Andreas Reckwitz, Alexander Kluge, Christine Weckwerth, Martin Saar, Gertrud Koch, Christine Kirchhoff, Wolfgang Knöbl, Nicole Mayer-Ahuja, Frigga Haug | Jubiläum | 15.06.2018
Warum Marx? II
Wir haben Wissenschaftler*innen drei Fragen gestellt:
- Wo taucht Marx in ihrem biografischen Horizont auf?
- Welcher Marx, das heißt welcher Teil, welche Idee oder welcher Begriff seines Werkes ist für Sie von besonderer Bedeutung?
- Was können die Sozialwissenschaften heute noch von Marx lernen?
Für ihre Antworten sei ihnen an dieser Stelle ganz herzlich gedankt.
- Die Red.
Mit den besten Absichten von Andreas Reckwitz
Gruß nach Athen von Alexander Kluge
Wertanalyse von Christine Weckwerth
Marx, klassisch und unklassisch von Martin Saar
Gegen die bloße Verdoppelung der Wirklichkeit von Gertrud Koch
Verkehrte Welt von Christine Kirchhoff
Die Geister, die ich rief von Wolfgang Knöbl
Gebot der Stunde von Nicole Mayer-Ahuja
Selbstveränderung und Weltveränderung von Frigga Haug
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Untrügliches Zeichen des Älterwerdens ist, dass man noch in seiner eigenen Lebenszeit eine Abfolge intellektueller Konjunkturen beobachten kann. Hatte Marx in den 1990er-Jahren, als ich studierte, und damit kurz nach dem Mauerfall, eine denkbar schwache Konjunktur, so erfreut er sich nach der globalen Finanzkrise 2008 wieder eines deutlichen Zuwachses an Relevanz. Mir schien und scheint beides ein wenig übertrieben. Wurde Marx damals massiv unterschätzt, so droht gegenwärtig zumindest in manchen Zirkeln eine Überschätzung. Unabhängig von solchen Wellenbewegungen muss Marx für die Sozialwissenschaften der Gegenwart aber eine Inspirationsquelle bleiben – auch wenn zu seinem Werk wohlbekannte Fallstricke gehören und es Risiken in sich birgt.
Trotz der anderthalb Jahrhunderte, die seit den wichtigsten Arbeiten Marxens vergangen sind, bleibt er als ein Theoretiker inspirierend, der sich kraftvoll bemüht, die Totalität von Gesellschaft, das dynamische Zusammenspiel von Ökonomie, Technik, Klassen, Kultur und Staat, insbesondere für die Moderne als Ganze auf den Begriff zu bringen. Bei Marx geht es tatsächlich nie bescheiden nur um Teilbereiche, sondern ums Ganze – darin ist er Gesellschaftstheoretiker par excellence. Gegen Hegels Idealismus und mit der britischen Politischen Ökonomie im Rücken ist für ihn die Struktur und Transformation der Wirtschaft bekanntlich der Dreh- und Angelpunkt jeder Gesellschaftsanalyse. Zunächst zu Recht: Während die Soziologie erstaunlicherweise immer wieder meinte, sich mit diversen Phänomenen des Sozialen beschäftigen zu können, ohne dem Strukturwandel der Ökonomie Rechnung zu tragen, weist uns Marx mit aller Entschiedenheit darauf hin, dass die Sozialwissenschaften Stückwerk bleiben müssen, wenn sie nicht genau unter die Lupe nehmen, welche Güter in einer Gesellschaft produziert werden, welche Form diese haben, wie sie produziert werden, welche Arbeitsformen sie voraussetzen, welche Technologien zum Einsatz kommen, welche sozialen Großgruppen (Klassen) sich entsprechend um diese Arbeitsweisen herum bilden und welche Marktstrukturen sich ausbilden (und – man müsste ergänzen – wie diese Güter konsumiert werden). Ohne eine penible Analyse des ökonomischen Strukturwandels kommt keine Gesellschaftstheorie aus, die ernst genommen werden will.
Dabei ist Marx vorbildlich auch in der gründlichen Historisierung seiner Wirtschafts- und Gesellschaftsanalyse. Es geht ihm nicht um universale Modellbildung (wie sie in der ökonomischen Neoklassik üblich werden sollte), sondern um eine Durchdringung der realen Transformation sozialer Verhältnisse. Seine Analyse der Gegenwart kommt daher nie ohne eine exakte historische Rekonstruktion des Strukturwandels aus. Auch dieser historische Sinn ist eine Lektion, die sich die Soziologie durch Marx immer wieder erteilen lassen muss – sei es, weil sie häufig Gefahr läuft, ahistorisch und kurzatmig zu argumentieren, sei es, weil sie zu einer Universalisierung historisch-spezifischer und wandelbarer Verhältnisse neigt (etwa mit Begriffsbildungen wie 'Industriegesellschaft'). Das heißt übrigens auch: 'der Kapitalismus' ist seinerseits rigide zu historisieren – was gegen aktuelle Tendenzen, bei Marx sei ein für alle Mal nachzulesen, was der Kapitalismus nun eigentlich sei, betont werden muss. Die besten der neomarxistischen Autoren haben daher stets die historische Transformation des Kapitalismus – etwa in Richtung von Fordismus, Postfordismus oder kognitivem Kapitalismus – behandelt.
Das Anregungspotenzial von Marx ist also weiterhin erheblich. Jedoch enthalten die größten Stärken seiner Analyse – die Wirtschaftszentrierung und die Historisierung – zugleich seine größten Schwächen: Die ökonomische Analyse driftet in den Ökonomismus, die historische Analyse in ein progressiv-lineares Entwicklungsmodell ab. Allenthalben wurde beobachtet, dass der berechtigte Fokus auf die Ökonomie bei Marx in einen fragwürdigen Determinismus mündet, für den die kapitalistische Wirtschaft der Erklärungsfaktor in letzter Instanz ist. Es verhält sich so, als ob Marx einen genialen Gedanken gehabt hätte (Hegel vom Kopf auf die Füße stellen), den er derart ins Extrem treibt, dass er seine ganze Plausibilität schließlich doch wieder verliert. Dass in der Konsequenz namentlich die Kultur, die diskursiven und symbolischen Ordnungen, nur als ideologischer Überbau wirksam sein sollen und jede Eigendynamik und Eigensinnigkeit einbüßen, hat mir noch nie eingeleuchtet (und hat ja schon bei den Soziologen der Jahrhundertwende von Weber bis Simmel Widerspruch hervorgerufen). Dementsprechend haben mich seit den 1990er-Jahren besonders jene Autoren aus der neomarxistischen Tradition interessiert, die diese Marginalisierung des Kulturellen zu überwinden suchen: Walter Benjamin, Antonio Gramsci, Louis Althusser, Ernesto Laclau oder Fredric Jameson.
Auch die vorbildliche Historisierung der Gesellschaftstheorie, die Marx betreibt, droht in eine Sackgasse zu geraten, das heißt in ein Entwicklungs- und Fortschrittsmodell von Gesellschaftsgeschichte, in dem noch viel zu viel Hegel steckt. Marx steht hier mit beiden Beinen im Fortschrittsoptimismus der Aufklärungsphilosophie. Sie gibt ihm sowohl die Vorstellung eines kontinuierlichen 'Fortschreitens' der Menschheit vom Traditionalen zum Bürgerlich-Modernen bis schließlich zum Sozialismus der Zukunft vor, als auch jenes letzte Ziel einer Gesellschaft, in der gewissermaßen alle Probleme gelöst sein werden, weil es eine Ordnung sein soll, die sich in größter Selbsttransparenz selber steuert. Insofern sich Marx als ein geradezu klassischer Modernisierungstheoretiker (noch dazu mit utopischem Überschuss) erweist, erscheint sein lineares Modell der menschlichen Geschichte, die unentrinnbar zum Besseren fortschreitet, heute doch als recht naiv. Es ist kein Wunder, dass kulturtheoretische Autoren wie etwa Michel Foucault mit seinem Diskontinuitätsmodell der Geschichte oder Shmuel N. Eisenstadt mit dem pluralistischen Modell der 'Multiple Modernities' mittlerweile einen ganz anderen Blick auf Prozesse sozialen Wandel erlauben. Trotzdem: Marx ist und bleibt ein intellektuelles Muss – auch und nicht zuletzt gerade mit den Hinsichten seines Werks, die nach kritischer Abarbeitung verlangen.
Andreas Reckwitz
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Alexander Kluge
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Aufgewachsen im Osten Deutschlands, bin ich Marx zuerst als Kapitalismuskritiker und Garanten einer besseren Zukunft begegnet. Insofern Marx gleichfalls zur Kritik realsozialistischer Verhältnisse herangezogen wurde, war es für uns Studierende damals eine Herausforderung, in dem übermittelten Konglomerat von Kapitalismuskritik, Gesellschaftstheorie, Geschichtsmetaphysik und staatssozialistischer Legitimierung die echten Problembestände seiner Theorie zu erkennen. Meine Mitarbeit an der Neuedition der Deutschen Ideologie im Rahmen der Marx-Engels-Gesamtausgabe hat mir noch einmal gezeigt, dass Marx – wie auch Engels – eine philosophieimmanente Begründung gesellschaftlicher Emanzipation – sei es aus materialistischer oder idealistischer Sicht – kritisiert und dem ideologischen Bewusstsein zuschlägt. Als Philosophin interessiert mich bei Marx heute insbesondere die Wertproblematik, bei der er nicht auf der – gegenwärtig favorisierten – normativen Ebene stehen bleibt, sondern nach dem objektiven Gehalt und geschichtlichen Wandel ökonomischer, politischer und anderer Werte fragt. Für bedenkenswert halte ich, dass er den Schwerpunkt dabei auf die gegenständlichen Vermittlungsprozesse legt und gesellschaftliche Werte relational, das heißt als Bezugsgrößen zwischen geschichtlich-soziokulturellen Vermittlungen und den ihre Bedürfnisse befriedigenden, interagierenden Individuen auffasst, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass er der ökonomischen Sphäre eine zu hinterfragende Monopolstellung einräumt. Auf den Gedanken einer solchen Relationalität gründet sich ebenfalls Marxens überzeugende Thematisierung von Bewusstseinsprozessen im Rahmen seiner Ideologie- und Fetischismuskritik. Ein weiterer bedenkenswerter Punkt ist für mich, dass Marx einerseits die Wertproblematik unter den geschichtlichen Bedingungen der Kapitalerzeugung reflektiert und dabei andererseits zugleich nach den Bedingungen für die Entwicklung der Fähigkeiten aller – auch der Unterprivilegierten und vom Reichtum Ausgeschlossenen – in herrschaftsfreien Beziehungen fragt. Als nunmehr Zeitgenossin des von ihm prognostizierten globalen Kapitalismus sehe ich darin eine Perspektive, die man nicht preisgeben sollte.
Christine Weckwerth
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Marx, klassisch und unklassisch
Das Werk von Marx stand im Horizont meiner Interessen seit der Jugend- und Schulzeit. Es war eine (gar nicht so gut gekannte Quelle) für deutlich religionskritische Reserven einerseits, ein generelles linkes Selbstverständnis andererseits. Während des Studiums an der FU Berlin in den frühen 1990er-Jahren existierten noch gut eingespielte orthodoxe Lektürepraktiken, etwa in den Kapital-Lektürekursen eines der besten Kenner des Marx‘schen Werks (der allerdings forderte, „Lernfortschrittstagebücher“ zu führen – ein Fortbleibensgrund), in den Seminaren der noch recht aktiven „Kritischen Psychologie“, in den Lehrveranstaltungen einer kleineren, älteren Fraktion der VWL. Daneben herrschte in all diesen Fächern die Mehrheitsmeinung vor, mit Marx sei nur noch wenig anzufangen; an der Humboldt-Universität wurde über die angeblich unhaltbare „angeschlagene These“ vom Zusammenhang zwischen Interpretation und Revolution diskutiert. Seit dieser Zeit fehlt Marx in meiner eigenen Lehrtätigkeit jedenfalls nicht mehr.
Mein Interesse an Theorieformen, die im weitesten Sinne „kritisch“ heißen können, macht Marx zu einem der zentralen theoriegeschichtlichen Gegenüber. Dass mich die eher heterodoxen Lektüren (von Castoriadis, Jameson oder Althusser bis Derrida und Abensour) manchmal mehr inspirieren als die werktreuer scheinenden Kommentare, hat sicherlich damit zu tun, dass mir der Klassiker Marx oft weniger eindeutig, greifbar und kategorisierbar erscheint, als es andere suggerieren. Dass sich bei Marx „drei Sprechweisen“ überlagern, vermischen und bekämpfen, wie Maurice Blanchot in einem faszinierenden Text notierte, nämlich eine philosophische, eine politische und eine wissenschaftliche, halte ich für ebenso richtig wie folgenreich („Les trois paroles de Marx“, in: L’amitié, Paris 1971, S. 115-117). Von Marx zu lernen könnte demnach heißen, die Heterogenität dieser Sprechweisen, derer sich auch jede heutige kritische Theorie bedienen muss, zu akzeptieren, also nicht der Illusion einer reinen Wissenschaftlichkeit anzuhängen, aber auch nicht Philosophie und Sozialtheorie umstandslos in Politik zu übersetzen. Es könnte bedeuten, aufmerksam zu sein für das Politische jeder Welterklärung, aber auch streng zu bleiben in der Auseinandersetzung um die Begriffe, mit und in denen wir überhaupt erst politische Erfahrungen, die Wirklichkeit sozialer Machtverhältnisse und die Möglichkeit einer anderen gesellschaftlichen Ordnung denken können.
Martin Saar
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Gegen die bloße Verdoppelung der Wirklichkeit
Ich habe in Frankfurt am Main studiert, Philosophie und Soziologie, das heißt „Frankfurter Schule“. Auch wenn Adorno, vor allem aber Horkheimer die marxistischen Wurzeln der Kritischen Theorie in den 1950er-Jahren semantisch eher subkutan hielten, bestand kein Zweifel daran, dass deren Denken ohne Marx nicht möglich gewesen wäre. Außerdem gab es Kapital-Lesezirkel, in denen die Primärtexte diskutiert wurden. Marx wurde als Philosoph und Gesellschaftstheoretiker gelesen, vom Partei-Kommunismus hatte sich die Frankfurter Schule schon in den 1930er-Jahren distanziert.
Abgesehen von diesen direkten sozialisatorischen Beziehungen zu Marx und Lukács’ einflussreichem Buch „Geschichte und Klassenbewußtsein“ spielte für die ästhetische Theorie, zumal wenn sie den Anschluss an Benjamin suchte, der Marx‘sche Fetisch-Begriff eine große Rolle – später dann selbstverständlich auch für die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. Der Freudo-Marxismus dieser Zeit hat meine ersten filmtheoretischen Arbeiten ganz entschieden beeinflusst. Die darin aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang zwischen soziohistorischen Bedingungen des Spätkapitalismus und den Subjektpositionen war und ist eine virulent gebliebene Frage – vor allem in Bezug auf die Massenkultur und die Massenmedien als Vermittlern und Akteuren.
Was die Gesellschaftswissenschaften von Marx immer noch lernen können, ist, dass Gesellschaftstheorie und -analyse mehr Begriffsarbeit leisten muss, beansprucht sie eine empirisch gehaltvolle Beschreibung der Gesellschaft und ihrer einzelnen Teilsysteme vorzulegen. Die empirische Quersumme zu ziehen, selbst aus den Big Data, reicht nicht aus, soll ein Bild von der gegenwärtigen Gesellschaft entstehen, das auch mögliche Veränderungen denkbar macht, die aus dieser in kritischem Widerspruch hervorgebracht werden könnten, soll also eine Bild entstehen, das nicht einfach eine empirische Verdoppelung gegebener Wirklichkeiten bietet.
Gertrud Koch
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1. Marx ist mir zum ersten Mal zu Beginn meines Psychologiestudiums an der Universität Bremen begegnet, in Gestalt von Kommilitonen, die wie ich politisch engagiert waren und alles (besser) wussten, und zwar wegen des Kapitals. Das hat mich neugierig gemacht. Überhaupt wurde Mitte der 1990er-Jahre in Bremen in meist selbstorganisierten Arbeitsgruppen recht viel Marx gelesen und diskutiert. Mich hat Marx von Anfang an fasziniert. Ich hatte das Gefühl, da denkt jemand klar und völlig anders, da gibt es Antworten auf Fragen, auf die ich bis dahin nie eine befriedigende Antwort erhalten hatte – etwa wieso in der Gesellschaft so viele ungerechte und völlig unvernünftige Dinge geschehen.
2. Die Analyse der Wert-, Waren-, Geld- und Kapitalform und die sie leitende Frage „wie dieser Inhalt jene Form annimmt“ hat mein Denken nachhaltig beeinflusst. Von besonderer Bedeutung ist für mich der Begriff der Verkehrung und der von Marx dargestellte Prozess, in dem sich von Menschen geschaffene Verhältnisse diesen gegenüber verselbständigen und ihnen so fremd als äußere, unverstandene Objektivität gegenüberstehen. Hier setzt Theodor W. Adornos Begriff der Gesellschaft an, der für meine eigene Arbeit zum Verhältnis von Psychoanalyse und Gesellschaft zentral ist.
3. Ich halte die Marx'sche Kritik der politischen Ökonomie für kritische Sozialwissenschaften für unverzichtbar, da sie auch heute noch aktuell ist – schließlich leben wir nach wie vor im Kapitalismus, egal mit welchem Präfix dieser gerade auszustatten ist. Sie stellt die ökonomischen Voraussetzungen und damit die Form der Vergesellschaftung dar, ohne die die gegenwärtigen Probleme kaum zu fassen sind, oder, wie Marx sagen würde, nur in verkehrter Form erscheinen, zumeist in Personalisierung, Naturalisierung oder Romantisierung früherer Vergesellschaftungsformen.
Christine Kichhoff
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1. Mir ist Marx gewissermaßen dreimal erschienen. Das erste Mal in der oberbayerischen Provinz Ende der 1970er-Jahre. Angesichts der damaligen bundesrepublikanischen Konflikte verspürte der Schüler, der ich war, erstmals so etwas wie Theoriebedarf. Da kam mir die von Iring Fetscher im Fischer Taschenbuch Verlag herausgegebene, vierbändige und farblich recht bunte Marx-Engels-Studienausgabe gerade recht. Ich erwarb die beiden ersten Bände und fing mit der „Philosophie“, das war der erste Band, an. Immerhin las ich die ersten vier oder fünf Texte, die dort versammelt waren. Verstanden habe ich sicherlich nicht besonders viel. Zeit und Ort waren nicht gut für eine Marx-Lektüre!
Das zweite Mal begegnete mir Marx an der Universität Erlangen-Nürnberg Mitte der 1980er-Jahre. Die Ära der großen Theoriediskussionen ging da schon ihrem Ende entgegen, die Mikrosoziologie und die Postmoderne-Debatte bestimmten das intellektuelle Klima unter den Erlanger Studierenden und Lehrenden, allenfalls die unvermeidliche Marxistische Gruppe (MG) schien überall präsent (und dabei doch isoliert) zu sein. Die Zeit war also wieder und auch dort nicht gut für Marx! Doch gab es an der Universität mit Reinhard Kreckel einen Professor für den Bereich Sozialstrukturanalyse, bei dem viel über Marx zu lernen war. Nur wenige Jahre später sollte Kreckel ein großartiges und nach wie vor ausgesprochen lesenswertes Buch unter dem Titel „Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit“ veröffentlichen. Die verhandelten Themen und die dort geführte Marx-Diskussion waren zum Teil auch diejenigen, die mich nachhaltiger beeinflusst haben.
Ein drittes Mal erschien mir Marx schließlich durch meine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Hans Joas in Berlin. Bereits in seinen frühen Jahren hatte sich Joas mit Marx auseinandergesetzt, nicht zuletzt mit den damaligen Marxisten in der Soziologie. Und da ich als junger Doktorand die intellektuelle Biografie meines Doktorvaters etwas näher verstehen wollte, kam es nicht nur zu einer intensiveren Lektüre der Marx-Texte, sondern auch zum Nachvollzug etwa der Debatten zwischen Joas und dem zu diesem Zeitpunkt noch streng marxistisch argumentierenden Johannes Berger.
2. Nach wie vor scheint mir „Das Kapital“ von herausragender Bedeutung zu sein, wie überhaupt Marxens ökonomische Schriften. Allerdings nicht wegen der dort ausgesprochenen und womöglich bis auf den heutigen Tag gültigen Einsichten. Nein, ganz im Gegenteil! Vieles davon hat der kritischen Diskussion nicht standgehalten. Doch lohnt die wiederholte Marx-Lektüre einfach deshalb, weil die ins Spiel gebrachten Begriffe wie „Ware“, „Profit“, „Ausbeutung“ etc. mit Blick auf die Analyse zeitgenössischer kapitalistischer Dynamiken zentral sind, auch wenn man sie heute anders wird fassen und definieren müssen.
3. Die derzeit große Marx-Begeisterung teile ich nicht. Man kann nicht ernsthaft so tun, als sei die seit über 150 Jahren geübte Kritik an Marxens Theoriegebäude wirkungslos abgeprallt. Es steht nicht unerschütterlich und felsenfest vor uns. Andererseits ist anzuerkennen, dass viele in den Sozialwissenschaften die Dynamik des Kapitalismus unterschätzt haben und Marx, was diese Prozesse angeht, die bessere Einsicht hatte. Was mir an seinem Werk imponiert hat, war der Versuch, zentrale Problem- und Konfliktlagen sich industrialisierender Gesellschaften zu identifizieren und diesbezüglich eine neue politische Ökonomie zu entwickeln. Man kann Marx Vieles vorwerfen, aber wohl kaum, dass es ihm, der – unbestritten – in seinen Interventionen ein geradezu begnadeter Autor war, jemals um eine schmissige, feuilletonkompatible Zeitdiagnostik gegangen wäre.
Wolfgang Knöbl
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Als Arbeitssoziologin komme ich in meiner Forschung und Lehre kaum an Karl Marx vorbei – war er doch einer der Ersten, die sich intensiv mit den Veränderungen der Arbeit im Kapitalismus befasst haben. Zum einen sind Marx’ Überlegungen zum Transformationsproblem – wie wird abstrakte Arbeitskraft, gerade im betrieblichen Kontext, in konkrete Arbeitsleistung transformiert? – bis heute eine produktive Grundlage für die Analyse von Arbeitsorganisation, -koordination und -kontrolle. Zum anderen hat Marx – etwa in seinen Studien zum Arbeitstag – in überzeugender Weise demonstriert, dass der Arbeitsprozess nicht isoliert betrachtet werden kann, wenn man die Dynamik des Kapitalismus angemessen analysieren möchte. Wie Unternehmen in einer jeweils genau zu untersuchenden zeitlich-räumlichen Kräftekonstellation auf Arbeitskraft zugreifen und welchen Beitrag sie zu deren Reproduktion leisten, lässt sich nicht erklären, ohne sich den dynamischen Wechselwirkungen zwischen beiden Praktiken zuzuwenden. Zudem müssen die ökonomischen Prozesse, Veränderungen in der staatlichen Regulierung von Arbeit und Verschiebungen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Geschlechtern, Generationen und sozioökonomischen Gruppen untersucht werden. Insofern steht Marx für das anspruchsvolle Projekt einer umfassenden Gesellschaftsanalyse, das angesichts der weit fortgeschrittenen Spezialisierung in den Sozialwissenschaften ungewohnte, vielleicht auch verunsichernde Herausforderungen beinhaltet. Dennoch müssen wir sie annehmen, um die Arbeitswelt adäquat untersuchen zu können. Zu guter Letzt steht Karl Marx für eine im besten Sinne interdisziplinäre, systematisch nach historischen Veränderungsprozessen fragende Sozialanalyse, die sich nicht mit wissenschaftlicher Erkenntnis begnügt: Marx erhebt mit seinem Projekt explizit den Anspruch, durch Forschung einen Beitrag zu menschlicher Emanzipation und einer besseren (Arbeits-)Welt zu leisten. Angesichts der Zustände im frühen 21. Jahrhundert, die sich auszeichnen durch Prozesse der Prekarisierung, allgegenwärtigen Arbeitsdruck, (digitalisierungsbedingte) Rationalisierung und vielfältige Formen der Entfremdung, sind die Lektüre, Aktualisierung und Weiterentwicklung von Marx’ Überlegungen ein Gebot der Stunde.
Nicole Mayer-Ahuja
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Selbstveränderung und Weltveränderung
1. Als ich 1957 an die Freie Universität Berlin kam, waren wir als Studierende selbstverständlich links; ich ging ins Studentenparlament und in den Club der Zeitschrift Das Argument. Dort erarbeiteten wir die Themen, die in der Studentenbewegung aufgenommen und radikalisiert wurden: Sexualität und Herrschaft, Probleme der Entwicklungsländer, Schule und Erziehung, Massenmedien und Manipulation, Literatur und Ästhetik, Algerienkrieg und Polenfrage. Dann kam mit dem Jahr 1968 die Studentenbewegung auf und ergriff den Argumentclub. Rudi Dutschke, der ebenfalls Mitglied war, wollte die Gruppe in die Illegalität bringen, um sie dadurch zu radikalisieren. Ein Teil des Clubs, zu dem auch ich gehörte, zog sich stattdessen auf ein Studium der Marx‘schen Texte zurück, weil uns das als die wichtigste Aufgabe für Intellektuelle erschien. In selbstorganisierten Lesegruppen widmeten wir uns den Grundrissen und dem Kapital.
2. Die Aussage vom Zusammenfallen der Selbstveränderung und der Veränderung der Umstände in revolutionärer Praxis aus den Feuerbach-Thesen zieht sich wie ein Leitmotiv durch mein Leben. Sie begegnet mir als Erinnerung an langes Leid, als Sehnsucht, als Hilfe bei Entscheidungen, als Aufforderung im Politischen, bei Praxis- und bei Theoriekritik. Als ich den Satz zum ersten Mal las, hatte ich das zwiespältige Gefühl, dass er genau zu mir sprach und mich zugleich in weite Ferne rückte. Dass beides zusammengehöre, die Veränderung meiner selbst sowie die Arbeit an der Veränderung der Gesellschaft, ließ mich selbstbewusster werden. So musste ich meine Fragen nach meinem eigenen Wollen und Begehren, nach dem, was mich zusammenhielt, nicht einem Hang zum Psychologisieren zuschreiben und diese also nicht als egoistisch und kleinbürgerlich abtun, sondern konnte sie als Wegbereiter zum großen Ziel der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen. Denn dieser Umwälzung hatte ich mich wagemutig verschrieben – auch wenn mir die Verantwortung eigentlich eine Nummer zu groß für mich erschien. Schließlich war ich Anfang 20, hatte gerade Soziologie – die Wissenschaft der Gesellschaft – zu studieren begonnen und fühlte mich vor allem fremd in diesem unwegsamen Gelände. Das Zusammendenken von Selbstveränderung und Revolution schien mir Recht zu geben, dass es dabei um etwas Großes ging, aber drohte zugleich, mich unbedeutend werden zu lassen, falls ich etwa dazu (noch) nicht bereit war. Ich vertröstete mich auf später. Das schlechte Gewissen beim Befassen mit mir selbst blieb mein ständiger Begleiter - bis hin zum schließlich aufgenommenen Studium der Psychologie, das mein Nebenfach zu Soziologie, Geschichte und Volkswirtschaft wurde.
3. Die Philosophie der Praxis. Also auszugehen von den wirklichen, tätigen Menschen in ihren Verhältnissen, die nicht als natürlich, sondern als menschengemacht und also veränderbar zu verstehen sind. Das heißt mit anderen Worten: Wir können von Marx lernen, dialektisch vorzugehen, an allem zu zweifeln, in Kraftfeldern und Widersprüchen zu denken, die Widersprüche aufzusuchen und zu studieren, wie sie funktionieren und nicht zuletzt dann einzugreifen. Diese Arbeit ist unabschließbar.
Frigga Haug
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Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Clemens Reichhold, Felix Hempe, Hannah Schmidt-Ott, Karsten Malowitz, Kira Meyer, Martin Bauer, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Politische Ökonomie
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