Ulrich Bröckling | Einführung | 02.07.2025
Alleinordinarius und Bündnispartner
Einführung zum Filmausschnitt „Popitz 1968 in Freiburg“
1968 initiierten Alexander Kluge, Hans-Dieter Müller, Günther Hörmann und Wilfried E. Reinke, zu dieser Zeit alle an der Hochschule Ulm tätig, ein Dokumentarfilmprojekt, das die damalige Situation an westdeutschen Universitäten dokumentieren sollte. Während die Filmemacher bei ihren Aufnahmen an den Hochschulen in Berlin, Frankfurt und Hannover von den Ereignissen überrollt wurden und in der Folge vor allem die studentischen Protestaktionen und politischen Diskussionen im SDS festhielten, konzentrierte sich Hans-Dieter Müller bei seinen Drehs in Freiburg auf die hochschulinternen Reformdiskussionen und -prozesse. Die Freiburger Filme zeigen Szenen einer Institution im Umbruch: eindrückliche Porträts von Studierenden, Interviews mit Professoren, Ausschnitte aus Vorlesungen, Seminar- und Gremiendiskussionen. Eine etwa 15-minütige Sequenz aus einem dieser Filme dokumentiert eine Sitzung der sogenannten Studienkommission am Institut für Soziologie vom 29. November 1968.
Das 1964 mit Popitz als einzigem Professor gegründete Institut hatte in den ersten Semestern kaum mehr als dreißig Studierende im Hauptfach, die für eine akademische Karriere ausgebildet und mit einer rudimentären Studienordnung mehr oder minder direkt zur Promotion geführt wurden. Wie in den meisten Studiengängen stieg die Zahl der Studierenden im Verlauf der 1960er-Jahre rapide an, eine Reform der Studienordnung war unumgänglich. Auf Popitz‘ Initiative hin wurde am soziologischen Institut ein Studienausschuss mit studentischer Mehrheit und Beschlusskraft ins Leben gerufen, dem weitgehende Rechte bei der Gestaltung des Studiengangs eingeräumt wurden. Neben den Dozent:innen und wissenschaftlichen Assistent:innen des Instituts gehörten ihm zwei Fachschaftsvertreter:innen sowie 21 gewählte Vertreter:innen aus der Studierendenschaft der Soziologie an. Gegründet wurde der Studienausschuss in der Absicht, so hieß es in seiner Satzung, „den Kontakt und Informationsaustausch zwischen Dozenten, Assistenten und Studierenden zu verbessern, durch gemeinsame Beratung die Studienreform im Fach Soziologie weiter zu fördern [und] die Mitbestimmungsrechte der Studierenden im Sinne einer Demokratisierung der Universität zu vermehren.“ Unter den Studierenden galt der Studienausschuss als der progressivste der Universität.
Popitz gehörte in der Zeit der Studentenbewegung zu den wenigen Professor:innen in der Bundesrepublik, die die Proteste öffentlich unterstützten. So demonstrierte er etwa mit den Studierenden gegen die Notstandsgesetze und zählte nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 zusammen mit Theodor W. Adorno, Hans Paul Bahrdt, Heinrich Böll, Peter Brückner, Ludwig von Friedeburg, Walter Jens, Eugen Kogon, Golo Mann, Alexander Mitscherlich, Hans Dieter Müller, Helge Pross, Helmut Ridder und Hans-Günther Zmarzlik zu den Unterzeichnern der „Erklärung der Vierzehn“, einer öffentlichen Stellungnahme zum Anschlag auf Dutschke und der Pressepolitik des Springer-Konzerns.
Den Studierenden räumte Popitz, wie die Gründung der Studienkommission zeigt, weitgehende Mitspracherechte ein. Dennoch sorgte seine Rolle im Institut auch für Zündstoff: „Die Stellung des Alleinordinarius Heinrich Popitz gleicht einem aufgeklärten absolutistischen Monarchen“, schrieb ein Autorenkollektiv im April 1969 in der Freiburger Studentenzeitung. Vor allem die Basisgruppe Soziologie, die auch im Studienausschuss vertreten war, forderte mehr Mitspracherecht in der Lehre. Thema zahlreicher Diskussionen war die Einführung freier Arbeitsgruppen, in heutiger Diktion: „autonomer Seminare“. Diese sollten im Gegensatz zu den regulären Übungsgruppen ausschließlich aus Studierenden bestehen und die Diskussion unter Gleichgestellten fördern. Für die freien Arbeitsgruppen wurden die Möglichkeit zum regulären Scheinerwerb sowie eine freie Themenwahl durch die Studierenden gefordert. Die Basisgruppe argumentierte, diese Form von Lehrveranstaltung könne nicht als frei bezeichnet werden, solange sie in direkter Konkurrenz zu den regulär stattfindenden Übungsgruppen stände. Viele verunsicherte Studenten würden die Übungsgruppen wählen, weil diese Sicherheit versprächen und der Scheinerwerb strukturiert angeleitet werde. Ein von Popitz verfasstes Flugblatt vom April 1969 macht deutlich, dass er diese Auffassung nicht teilte:
„Besonders wichtig erscheint mir auch die vorgesehene Wahlmöglichkeit zu sein: Die Wahl zwischen selbstständigen Arbeitsgruppen und normalen Übungsgruppen. [...] Warum ist der Basisgruppe die Wahlmöglichkeit so suspekt? Weil Studenten, die das falsche Bewusstsein haben, die Chance, selbst zu entscheiden, genommen werden muss. Was falsches Bewusstsein ist, entscheidet die Basisgruppe.“
Der Filmausschnitt verdeutlicht Popitz‘ schwierige Position, die exemplarisch für die Situation der wenigen nicht-konservativen Hochschullehrer:innen war: Einerseits wurde er als Alleinordinarius angegriffen, andererseits von vielen Studierenden als Bündnispartner für eine Demokratisierung der Universität angesehen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Macht Wissenschaft
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