kubler zeigt die Begegnung mit ihrem Vater eher als peinliches Zusammentreffen, sie lässt die Zuschauer:innen die Scham spüren, die die Inszenierung solcher Momente auslöst. Es scheint, als wolle sie diesen so typischen Moment erzeugen und zugleich seine unangenehmen Aspekte vermitteln.
Ein großer Teil der Dokumentation spürt den ökonomischen Zusammenhängen der Einrichtungen nach, die Kubler und anderen wichtige Jahre ihres Lebens geraubt haben. Die Suche endet in einer Konfrontation mit einem der Unternehmer, Narvin Lichfield, der sich in den Sozialen Medien als großen Fan von Karaoke-Veranstaltungen präsentiert. Darüber finden Katherine Kubler und zwei weitere ehemalige Schülerinnen von Ivy Ridge den Termin und Ort einer seiner Karaoke-Abende heraus. Sie besuchen das Restaurant, mischen sich unter die Gäste, filmen seinen eitlen Auftritt mit einem Sinatra-Song und haben sichtlich Spaß daran, ihn ohne sein Wissen in der Dokumentation vorführen zu können. Aber in dem Moment, in dem die Zuschauer:innen die finale Konfrontation erwarten, belassen es die drei bei einer eigenen exaltierten Performance des Songs „One Way or Another“ von Blondie mit dem sehr passenden Text „I’m gonna find ya, I’m gonna get ya“. Es bleibt bei dem Auftritt, sie versuchen nicht, ihn anzusprechen, sie verzichten darauf, Lichfield zu konfrontieren. Es scheint ihnen mehr um den eigenen Spaß zu gehen und um die Genugtuung, die Eitelkeit und Ignoranz von Narvin Lichfield festgehalten sowie ihre eigene Überlegenheit und Kontrolle des Moments ausgespielt zu haben.
Reale Gefühle
The Program rekonstruiert das Geflecht einer Erziehungsmafia, die die Eltern täuschte, manipulierte und ausbeutete, während sie deren Kinder misshandelte. Die Serie lebt von der Spannung und dem Versprechen, Geheimnisse aufzudecken, sie thematisiert die Hintergründe einer sektenartigen Industrie aus Selbsthilfe- und Optimierungsseminaren und sie zeigt detailliert die verhängnisvollen Folgen für die Opfer dieser Strukturen. Sie erreicht dies durch die Analyse und kunstvolle Kompilation von audiovisuellem dokumentarischem Material. The Program ist daher ein typischer Vertreter des True-Crime-Formats. Was die Serie aber von anderen True-Crime-Serien unterscheidet, ist der partizipative Modus von Dokumentarfilmen, den die Regisseurin Kubler auf produktive Weise für ihre Serie adaptiert. Sie bringt nicht nur ihren persönlichen Bezug zu den Ereignissen und ihr eigenes Engagement zum Ausdruck,[10] es findet auch eine Schicksalsgemeinschaft wieder zusammen, deren Mitgliedern damit ermöglicht wird, kollektiv ein Trauma zu verarbeiten. Der oben beschriebene performative Modus setzt zudem einen besonderen Fokus auf ein großes Register an Gefühlen, etwa wenn sich ehemalige Insass:innen Schuluniformen anziehen und die Ruine ihrer einstigen Unterdrückung zu einer Bühne für exaltierte Aufführungen machen, die sowohl eine düstere Vergangenheit wieder aufleben lassen als auch sie durch die ästhetische Distanz zu bannen vermögen. Die zermürbenden, quälenden Rituale des Überwachens und Strafens verarbeiten sie, indem sie Akten – und damit einen belastenden Teil ihrer Vergangenheit – gemeinsam in einem Lagerfeuer verbrennen. Im Zentrum stehen die Gefühle und ihre Verankerung in der Realität.
Die Serie endet mit einer weiteren Aufführung. Katherine Kubler weist auf ein perfides Erziehungsritual hin, bei dem die Schüler:innen sich verkleiden und Popsongs singen mussten: „They’ve ruined a lot of good songs for us.“ Zum Abschluss sitzt Alexa in den Ruinen an einem E-Piano und singt eine langsame Version eines dieser ruinierten Songs, Girls Just Wanna Have Fun von Cindy Lauper. Damit holen sich die Protagonist:innen diesen Song gewissermaßen wieder zurück, der ihnen – wie Teile ihrer Jugend – geraubt worden war.
Fußnoten
- Jean Murley, The Rise of True Crime. Twentieth Century Murder and American Popular Culture, Westport, CT 2008, S. 99 f.
- Diana C. Rickard, The New True Crime. How the Rise of Serialized Storytelling Is Transforming Innocence, New York 2023, S. 41 f.
- Money shot deshalb, weil sie das Geständnis als wesentlich für die Vermarktung und den Erfolg der Serie ansieht. Tanya Horeck, Justice on Demand. True Crime in the Digital Streaming Era, Detroit, MI 2019, S. 128.
- Ebd., S. 140.
- Eva Hohenberger, Dokumentarfilmtheorie. Ein historischer Überblick über Ansätze und Probleme, in: dies. (Hg.), Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin 2000, S. 9–34, hier S. 14.
- Simon Rothöhler, Medien der Forensik, Bielefeld 2021, S. 118.
- Ebd., S. 119.
- Performative Elemente finden sich etwa in dem oscarprämierten Dokumentarfilm The Act of Killing von Joshua Oppenheimer (DK, GB, NOR, 2012), in dem Täter und Opfer der grausamen Kommunistenverfolgung in Indonesien unter dem vom Westen gestützten Diktator Suharto in den 1960er-Jahren in einer absurden Travestie die Ereignisse der Massaker nachstellen. Siehe auch Bill Nichols, Introduction to Documentary, Bloomington, IN 2010, S. 202.
- Vgl. ebd., S. 189 f.
- Vgl. ebd., S. 182.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Bildung / Erziehung Familie / Jugend / Alter Gewalt Medien
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