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Zur Dialektik der Lebensform

Rezension zu „Die Natur des Menschen. Eine dialektische Anthropologie” von Daniel Martin Feige

Daniel Martin Feige:
Die Natur des Menschen. Eine dialektische Anthropologie
Deutschland
Berlin 2022: Suhrkamp
316 S., 22,00 EUR
ISBN 978-3-518-29953-1

Ambitionierter hätte er sein Vorhaben kaum präsentieren können. Daniel Martin Feiges Die Natur des Menschen kündigt im Untertitel nicht weniger als eine „dialektische Anthropologie” an. Damit sind die Erwartungen, die an ein solches Buch gestellt sind, hochgeschraubt. Und es versteht sich von selbst, dass man das anvisierte Stellmaß im Auge behalten muss, auch um im Nachhinein den eigentlichen Hauptgewinn nicht zu verpassen.

Sollte es einen solchen Hauptgewinn geben, dann steht er in Verbindung mit Feiges Frage nach einem angemessenen „Begriff unserer selbst als Lebewesen“ (S. 13). Wie der Autor gleich zu Beginn seines Buchs klarstellt, sind nur Menschen in der Lage, sich „wesentlich über sich selbst [zu] verständigen“ (ebd.). Soll also ein Begriff des Menschen expliziert werden, ist vorhandenes Wissen über sich – darum geht es beim Selbstwissen – in die Betrachtung mit hineinzunehmen. Diese Prämisse mag lapidar klingen, schließt allerdings von vornherein aus, dass sich Menschsein wie eine Substanz im Reagenzglas oder ein projiziertes MRT-Bild beobachten ließe.

Was diese begriffliche Vorentscheidung besagt, und vor allem, wohin eine „konsequent dialektische” Wendung (S. 14) solcher Begriffsbestimmung führt, wird sie philosophisch mit Hegel und Adorno artikuliert, deutet eingangs des Buchs eine Reihe programmatischer Sentenzen an. Dabei erfahren wir zunächst, dass Vernunft und Selbstbewusstsein etwas mit „Selbstverständnissen“ zu tun haben und „immer auf etwas bezogen sind, was in ihnen nicht positiv thematisierbar ist“ (S. 12). Dementsprechend lautet Feiges Leitgedanke: „Der Mensch ist dasjenige Lebewesen, das sich zu dem macht, als was es sich verstanden hat“, wobei sich dieses Lebewesen stets an dem abarbeite, „was es gerade nicht positiv auf den Begriff bringen“ könne (ebd.). Und weil das der Fall sei, werde „in und durch unsere kollektiven Selbstverständigungsprozesse über die Frage, was wir sind, beständig neu verhandelt“ (ebd.). Für die menschliche Lebensform hat dieser grundsätzliche Revisionsbedarf nicht nur Unbestimmtheit, sondern sogar Unbestimmbarkeit zur Folge, wie im weiteren Verlauf des Buchs deutlich wird.

Erklärtermaßen verfolgt Feige zwei Ziele: Erstens argumentiert er für die „Irreduzibilität einer philosophischen Perspektive auf anthropologische Fragen” (S. 11), was „gegenüber der lebenswissenschaftlichen Forschung” nötig sei, die plausible Erklärungen des menschlichen Geistes vermissen lasse. Andererseits, und darin besteht Feiges zweites erklärtes Argumentationsziel, will er eine „kritische Position” gegenüber der „Wiederkehr der Anthropologie in Form vor allem des Neoaristotelismus” beziehen (S. 12). Feiges Pensum führt also zu einer doppelten Frontstellung, die im Verlauf der Untersuchung wiederholt aufgerufen wird.

Während seine Kritik reduktionistisch-biologischer Auffassungen innerhalb der fachphilosophischen Szene mit relativ breiter Zustimmung rechnen kann, dürfte es Feiges Kritik „neoaristotelischer” beziehungsweise „neokantischer” Anthropologien vergleichsweise schwer haben. Schließlich manifestieren sich diese Theorieentwürfe in einem dichten Netz aus Beiträgen, an dem kontinuierlich in gängigen Fachjournalen sowie einer stetig wachsenden Zahl von Sammelbänden weitergewebt wird. Ihm entnimmt Feige seine wichtigsten Argumente. Hier sucht er nach Anhaltspunkten, die seine Koordinaten im philosophischen Gegenwartsdiskurs festlegen, wobei er sich zugleich Fluchträume nach verschiedenen Seiten offenhält.

Kaum zu übersehen ist, dass es dem Autor um eine Belebung des fachphilosophischen Austauschs geht, während gelegentlich nachbessernde Interpretationen einzelner Lesarten oder Werkpassagen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Angesichts exegetischer und schulphilosophischer Verengungen ist eine solche Einstellung nur zu begrüßen. Den aufräumenden und zupackenden Gestus, den Feige sich zu eigen macht, sollte man indes nicht mit Pauschalverurteilungen verwechseln, die philosophische Richtungen gegeneinander ausspielen, vermeintlich Unbrauchbares kurzerhand entsorgen oder auf unbestimmte Zeit in die Keller der Archive verbannen. Vielmehr ist Feiges „Aufräumen“ im Sinne eines sortierenden Diskussionsangebots zu verstehen. Einige seiner Bezugnahmen hinterlassen jedoch den Eindruck, eilig hinzugesetzt zu sein, um Unausgewogenheiten in der thematischen Überschau zu kaschieren. Letzteres macht sich vor allem im Anmerkungsapparat sowie im Schlussteil des Buchs bemerkbar, in dem die „klassische philosophische Anthropologie“ gewissermaßen nachträglich, und – wie es dort heißt – als „weitere[r] Kontext“ (S. 258) des eigentlichen Argumentationsgangs behandelt wird (S. 269–287).

Im Mittelpunkt des ersten Kapitels stehen Positionen, die Feige – terminologisch zurechtgestutzt – einerseits als „reduktiven Naturalismus” und andererseits als „historischen Relativismus” adressiert. Der „reduktive Naturalismus”, der prominent etwa in der Soziobiologie, der evolutionären Psychologie oder der Populationsgenetik in Erscheinung tritt, laboriere an einem prinzipiellen Unvermögen, geistige Vorgänge anders als im Sinne eines (mehr oder weniger komplexen) Zusammenspiels genetischer Faktoren zu begreifen. Reduktionen dieser Art, so Feige, beruhten auf stillschweigenden Prämissen, die letztlich darauf hinausliefen, sich die eigenen Argumentationsvoraussetzungen „unter den Füßen” wegzuziehen (S. 49). Nur freie und selbstbewusste Wesen, so lautet eine von Feiges Ausgangsversicherungen, verfügen über „Gründe als Gründe” (S. 35). Wer demnach in der Stoßrichtung eines reduktiven Naturalismus Thesen aufstelle, die eine solche Selbstreflexivität bestreiten, müsse für den Vortrag seiner Behauptungen etwas in Anspruch nehmen (Geist, Vernunft, Selbstbewusstsein etc.), das dem (reduktionistischen) Inhalt des Vorgetragenen widerspreche (S. 46 f., 49 f. und öfter). Insofern verstrickt sich der reduktive Naturalismus in einen performativen Selbstwiderspruch.

Am „historischen Relativismus”, einem anderen prominenten Denkansatz im sozialwissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart, sei anderes problematisch. Feige bezieht sich bei seiner Kommentierung dieser Ansätze auf die Wissenshistoriker Michel Foucault und Jesse Prinz. Beide sähen zwar ganz richtig, dass die Bestimmung des Menschseins historisch kontingenten Wissens- und Machtdynamiken unterworfen sei. Aus ihrer Skepsis gegenüber allgemeinen Bestimmungen des Menschen (S. 67) resultiere jedoch eine folgenschwere Überbewertung der Beobachterperspektive, wodurch Menschsein lediglich in Form eines jeweils konkret geltenden (und insofern variablen) Ausdrucks gesellschaftlicher Machtverhältnisse in den Blick komme. Diese Vereinseitigung zulasten der Teilnehmerperspektive (S. 67 f.) sei ein generelles Manko des Foucault‘schen Projekts einer Historisierung der Vernunft (S. 69–72). Denn eine Vernachlässigung der Vernunftfähigkeit (des oder der Einzelnen) laufe auf ein „Durchstreichen des Innen” (S. 69) hinaus, wie Feige seinen Befund formuliert. Mit dem Wegfall jener inneren Instanz, die reflexive Selbstthematisierung ermögliche, könne weder der Begriff des Menschseins noch der Begriff der Vernunft auf eine einheitliche Argumentationsbasis gestellt werden. Trotz ihrer unterschiedlichen Ausgangsmotive träfen sich reduktiver Naturalismus und historischer Relativismus mithin in dem Versuch, „Vernunftkritik von einem Standpunkt jenseits der Vernunft zu betreiben“ (S. 80).

Feiges eigene „Beantwortung der Frage nach dem Menschen“ hebt im Unterschied dazu mit der Voraussetzung humaner Vernünftigkeit an, mit der, wie der Autor meint, ein „robuster Ausgangspunkt” gesetzt sei (S. 79 f.). Diese Vernünftigkeit des Menschen „im Sinne seiner Ansprechbarkeit durch Gründe“ (S. 80) übernimmt für ihn die bedeutsame Aufgabe, den universalen Gehalt in der Bestimmung des Menschseins zu sichern.

Allerspätestens mit dieser Voraussetzung drängt sich freilich die Frage auf, wie Feige seinen Begriff genuin humaner Vernünftigkeit handhabt. Schließlich kann es für die in Aussicht gestellte, begriffliche Bestimmung des Menschseins nicht einerlei sein, was für ein Begriff von Vernunft zugrunde gelegt wird, wenn etwa vom „Vermögen der Vernunft” (S. 106) oder – noch anspruchsvoller in der begrifflichen Konturierung – von der „Vernunft als Form unseres Lebendigseins” (S. 107 und öfter) die Rede ist. Selbst wenn Feige nicht müde wird, zu betonen, dass „die Natur des Menschen in bestimmter Weise ausgehend von der Vernünftigkeit des Menschen im Sinne seiner Ansprechbarkeit durch Gründe und der damit einhergehenden Kritisierbarkeit zu begreifen” (S. 80) sei, sollte doch klar sein, dass sich eine Bestimmung der differentia specifica der menschlichen Gattung nicht auf sich selbst als Grund besagter Bestimmung berufen kann, ohne den Verdacht zu provozieren, einer petitio principii aufzusitzen.[1]

Auch die Positionsbefragung des ebenfalls rekonstruktiv verfahrenden zweiten Kapitels, in dem Feige weiterhin mit der Frage befasst ist, was den Menschen als rationale und damit als Lebensform sui generis auszeichnet, muss sich diesem methodischen Problem stellen. Im Unterschied zum ersten Kapitel, an dessen Ende Vernunftfähigkeit als ein Gesetztes in Erscheinung tritt (Ansprechbarkeit durch Gründe), wird dieses Gesetzte nun seinerseits als Setzendes thematisch, genauer gesagt: als ein der Vernunft zugrundeliegendes naturales Fundament. Diesen (zweiten) rekonstruktiven Ausgangspunkt am Begriff des Lebens hatte Feige in der Einleitung seines Buchs angekündigt, indem er seine Ausführungen von vornherein in den Kontext einer Analyse der Lebensform des Menschen stellte. Kurz gesagt, verfolgt er das Ziel, einen „Begriff unserer selbst als Lebewesen, die sich wesentlich über sich selbst verständigen”, auszubuchstabieren (S. 13).[2] Dass sich Feige in seinem Bestreben, eine dialektische Anthropologie zu entfalten, auf zwei verschiedenen Gleisen voranbewegt, das heißt sowohl der Vernunft als auch dem Leben einen grundbegrifflichen Status zuweist, ist, wie man leider konstatieren muss, eher der Ausgangsproblematik seiner bevorzugten Referenzautor:innen zuzuschreiben als einer methodisch sorgfältigen Reflexion der eigenen Vorgehensweise.

Das zweite Kapitel, das mit „Vernunft als Form” überschrieben ist, beginnt mit Feiges Zurückweisung verschiedener Varianten der sogenannten „2-Komponenten-Theorie”, derzufolge sich Menschsein, über sein tierisches Sein hinaus, durch ein zusätzliches Merkmal (wahlweise auch Eigenschaft, Fähigkeit, Vermögen, Merkmal) auszeichne. Die „Fähigkeit, sich an Gründen zu orientieren” (S. 81), so betont Feige, sei jedoch keine zusätzliche Eigenschaft, über die Menschen verfügten und die in irgendeiner Weise „additiv” zu einem bereits bestehenden Set von Eigenschaften hinzuträte. Demnach sei es irreführend, menschliche Vernunft an eines oder mehrere empirische Merkmale anzuhängen. Auch sei es nicht damit getan, das menschliche Vernunftvermögen als einen empirischen Begriff zu entfalten, der spezifische dafür infrage kommende Eigenschaften des Menschen, die beobachtbar seien, heraussondere. Vielmehr sei, wie Feige betont, ein nicht-empirisches Verständnis der „Form seines spezifischen Lebendigseins” (S. 83, 107) verlangt. Doch selbst wenn man diesem Programm beipflichtet, lässt sich hinsichtlich einer Verankerung der Natur des Menschen in dessen „Ansprechbarkeit durch Gründe” gelinde Skepsis anmelden. So wäre etwa zu fragen, ob die reklamierte Rezeptivität des Menschen für Gründe nicht auch – wenngleich in höherstufiger, abstrakterer Form – ein besonderes Vermögen postuliert, das in Wahrheit anderen konkreteren Fähigkeiten oder Vermögen (Sprachfähigkeit, rationales Handeln usw.) seinerseits als Fundament dient.

In seiner Zurückweisung additiver Erklärungen bezieht sich Feige auf zentrale Motive der „jüngsten Rezeption der aristotelischen Philosophie” (S. 83). Mit Michael Thompson nimmt er einerseits auf einen Autor Bezug, der in den Worten Feiges einen „erstnatürlichen Naturalismus” vertrete, in dem Vernunft „als unsere erste Natur” verstanden werde. Andererseits diskutiert Feige die Position eines „zweitnatürlichen Naturalismus”, für den John McDowell argumentiere, der Vernunft „als unsere zweite Natur” begreife (ebd.). Erneut verfolgt Feige sein erklärtes Ziel, zu ermitteln, warum die beiden unterschiedlichen Auffassungen der anthropologischen Differenz ungenügend ausfallen.

Auf den ersten Blick hat Feige an Michael Thompsons Darstellung des Begriffs der Lebensform wenig auszusetzen. Zu Recht stelle Thompson die Kategorie des Lebens als eine „irreduzible Form der Beurteilung” dar. Auch dass er diese Lebens- als Urteilsform in „naturhistorischer Beschreibung” erschließe und nicht als eine „empirische Beschreibung” einzelner Lebewesen vorstelle, sei begrüßenswert (S. 91 f.). Charakteristisch für Thompsons Erklärung spezifischer Lebens- als Urteilsformen („Die Amsel brütet zweimal im Jahr zwischen März und Juli und legt drei bis sechs Eier”) sei eine „besondere Art von Einheit”, die Thompson zufolge einen logischen Sinn beinhalte, der sich in letzter Instanz auch auf Inhaltliches erstrecken müsse (S. 93). Ungeachtet der normativen Implikationen, die zur Erfassung von Lebens- als Urteilsformen gehören (Feige hält das zwar für „erläuterungsbedürftig”, geht auf seine angedeuteten Vorbehalte jedoch nicht näher ein), stehe Thompsons Ansatz für den Versuch einer „Analyse der logischen Struktur des Lebensformbegriffs” (S. 98). Also lasse sich mit Thompson die Frage stellen, „was überhaupt eine Lebensform ist”, oder anders gesagt „was es heißt, dass etwas ein Lebewesen als Lebewesen ist” (ebd.). Dabei sei gerade der Umstand begrüßenswert, dass sich Thompsons Beschreibung der „Grammatik des Lebens” weder auf kausalexplanantorische, noch anders geartete empirische Aussagen verpflichten lasse (S. 98 f.).

Feiges einziger, für die Untersuchung im Ganzen jedoch umso schwerwiegender Kritikpunkt an Thompson ist, dass dessen Überlegungen in der Konsequenz zu dem Befund führen, „dass Lebensformen (sowohl hinsichtlich ihrer logischen Form als auch hinsichtlich des je spezifischen Inhalts) letztlich selbst nicht mehr zeitlich sind” (S. 99). Systematisch gesehen ist damit derjenige Punkt erreicht, an dem für Feige sichtbar wird, dass die Anthropologie eine „Temporalierung von Formbestimmungen” benötige (S. 100). Wie allerdings ein zeitlich gefasster Übergang von Leben zur Vernunft vorzustellen sei, bei dem „Vernunft die Form des Lebendigseins des Menschen im Kontrast zum Lebendigsein von Pflanze und Tier ausmacht” (S. 110), bleibt selbst dann ein Rätsel, wenn man die transformativen allesamt auf Temporalisierung der Betrachtung zielenden Ansätze im neoaristotelischen Gegenwartsdiskurs hinzuzieht. Zwar vermag Feiges Kritik „inhaltlicher Festlegungen“, wie sie etwa Martha Nussbaum und Rosalind Hursthouse in ihren anthropologisierenden Theorieentwürfen vornehmen (S. 113–115), die Notwendigkeit einer transformativen Bestimmung argumentativ zu bekräftigen. Nur verdeutlicht diese Kritik selbst keineswegs, wie eine Analyse des genetischen Zusammenhangs von Vernunft und Leben (S. 117), die Feige verschiedentlich vor Augen zu haben scheint, tatsächlich auszusehen hätte.

Einigermaßen verständlich ist demgegenüber Feiges Diskussion von John McDowells „zweitnatürlichem Naturalismus”. Insbesondere lasse sich dank dessen Theorie der Wahrnehmung begründen, dass menschliche Wahrnehmung sowohl auf sinnliche als auch auf begriffliche Vermögen angewiesen sei. McDowell mache somit nachvollziehbar, dass es „ein und diesselben Vermögen [seien], die im Denken und im Wahrnehmen im Spiel sind” (S. 139). – „Die Wahrnehmung selbst ist begrifflich, indem sie etwas als etwas wahrnimmt.” (S. 140) McDowells Absage an einen Dualismus von Sensiblem und Intelligiblem macht Feige zufolge zwar das Zusammenspiel von erster und zweiter Natur einsichtiger. Gleichwohl heißt es an anderer Stelle, McDowell ziehe „erste und zweite Natur zu weit auseinander” (S. 166), was Thompsons Vorwurf an McDowell, dieser operiere mit einem „verkürzten Naturbegriff“, letztlich bestätige (S. 169).

Wie an diesem Einwand erkennbar wird, ist der Stein des Anstoßes für Feige vor allem der zu scharfe Schnitt, der Natur und Vernunft im neoaristotelischen Diskurs scheidet. Diese Entgegensetzung liefert letztlich auch den Grund, warum er sich nach einem passenden (transformativen) Übergang von der Natur zur Vernunft (sowie umgekehrt von der Vernunft zur Natur) umschaut und ihn – wenig überraschend – bei Hegel findet, genauer gesagt: in Hegels Geschichtsverständnis. Man wird sogar so weit gehen können und sagen, Feiges gesamter Untersuchungsgang, das heißt sein ambitionierter Versuch, einer dialektischen Reformulierung des Verhältnisses von Leben und Vernunft, verdanke sich maßgeblich diesem Einsatzpunkt „im Geiste Hegels“ (S. 174).

Es reicht Feige nicht, mit Thompson und McDowell einen „weiterführenden Begriff der Form“ zu bestimmen, vielmehr geht es ihm darum, das „Werden der Form“ zu denken, mithin um eine „prozessuale Transformation des Sinns dieser Formen“ (S. 177). Diese Metamorphose soll durch eine Temporalisierung der Begriffe von Natur und Vernunft bewerkstelligt werden, also durch die Hinzuziehung eines entsprechenden Begriffs von (Natur-)Geschichte. Den Schlüssel hierzu liefert ihm Hegels Anthropologie, die in der Enzyklopädie „als Scharnier zwischen Naturphilosophie und Geistphilosophie fungiert“ (S. 187, auch S. 190). Feige mobilisiert Begriffe wie ‚Gewohnheit‘ und ‚Bildung‘, die sich im zeitgenössischen Hegel-Diskurs einer gewissen Prominenz erfreuen und helfen sollen, den Hegel‘schen Blick auf das Lebendige in seiner zeitlichen Erstrecktheit zu schärfen: „Anders als bei Aristoteles und Kant mündet bei Hegel die Beantwortung anthropologischer Fragestellungen von selbst in eine geschichtsphilosophische Perspektive.“ (S. 194), heißt es an einer vielsagenden Stelle, welche die Bedeutung von Hegels „Philosophie des absoluten Geistes“ für das Vorhaben einer dialektischen Betrachtung von Natur und Geist enthüllt: „Vernunft, Selbstbewusstsein und Freiheit“, so Feige, seien keine „unveränderliche natürliche Ausstattung des Menschen, sondern als Praktiken wie als reflexive Kategorien eine kulturhistorische Errungenschaft“ (ebd.).

Dass in Feiges Problemzuschnitt anthropologische Fragestellungen quasi wie von selbst in die Perspektive eingerückt werden können, die Hegels Geschichtsphilosophie eröffnet, verweist aber nicht nur auf die systematische Bedeutung, die Feige Hegels „Philosophie des absoluten Geistes“ zumisst, sondern führt auch auf eine bestimmte Lesart von dessen Logik, in der neben der Formbestimmtheit des Inhalts, auch die inhaltliche Bestimmtheit der Form ins Licht gesetzt sei (S. 185). Dementsprechend sieht sich Feige dazu veranlasst, jenen „nicht-formalistischen Begriff der Form“ zu explizieren, der in der „Geschichtlichkeit der Form“ seinen Ausdruck finde (S. 172 ff.). Der entscheidende Zug, mit dem Feige hier die „Weltbezüglichkeit“ der werdenden Form ins Zentrum seiner Überlegungen rückt, beruht also tatsächlich auf einem temporalisierten Verständnis von Dialektik. Es gestattet ihm, sich nicht nur vom neoaristotelischen Diskurs abzusetzen, sondern auch von Hegel selbst (S. 213). Denn nicht Hegels „Selbsttransparenz des Geistes“ stellt für Feige das erklärte Ziel einer „dialektischen Explikation der menschlichen Natur“ dar, sondern der ganz und gar unhegelsche Gedanke, „dass in unserer zweiten, rationalen Natur eine erste (Gegen-)Natur am Wirken ist“ (ebd.), wie es bei Feige – der damit auf Adornos Hegelkritik vorausblickt – heißt.

Die Gedankenführung des dritten Kapitels läuft denn auch nicht von ungefähr auf eine Analyse der „Pluralität historischer Lebensformen“ (S. 217) hinaus. Dass Feige sich damit gleichsam für eine Fortsetzung seines Untersuchungsweges ohne eine weitergehende Explikation des naturalen Fundaments entscheidet, sei ausdrücklich hervorgehoben. Denn außer den im Schlussteil kursorisch eingestreuten Andeutungen über Plessners Darstellung des Lebendigen sowie den oben bereits erwähnten Stellunganhmen zu Thompson, wird die naturale Konstitutionsform vernünftigen Lebens als solche nicht mehr thematisiert. Stattdessen konzentriert sich Feiges Darstellung, die nun stark eklektische Züge annimmt, beinahe ausschließlich auf Probleme des Hegel‘schen Geschichtsbegriffs, wie sie in ihrer hermeneutischen Weiterverarbeitung (durch Heidegger, aber vor allem durch Gadamer) Niederschlag gefunden haben. Dabei bezieht sich Feige einerseits auf Arthur C. Dantos Überlegungen zur historischen Entwicklung der Kunstwelt, zum anderen auf Gadamers Idee vom Neu- und Andersverstehen der Traditionen, um einer „bestimmte[n] Variante der hegelschen Geschichtsphilosophie“ (S. 225) Plausibilität zu verschaffen. In diesem Argumentationszusammenhang macht Feige kein Hehl daraus, dass er Gadamers Position neben derjenigen Adornos „für eine der paradigmatischen Positionen [hält]“, die versucht haben, Hegels Philosophie im 20. Jahrhundert in einer Weise systematisch weiterzudenken, an die anzuknüpfen sei (S. 240).[3]

Mit Rückgriff auf Gadamers historische Dialektik begründet Feige, was er eine „retroaktiv-teleologische Auffassung von Geschichte“ nennt (S. 224), die im Gegensatz zu Hegels „projektiver Teleologie“ (S. 220) keinem linearen und darin fragwürdigen Fortschrittsverständnis folge. Eine im Gegensatz dazu „minimale[n] Variante teleologischen Denkens“ (S. 226), die über Gadamers Idee rückwirkender Traditionsaneignung einen „retroaktiven“ Effekt“ (S. 241) geltend mache, markiere ein Verständnis von Geschichte, für das der „Sinn geschichtlicher Ereignisse […] im Licht zukünftiger Ereignisse und unserem Streit darum, wie diese zu verstehen sind, wesentlich ungesichert“ sei (ebd.).

Worauf Feige mit der Korrekturbedürftigkeit geschichtlicher Prozesse im Lichte fortwährender Interpretation hinauswill, ist unschwer als die Absicht zu entziffern, den Spielraum historischen Begreifens auszuweiten. Darauf verweist etwa seine Bemerkung, dass „das Ganze [gemeint ist die Neubewertung historischer Ereignisse] ohne die Instanz des Subjekts“ nicht vonstattengehe (S. 241). Dass sich Geschichte trotz dieser Entmystifizierungsaktion nach wie vor in ihrem Begreifen vollziehe und selbst als neu oder anders begriffene weiter vollziehen soll, beruht jedoch auf einem entweder bewusst in Kauf genommenen oder uneingestandenen Idealismus, den sich Feige im Zuge seiner Adaption des meta-historischen Begriffsarsenals (aus dem Hause Heidegger und Gadamer) einhandelt. Dementsprechend bezeichnet die retroaktive Korrektur historischer Gegebenheiten keinesweg bloß die Tätigkeit des Aushandelns, wie sie Subjekte miteinander betreiben, vielmehr ist ein „Aushandlungsgeschehen“ gemeint, das etwa auf geschichtliche Ereignisse wie die Französische Revolution reagiere (ebd.). Auch der Verweis auf „die Geschichtlichkeit“ menschlicher Lebensformen ist bei Feige nicht lediglich als der Vorgang fortgesetzter Ergründung historischer Tatsachen zu verstehen, vielmehr habe sie den „spezifischen Sinn“ des Sich-selbst-durchsichtig-Werdens des geschichtlichen Prozesses (S. 241–243). Wie Feige hier in unmißverständlichem Anschluss an Hegel ausführt, bestehe die „primäre Form unseres praktischen Selbst- und Weltverständigungsgeschehens nun nicht länger in künstlerischen oder religiösen Praktiken […], sondern [geschieht] in begrifflicher Weise“ (S. 242).

Was an diesen Ausführungen vor allem irritiert, ist der unumwunden affirmative Bezug auf die idealistische Konzeption einer im Medium begrifflicher Reflexion vollzogenen (Re-)Interpretation, die Feige sogar noch am Werk sieht, wenn es um faktische Revisionen weltverändernder Praktiken geht. Dass er hier in keiner Weise auf die Marx‘sche Geschichtsauffassung zu sprechen kommt, deren radikaler – den Rahmen bloßer Interpretationsvorgänge (siehe die 11. Feuerbachthese) sprengender – Gehalt ein bis weit ins 20. Jahrhundert nachwirkender Impuls war, ist nicht als eine bloße quantité négligeable innerhalb seiner Argumentationsökonomie zu verbuchen – zumal Feige ja für sich reklamiert, „Hegels materiale Durchführung seiner Geschichtsphilosophie“ (S. 233) kritisch zu sehen.

Es sind solche hinsichtlich ihrer historisch-systematischen Verbindungslinien zu wenig ins Verhältnis gesetzten Probleme, wie sie im Spannungsfeld von Natur und Geschichte, aber auch von idealistischer und materialistischer Geschichtsauffassung auftreten, die im dritten Kapitel für anhaltende Ratlosigkeit sorgen. Gerade dieser stärker konstruktiv verfahrende Teil des Buchs wirft somit mehr Fragen auf, als dass er Lösungen für zuvor rekonstruierte Fragestellungen anbietet. Daran ändert auch der kontextualisierende Schlussteil wenig, den Feige seiner „Explikation der Natur des Menschen“ (S. 258) nachstellt, um am Ende doch noch auf die „klassische philosophische Anthropologie“ Schelers, Plessners und Gehlens einzugehen. Vor allem bei dieser Bemühung, auf gewissermaßen klassische Positionen philosophischer Anthropologie zurückzublicken, drängt sich der Verdacht einer übereilten Aneignung auf. Zwar ist Feiges Ehrgeiz, doxographisch korrekt zu resümieren, überdeutlich, doch wird in seiner Darstellung erneut auf die systematischen Verbindungslinien zwischen den durchaus heterogenen Denktraditionen zu wenig Wert gelegt.

Feiges nachdrückliche Betonung der Historizität, welche die Verfasstheit von Vernunft und Leben einer temporalen Betrachtungsweise zugänglich machen soll, ist zweifelsohne ebenso sinnvoll wie mit Blick auf die zuvor am Naturalismus wie Historismus geübte Kritik auch folgerichtig. Nur reicht sie nicht aus, um Feiges angesteuerte, dialektische Betrachtung der menschlichen Natur aus ihrer hier nach wie vor wesensphilosophischen Verankerung zu lösen. Wie eine „dialektische Anthropologie“ aussähe, die sowohl der Historizität wie der Materialität menschlicher Lebensvollzüge Rechnung trüge, ist am Ende des Buch eine offen gebliebene Frage.

  1. Dieses methodische Grundproblem wird im Eingangskapitel zu Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen und der Mensch behandelt.
  2. Hervorhebung im Zitat vom Rezensenten.
  3. Es sind vor allem derartige Urteile, bei denen genauer nachzufragen wäre, wodurch sich eine „paradigmatische Position“ gegenüber anderen Positionen der Hegelforschung im 20. Jahrhundert denn auszeichnet.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Stephanie Kappacher.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Philosophie

Roman Yos

Roman Yos ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Philosophie/Philosophische Anthropologie des Instituts für Philosophie der Universität Potsdam.

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