Volker Schürmann | Rezension |

Anthropologie auf Abwegen

Rezension zu „Philosophische Anthropologie auf neuen Wegen“ von Christian Thies

Christian Thies:
Philosophische Anthropologie auf neuen Wegen
Deutschland
Weilerswist 2018: Velbrück Wissenschaft
212 S., EUR 34,90
ISBN 978-3958321595

Der Band bietet eine Zusammenstellung von zehn Texten zum Themenfeld der Philosophischen Anthropologie. Sechs der Texte waren bereits veröffentlicht, einer lag nur in einer kürzeren Version vor, drei gehen auf Vorträge zurück und sind Neuerscheinungen. Insofern handelt es sich um eine Serviceleistung, die man als Interessierter dankbar aufgreift. Das im Vorwort formulierte Anliegen liegt darin, sowohl die philosophische Disziplin (mit kleinem p) als auch die Philosophische Anthropologie (mit großem P) als theoretischer Strömung respektive Denkschule (mit den Gründern Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen) zu analysieren, allerdings in systematischer und nicht primär historischer Absicht. Die Leitfrage des Bandes, die alle in ihm versammelten Texte zusammenhält, lautet, welchen Reim man sich philosophisch (noch) auf die Anthropologie machen kann und ob man sich heute überhaupt noch einen solchen Reim machen sollte. Angesichts sachlicher Schwierigkeiten der Anthropologie und angesichts faktischer Abgesänge auf diesen Ansatz will der Band die philosophische Aktualität der Anthropologie herausstellen.

Eine solche Aktualität sei allerdings daran gebunden, neue Wege einzuschlagen, wobei das Vorwort vier Themen verzeichnet, die anstehende und notwendige Innovationen anzeigen. Zum einen möge sich die Anthropologie als ein „interdisziplinäres Forschungsprogramm“ im Sinne des in London lehrenden, ungarischen Philosophen und Wissenschaftstheoretikers Imre Lakatos begreifen (Text 1); zum zweiten möge sie sich von ihrer Orientierung an und affirmativen Bezugnahme auf sogenannte Menschenbilder emanzipieren (Texte 3 und 4); zum dritten müsse sie neue empirische Forschungen zur Kenntnis nehmen und einarbeiten, insbesondere was die „Wurzeln der Moral“ (Text 5), der „Religion“ (Text 6), diejenigen „menschlicher Sozialverbände“ (Text 7) sowie „menschlicher Intersubjektivität“ (Text 8) anlangt. Zum vierten seien schließlich auch Revisionen im „philosophische[n] Kern“ (S. 9) der Philosophischen Anthropologie nötig, „vor allem durch Gedanken und Theoriestücke aus der Frankfurter Schule“ (ebd.; dazu die Texte 9 und 10). Wer von Revisionen spricht, provoziert allerdings die Rückfrage, ob es sich noch um „Weiterentwicklungen“ handelt oder bereits um Fundamentalkritik, also etwa den Aufweis, dass sich die philosophische Anthropologie als eine Sackgasse erwiesen habe. Vorerst bleibe, so die Überzeugung von Christian Thies, allerdings der harte Kern eines anthropologischen Forschungsprogramms bestehen, jedenfalls solange, und dies ist als Warnung gemeint, wie „die Ansätze ihrer drei Gründerväter nicht gegeneinander“ ausgespielt würden (S. 7). Und dazu gehöre, den Nachweis zu erbringen (Text 2), dass Gehlens Buch Der Mensch, als umstrittenes Gründungsdokument der Philosophischen Anthropologie erstmals im Jahre 1940 erschienen, keine Studie im Geiste des Nationalsozialismus sei.

Der Vorschlag, an Lakatos Konzept interdisziplinärer Wissenschaft anzuknüpfen, ist meines Wissens ein originärer Beitrag von Thies, der bereits mit einer Reihe von Publikationen zur philosophischen Anthropologie hervorgetreten ist und seit 2009 Philosophie an der Universität Passau lehrt. Weniger originell ist sein Plädoyer dafür, auf die Rede von Menschenbildern zu verzichten. Im Übrigen täte in diesem Zusammenhang Abgrenzung not, nämlich von den Verächtern der Anthropologie auf der einen und vom Hohen Lied auf die vermeintlich prinzipielle Werturteilsfreiheit der Wissenschaft im Allgemeinen und der Anthropologie im Besonderen. Doch will sich Thies davon gar nicht distanzieren, vielmehr plädiert er unmissverständlich für die Entkopplung von Anthropologie und Ethik (S. 176; vgl. S. 22 f., 53 f., 57, 70), womit er sich freilich in Konflikt mit den Protagonisten der Philosophischen Anthropologie in ihrer formativen Phase begibt (S. 166 f.).

Dass Philosophie den Kontakt zu neuerer empirischer Forschung brauche, sagen alle. Die Behauptung macht aber weder verständlich, was das für die philosophische Analyse im Einzelnen heißen soll, noch wird deutlich, gegen wen sich der in dieser These implizite Vorwurf richtet: gegen Aristoteles? Leibniz? Hegel? Engels? Oder nur gegen die Epigonen? Thies hat jedenfalls kein Problem mit Gehlens monströser Rede von einer „empirischen Philosophie“ (S. 15, 178), wobei an eben dieser Begriffsbildung doch aufzuschlüsseln wäre, wie Philosophie sich zu welcher Empirie verhalten soll, ohne auf diese reduziert zu werden.

Unbestreitbar ist sicherlich, dass die Beziehungen der Philosophischen Anthropologie zur Frankfurter Schule weitgehend unerforscht sind – abgesehen von wenigen jüngeren Publikationen, zu denen unter anderem auch die Dissertationsschrift von Thies zählt.[1]

Anthropologie als ein Forschungsprogramm im Sinne von Lakatos zu begreifen, ist – wie gesagt – anregend und originär. Damit stellt sich Thies zufolge die Aufgabe, einen „harten Kern von philosophischen Annahmen, die in der empirischen Forschung nicht zur Disposition gestellt werden“ (S. 13), herauszudestillieren, der allen drei Gründungsvätern gemeinsam sei; ihn umgäbe ein „Schutzgürtel“ (Lakatos) modifizierbarer Annahmen, in dem sich die innertheoretischen Differenzen finden, durch die sich die Positionen Schelers, Plessners und Gehlens unterscheiden; schließlich sei noch ein weiter gefasster gegenüber einem engeren Anwendungsbereich der philosophischen Anthropologie als Forschungsprogramm zu bestimmen (S. 13). Der positive Ertrag des Ansatzes ist, dass Thies diese Aufgabe angeht und den postulierten harten Kern explizit auszumachen versucht (S. 14 ff.). Im Resultat wartet er jedoch nur mit streitbaren Deutungsvorschlägen auf, die nicht neu sind und in der inneranthropologischen Forschung tatsächlich schon lange zu Kontroversen führen. Thies erwähnt diesen Umstand mit keinem Wort, was dieses Unterkapitel und damit Text 1 seiner Aufsatzsammlung insgesamt in seinen Erträgen weitgehend wertlos macht. Die, die um jenen Streit wissen, kennen jetzt noch eine Meinung mehr, aber keine haltbaren Gründe dafür, dass sich ein solcher Nukleus, eine Quintessenz, der philosophischen Anthropologie tatsächlich bestimmen ließe. Die, die um jenen Streit nicht wissen, werden durch einen prominenten Autor der Anthropologie falsch informiert. Nur einige Beispiele: Plessners These von der ‚natürlichen Künstlichkeit‘ des Menschen und Gehlens Prämisse ‚Der Mensch ist von Natur ein Kulturwesen‘ stellen nicht dieselbe Position dar (S. 20); auch vertritt Plessner keinen „extremen Kulturalismus“ (S. 20), ist seine Anthropologie doch explizit nur als Naturphilosophie zu haben;[2] da Plessners Kategorie der Mitwelt eine Strukturbestimmung dessen ist, was bei ihm als ‚exzentrische Positionalität‘ gefasst wird, bleibt Plessner nicht dem Subjektivitätsparadigma verhaftet, das Thies meint auch bei Plessner identifizieren zu müssen (S. 23; vgl. S. 143). In der Forschungsliteratur zu Plessner gibt es zu derartigen Interpretationsfragen ausgiebige Nachweise und instruktive Diskussionen. So braucht es, vorsichtig gesprochen, einen ziemlich robusten Umgang mit dem einschlägigen Forschungsstand, um sich, wie Thies, dort vertretene Deutungsangebote herauszupicken und kommentarlos als einzig angemessene Lektüre zu präsentieren.

Wichtiger ist die grundsätzlichere Frage, ob die Bezugnahme auf Lakatos als solche überhaupt trägt. Thies erschwert seinen LeserInnen eine Antwort, weil er es in seinen diesbezüglichen Stellungnahmen bei einer wohlmeinenden Unklarheit belässt. „Eigentlich“ sei der Begriff des Forschungsprogramms „nur auf Wissenschaften wie Physik und Mathematik“ anwendbar (S. 12), weshalb sich die Kriterien eines solchen Forschungsprogramms „nicht in derselben Strenge“ auf die Philosophie anwenden ließe (ebd.). Letztlich trägt er wenig Belastbares zur Klärung des Verhältnisses der Philosophie zu anderen empirischen und nicht-empirischen Wissenschaften bei; das Fallbeispiel der nichtempirischen Mathematik bleibt gänzlich undiskutiert. Gerade hier wäre zu klären, was „empirische Philosophie“ heißen soll. Die Axiome der Geometrie machen Winkelmessungen möglich, und können folglich nicht im direkten Sinne durch Winkelmessungen widerlegt werden. Das ist, analog, der rationale Kern der Rede von einem „harten Kern“ der Philosophischen Anthropologie. Thies verunklart diese Einsicht in beide Richtungen. Die Anknüpfung an Gehlens Rede von einer empirischen Philosophie suggeriert, dass man auch einen solchen Kern empirisch prüfen könnte, obwohl es doch dessen Grundlegungen sind, die empirische Forschung im Sinne der Anthropologie erst möglich machen. In die andere Richtung suggeriert er, dass die postulierten Grundannahmen mehr oder weniger willkürliche Überzeugungen seien, die man durch Konfrontation mit anderen Überzeugungen ändern, verwerfen oder bereichern könne. Hier stellt sich die oben schon benannte Rückfrage: Wann und wodurch überschreiten Revisionen im Kern das Programm der Anthropologie als Anthropologie?

Dieser Rückfrage weicht Thies dadurch aus, dass er sich auf Lakatos bezieht, um in dessen Namen die von seinem Gegenspieler Thomas Kuhn favorisierte Vorstellung abzuwehren, „dass Paradigmen sich inkommensurabel gegenüberstehen, also sich ihre Anhänger einander gar nicht verständlich machen können“ (S. 24; vgl. S. 12, 161). Einmal abgesehen von dem Faktum, dass man sich durchaus darüber verständigen kann, worin die Unvereinbarkeit zweier Paradigmen besteht, liegt in den Manövern, die Thies vornimmt, große Kunst am Theoriebau vor: Weil Plessner und Gehlen, wie der Autor gleich eingangs hervorgehoben hatte, nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, erklärt man das ganze Unterfangen der Philosophischen Anthropologie zu einem Forschungsprogramm, um sich damit die Lizenz zu erteilen, nicht darüber reden zu müssen, was Philosophische Anthropologie ausmacht, was ihre Grenzen sind und wo entsprechend ein anderes Paradigma beginnt.

Dieses ‚Verfahren‘, am Kern von Debatten vorbeizuschreiben, sei am Beispiel der Lektüre eines Textes des Politikwissenschaftlers und Ideenhistorikers Christian Graf von Krockow aufgezeigt. Text 2 beginnt mit einem Zitat von Krockow: „Arnold Gehlen (hat) in seinem Werk eine, nein: die faschistische Theorie entworfen und vollendet, auf dem allerhöchsten Reflexionsniveau, das sie überhaupt zu erreichen vermag.“ (zit. n. S. 25) Es ist klar, dass von Krockow mit diesem Satz eine umstrittene These aufstellt, und genauso klar dürfte sein, dass sie nicht zustimmungspflichtig ist. Mit sehr viel Wohlwollen ließe sich konstatieren, dass Thies das Zitat lediglich als Aufhänger nutzt. Freilich findet man sich rasch eines Besseren belehrt, wenn Thies ausdrücklich zu Protokoll gibt, er wolle „Krockows These zurückweisen“ (ebd.). Wie aber kann eine solche Zurückweisung und Widerlegung aussehen, wenn der Autor kein weiteres Mal auf den zitierten Text eingeht? Es mag ja durchaus sein, dass Krockow mit seiner Gehlen-Interpretation falsch liegt. Aber um das zu klären, müsste diese These detaillierter diskutiert werden, es müssten die von Krockow genannten Gründe referiert, gewürdigt und womöglich widerlegt werden. Stattdessen erfahren wir bei Thies einiges darüber, dass Gehlens Buch in einem NS-Verlag erschienen ist, was ein solcher Umstand besagt, ob und wie erklärte Nationalsozialisten zitiert werden, was sich in den verschiedenen Auf- und Nachauflagen des Werks geändert hat – mithin das aus der Gehlen-Rezeption Übliche und mehr oder weniger Bekannte. Nur dazu, was Krockow behauptet hatte, also zu seiner Charakterisierung der philosophischen Anthropologie Gehlens als einer elaborierten faschistischen Theorie, nimmt Thies einfach keine Stellung.

„Punkt um Punkt“, heißt es bei von Krockow im Originallaut, „zeigt sich damit Gehlens Theorie als Bestätigung jener Entscheidungs- und Entschlossenheits-Ideologie der zwanziger Jahre, die wir in Beispielen dargestellt haben – auch oder gerade in der Form, die sie in Hitlers ‚Mein Kampf‘ annimmt. Es liegt wenig an Etikettierungen, aber wenn man in diesem Zusammenhang vom Faschismus spricht, dann hat Gehlen in seinem Werk eine, nein: die faschistische Theorie entworfen [...].“[3] Selbstverständlich kann man, wie bereits angemerkt, diese Aussage für falsch und irreführend halten. Jedoch wird sie nicht durch Ausführungen widerlegt, die ventilieren, ob sich im Text von Gehlen explizite Rassismen oder umgekehrt philosemitische Bekenntnisse finden lassen, ob und wie oft Adolf Hitler oder Alfred Rosenberg zitiert werden und ob Gehlen im Lichte dessen, was er ansonsten in seinem Leben getan hat, nun ein Opportunist war oder nicht. Thies hätte verstehen und darlegen müssen, was Krockow sagt, wenn er Gehlens Anthropologie als Ausdruck einer Ideologie charakterisiert. Erst dann kann und muss man diskutieren, ob und inwiefern die These von einer faschistischen Theorie ihre Berechtigung hat.

Doch wird sein Buch nicht nur Krockow nicht gerecht. Auch Plessner kommt mit seiner eigentlichen philosophischen Ambition nicht zu Wort. Ihm war nämlich nicht primär um den Ausbau einer neuen Teildisziplin innerhalb der Philosophie zu tun, vielmehr sollte das Projekt einer philosophischen Anthropologie Plessner zufolge dem viel grundsätzlicher angesetzten Zweck einer „Neuschöpfung der Philosophie“ verschrieben sein.[4] Bevor zu klären wäre, was das Leistungsspektrum einer „empirischen Philosophie“ sein könnte, welcher Status der Anthropologie als philosophischer Subdisziplin zukäme und wie ihr Verhältnis zu anderen Bereichsdisziplinen der Philosophie zu bestimmen wäre, also etwa zur Ethik, braucht es mit Plessner eine Verständigung darüber, was „philosophieren“ heute überhaupt heißen soll. Den sich in einer solchen Verständigungsbewegung auftuenden neuen Wegen ist Christian Thies in seinem Aufsätzen leider nicht auf der Spur.

  1. Siehe Christian Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Reinbek 1997. Vgl. auch Thomas Ebke et al. (Hg.), Mensch und Gesellschaft zwischen Natur und Geschichte. Zum Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie, Berlin/Boston 2017.
  2. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch [1928], Berlin / New York 1975, S. 26.
  3. Christian Graf von Krockow, Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990, Reinbek 1992, S. 362.
  4. Plessner, Stufen, S. 30.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Philosophie Anthropologie / Ethnologie Gesellschaftstheorie

Volker Schürmann

Prof. Dr. Volker Schürmann ist seit 2009 Professor für Philosophie, insbesondere Sportphilosophie an der Deutschen Sporthochschule Köln. Seit 2017 ist er Präsident der Helmuth-Plessner-Gesellschaft. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Philosophische Anthropologie, Hermeneutik, Sportphilosophie und Modernetheorien.

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