Benno Gammerl | Rezension | 01.04.2022
Weiterkämpfen, auch nach dem Erfolg
Rezension zu „Queer Legacies. Stories from Chicago’s LGBTQ Archives“ von John D’Emilio

Mit Queer Legacies legt John D’Emilio ein ebenso unterhaltsames wie intellektuell anregendes Buch vor, das in 38 kurzen Vignetten verschiedene Aspekte der queeren Geschichte seit den 1950er Jahren beleuchtet. Dabei stützt er sich auf Bestände der Gerber/Hart Library and Archives, der wohl größten Sammlung zur LGBTQ-Kultur und -Geschichte im mittleren Westen der USA. Der geografische Fokus des Buches liegt also auf Chicago und Umgebung, D’Emilios Überlegungen sind jedoch weit darüber hinaus von Relevanz. Immer wieder verbinden sie auf bestechende Weise die genuine Begeisterung für historisches Lehren und Forschen mit stilistischer Verve und politischer Haltung.
John D’Emilio, emeritierter Professor für Geschichte und Gender-Studies an der University of Illinois in Chicago, ist einer der Pioniere der Homosexualitätenhistorie. Sein Buch Sexual Politics, Sexual Communities legte 1983 den Grundstein für die Erforschung homophiler Subkulturen in der Ära vor dem Stonewall-Aufstand, zu einer Zeit, als Aktivisten eher zurückhaltend auftraten, also noch bevor die Emanzipationsbewegungen der 1970er Jahre einen offensiveren Politik-Stil etablierten. Ebenfalls 1983 erschien sein Aufsatz „Capitalism and Gay Identity“,[1] dessen luzide Verortung der modernen Homosexualität im Gefüge ökonomischer Dynamiken um die Wende zum 20. Jahrhundert bis heute produktiv diskutiert wird. Es ist also ein Altmeister des Fachs, der hier auf gar nicht altväterliche Weise von seinen jüngsten Archivrecherchen berichtet. Man kann das Buch unter anderem als einen gerade an jüngere Historiker*innen gerichteten Aufruf verstehen, der queeren Geschichte weiter Aufmerksamkeit zu verschaffen, sie in ihrer Vielfältigkeit zu begreifen und sie als eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben, die nicht davor zurückscheut, sich zum aktuellen politischen Geschehen zu verhalten.
John D'Emilio ist ein Altmeister des Fachs, der hier auf gar nicht altväterliche Weise von seinen jüngsten Archivrecherchen berichtet.
Queer Legacies ist ein facettenreiches Buch, das mit Betrachtungen zu zahlreichen Aspekten der LSBTI*-Geschichte aufwartet. Manches ist vor allem im Detail und gerade für deutsche Leser*innen neu, etwa die Geschichte von James Clay, einer afroamerikanischen trans Frau, die im November 1970 von der Chicagoer Polizei erschossen wurde. Die Proteste gegen die Untätigkeit, mit der die Behörden auf diesen Mord reagierten beziehungsweise nicht reagierten, trugen mit dazu bei, dass sich 1971 das Transvestite Legal Committee gründete, das trans Personen fortan in rechtlichen Angelegenheiten unterstützte (S. 40). Anderes wie die Darstellung der aidspolitischen Entwicklungen unter Präsident Clinton, ist zwar gut erforscht und bietet gerade für Fachleute wenig Überraschendes, aber auch im Umgang mit diesem Material gelingt es dem Autor, frische Perspektiven zu entwickeln. Anhand der Bestände von Better Existence with HIV (BEHIV) zeigt er, wie umstritten noch in den 1990er Jahren der simple Ansatz war, Jugendliche über Safer Sex Praktiken aufzuklären (S. 170). Die Lektüre lohnt sich sowohl für Expert*innen als auch für Leser*innen, die noch wenig Erfahrung mit queerer Geschichtsschreibung haben und sich einen ersten Überblick verschaffen wollen.
Politik der Alltagsgeschichte/n
Drei Punkte erscheinen mir mit Blick auf Queer Legacies besonders bemerkenswert. Man könnte auch von D’Emilios zentralen Thesen sprechen, die sich ohne großes Getöse wie unaufdringliche rote Fäden durch das gesamte Buch ziehen. Erstens ist es trotz zahlreicher Etappenerfolge, trotz wachsender Anerkennung und Sichtbarkeit nach wie vor bedeutsam, sich sowohl aktivistisch als auch akademisch für Emanzipation und Rechte von LSBTI*-Menschen einzusetzen. Zweitens sollten Historiker*innen über das im engeren Sinn politische Feld hinausschauen und vermehrt den Alltag und vermeintlich unpolitische Formen queerer Soziabilität in den Blick nehmen. Und drittens schließlich ist es im Sinne eines stringent intersektionalen Ansatzes wichtig, die Vielfalt unterschiedlicher Aktivismen, Situationen und Lebensentwürfe zu berücksichtigen und diese miteinander in Beziehung zu setzen.
Zum ersten Punkt: Immer wieder veranschaulicht das Buch, dass sich seit den 1960er Jahren für gendernonkonforme und gleichgeschlechtlich liebende Menschen vieles zum Guten gewendet hat. Dabei unterstreicht D’Emilio insbesondere, wie unerlässlich der Mut, das Engagement und die Klugheit einzelner Aktivist*innen für diese Erfolge waren. So kämpfte die lesbische Anwältin Renee Hanover ab den 1960er Jahren gleichzeitig gegen rassistische Segregation, gegen die polizeiliche Verfolgung schwuler Männer beim Cruisen und für die Rechte von Müttern, denen man im Scheidungsverfahren aufgrund ihres Lesbischseins mit dem Entzug des Sorgerechts für ihre Kinder drohte.
Ebenso viel Platz und Bedeutung räumt der Autor Merles Geschichte ein. Seit den 1920er Jahren lebte sie mit Lil zusammen, ohne dass die beiden je öffentlich als Paar aufgetreten wären. Erst nachdem ihre Freundin 1978 gestorben war, suchte Merle Kontakt zur lesbischen Szene. Sie hatte sogar einen kleinen Auftritt auf dem Michigan Womyn’s Music Festival, wo sie eines ihrer eigenen Lieder sang und auf begeistertes Echo stieß. Anhand dieser Erzählung unterstreicht D’Emilio, wie wichtig Interviews für Historiker*innen sind, die den queeren Alltag auch jenseits der besser dokumentierten Sphären der strafrechtlichen Verfolgung oder des politischen Engagements erkunden wollen.
Gleichzeitig betont das Buch, wie wichtig es war und immer noch ist, sich kollektiv zu organisieren. Den March on Washington von 1987 beschreibt D’Emilio als ein entscheidendes Ereignis. Damals protestierte eine halbe Million Menschen insbesondere gegen die Aids-Politik der Regierung von Ronald Reagan, unter deren feindseliger Untätigkeit Zehntausende litten. Die Wut über die Reagan-Administration trug auch zum Erfolg einer Kampagne bei, die im Vorfeld der Wahlen von 1988 in Chicago über 17.000 Wähler*innen neu registrierte (S. 151). Das reichte zwar nicht, um den anschließenden Wahlsieg des republikanischen Präsidentschaftskandidaten George Bush Senior zu verhindern. Aber laut D’Emilio war diese schwul-lesbische Machtdemonstration entscheidend dafür, dass Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung Ende 1988 erstmals gesetzlich verboten wurden, zumindest in der Stadt am Lake Michigan.
Queere Solidaritäten: Bruchlinien und Brücken
Es finden sich jedoch auch Geschichten, die weniger optimistisch stimmen. Lesbian Chicago war eine Initiative, die Treffen und Veranstaltungen organisierte. Mitte der 1990er Jahre stellte sie ihre Aktivitäten ein, vermutlich aus Mangel an finanziellen Ressourcen. Ein ähnliches Schicksal ereilte wenig später das schwul-lesbische Rodde Centre (S. 122). Zudem stellt D’Emilio immer wieder fest, dass beileibe nicht alle LSBTI*-Personen in gleichem Maße von den errungenen Emanzipationserfolgen profitieren. Es wäre also verfehlt, nun die Hände in den Schoß zu legen und es sich in der vermeintlichen Sicherheit des von den Altvorderen Erkämpften bequem zu machen.
Stattdessen gilt es, weiterhin queere Solidarität und queere Netzwerke zu stärken. Wie wichtig dafür, und damit komme ich zum zweiten Punkt, gerade die scheinbar unpolitischen Formen des Zusammenseins und Zusammenkommens sind, verdeutlichen die Kapitel über den lesbischen Chor Artemis Singers und über Frontrunners Chicago. Seit den späten 1970er Jahren organisiert der letztgenannte Verein sportliche Events und Spendenaktionen, mit denen er verschiedene LSBTI*-Initiativen unterstützt. Umgekehrt zeigt der Misserfolg von Gary Nepon, wie eine allzu eng aufs Politische fokussierte Kampagne scheitern kann, weil ihr der Rückhalt subkultureller und anderer Netzwerke fehlt. 1978 wollte sich Nepon als offen schwuler Mann ins Parlament von Illinois wählen lassen. Aber er gab bereits nach den Vorwahlen auf, obwohl sein Wahlkreis im Herzen des schwulen Chicago lag. Der Grund: Nepon war in der Community unbekannt, er hatte sich zuvor nicht für queere Menschen engagiert, weder die Betreiber der einschlägigen Kneipen noch die Herausgeber von Gay Life, der wichtigsten Community-Zeitung, unterstützten ihn (S. 78).
Wie wichtig der Blick über den Tellerrand des Parteipolitischen für ein besseres Verständnis queerer Geschichte ist, zeigen auch die Kapitel zu christlichen LSBTI*-Initiativen. 1970 markiert den Beginn von Gay Mass, einer Reihe von mehr oder weniger konspirativen katholischen Gottesdiensten. Wenig später folgten mit Integrity und Lutherans Concerned ähnliche Initiativen im episkopalen und protestantischen Kontext. Wie diese Beispiele zeigen, war es vielen Menschen ein besonderes Bedürfnis, queere und religiöse Zugehörigkeiten miteinander zu verbinden.
Vielfalt der Aktivismen
Damit ist der dritte und letzte Punkt angesprochen: die intersektionalen Perspektiven, die zeigen, wie verschiedene Dynamiken der Identitäts- und Differenzproduktion ineinanderwirken. D’Emilio führt das nicht nur mit Blick auf das Religiöse vor, sondern auch dort, wo er die spezifischen Bedürfnisse älterer queerer Menschen unterstreicht (S. 18). Ein besonderes Augenmerk gilt zudem den Problemen, die sich aus dem Zusammentreffen von homophoben und rassistischen Diskriminierungen ergaben und ergeben. Black and White Men Together wurde 1980 von Aktivisten gegründet, die gerade auch in der schwulen Szene gegen den Ausschluss von Queers of Color ankämpften.
Zunächst weniger klar umrissen waren die Ziele der Amigas Latinas, einer Gruppe frauenliebender Frauen lateinamerikanischer Herkunft, die sich Mitte der 1990er Jahre ganz informell zum Sonntagsbrunch zu treffen begannen. Daraus entwickelte sich im Lauf der Zeit eine schlagkräftige Organisation, die sich gegen häusliche Gewalt und rassistische Diskriminierung und für die Unterstützung von Menschen mit HIV/Aids sowie die besonderen Anliegen lesbischer Mütter einsetzte. Hier wird abermals deutlich, wie entscheidend es ist, auf die je besondere Situation verschiedener LSBTI*-Personen und -Gruppen zu achten und auf die teils sehr unterschiedlichen Formen des Engagements, die sich daraus ergeben. Diese nicht immer konfliktfreie Vielfalt von Aktivismen und Lebensstilen ist ein zentrales Merkmal queerer Geschichte.
Dies so anschaulich und in kurzweiliger Form herauszustellen, ist eines der großen Verdienste von Queer Legacies. Natürlich bringt das Format der kleinen Vignetten auch Probleme mit sich. Mitunter kommt es zu Redundanz. An einigen Stellen hätte man sich mehr Kontextinformationen oder präzisere Angaben gewünscht. Wenn D’Emilio vom Marsch auf Washington spricht, setzt er das Wissen über den von der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung organisierten March for Jobs and Freedom von 1963 und die Marches for Lesbian and Gay Rights von 1979, 1987 und 1993 – wobei letzterer auch die Bisexuellen mit aufs Tapet hob – weitgehend voraus. Vor allem für ein nicht US-amerikanisches Publikum ist das unter Umständen verwirrend.
Letztlich sind das aber nur Petitessen, die dem Gewinn und dem Vergnügen der Lektüre keinerlei Abbruch tun. Vielmehr belohnt das Buch seine Leser*innen mit einer Fülle an Details und überraschenden Einsichten. D’Emilio zeigt, wie wertvoll die Arbeit von und in queeren Archiven ist, um nicht zu vergessen, wie es war, und weiter darum zu ringen, wie es wird.
Fußnoten
- John D’Emilio, Capitalism and Gay Identity, in: Ann Snitow / Christine Stansell / Sharon Thompson, Powers of Desire. The Politics of Sexuality, New York 1983, S. 100–113.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.
Kategorien: Affekte / Emotionen Erinnerung Gruppen / Organisationen / Netzwerke Körper Queer Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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