Stephan Lessenich | Rezension |

Apocalypse – wow!

Rezension zu „Geist und Müll. Von Denkweisen in postnormalen Zeiten“ von Guillaume Paoli

Guillaume Paoli:
Geist und Müll. Von Denkweisen in postnormalen Zeiten
Deutschland
Berlin 2023: Matthes & Seitz
268 S., 22 EUR
ISBN 978-3-7518-0355-7

Was für Zeiten! Die deutsche Politik ist in einen gnadenlosen Unterbietungswettbewerb um die menschenverachtendste Umgangsweise mit Geflüchteten und Zuwandernden eingetreten. Im Anbahnungsdokument einer Großen Koalition im Bundesland Hessen gerät das existenzielle Problem des Klimawandels an den Rand des Interesses, während die Unterbindung des „Genderns mit Sonderzeichen“ an Schulen, Universitäten und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk in dessen Zentrum rückt. In Argentinien schickt sich ein anarcho-autoritärer Psychopath an, fünfzig Jahre nach Pinochet im Nachbarland Chile ein neuerliches marktradikales Gesellschaftsexperiment zu vollziehen – diesmal ganz ohne Militärputsch, sondern dank absoluter Mehrheit in den Präsidentschaftswahlen. Und, apropos Präsidentschaftswahlen, in den USA steht Donald Trump schon Gewehr (aka „X“) bei Fuß, um das in seiner ersten Amtszeit Unerledigte endlich nachzuholen und die demokratische Verfassung nun wirklich nachhaltig zu schleifen.

Was ist hier bitteschön los? Guillaume Paoli, französisch-deutscher Philosoph, Schriftsteller und situationistischer Aktivist, sagt es uns. Krisendiagnostiker:innen aufgepasst, denn: „Nein, keine Katastrophe steht bevor, wir stecken bereits mittendrin.“ (S. 14) Wir haben den Schuss nur noch nicht gehört, obwohl es doch an jeder Ecke unüberhörbar knallt. Noch aber wähnen wir uns in unserer gewohnten Welt. „Eine stabile, zuverlässige Welt mit vier Jahreszeiten, vollen Supermarktregalen, Urlaubsbuchungen, Karriereplänen und für alle Pannen technische Lösungen.“ (ebd.) Eine Welt, die aber in Wirklichkeit bereits nicht mehr existiert. Noch leben wir so wie in den alten Zeiten. Doch dieses Leben ist Traum. Es ist dem Tod geweiht, aber es weiß dies noch nicht. Oder will es nicht wissen. Einfach so tun, als ob nichts wäre. Oder als ob sich Schlimmeres verhindern ließe, wenn man die Schotten dicht macht, unter sich bleibt und die eigene Identität pflegt, indem man die Störenfriede verunglimpft und Eindringlinge verrecken lässt und bei nächster sich bietender Gelegenheit dem Politunternehmer mit den billigsten Selbsttäuschungsangeboten die Stimme gibt. „Der Verstand hinkt der Wirklichkeit hinterher, und in den Zwischenraum drängen Ängste und Ersatzhandlungen.“ (ebd.)

Ein „Plädoyer für einen aufgeklärten Katastrophismus“ kündigt der Buchrücken dieses Bandes an – und ja, das ist verlagsseitig zur Abwechslung mal nicht zu viel versprochen. Zwischen diesen Buchdeckeln findet sich kein selbstmitleidig-illusionäres Oh-wie-schön-war-Panama-Narrativ, keine aufrüttelnde Fünf-vor-Zwölf/Jetzt-oder-Nie-Rhetorik, kein jugendbewegtes Listen-to-the-Science-Pamphlet, keine letztgenerationale Selbstermächtigung zum gerechten Kampf der Erleuchteten gegen die dunklen Mächte und den Rest der Welt. Dieses Buch ist nicht dystopisch, sondern post- oder anti-utopisch, geschrieben im „Wissen um die vertanen Chancen“ (S. 179).

Es ist nicht die geringste der zahlreichen originellen Denkbewegungen, die Paoli in diesem Buch vollzieht, wenn er den von Karl Jaspers geprägten Begriff der „Achsenzeit“ in die jüngere Vergangenheit der westlichen Zivilisation (oder ‚Zivilisation‘) transponiert beziehungsweise projiziert und das post-prärevolutionäre, von „1968“ geprägte Halbjahrzehnt 1970 bis 1975 als eine politisch-intellektuelle Zeit rekonstruiert, von der ausgehend es tatsächlich denkbar gewesen wäre, nicht alles anders, aber doch vieles besser zu machen. Ivan Illich und Nicholas Georgescu-Roegen, Cornelius Castoriadis und der Club of Rome: Was wurde nicht alles damals schon gedacht und gesagt, was wäre nicht alles möglich gewesen, den – wie heißt es doch so schön – „politischen Willen“ vorausgesetzt. Heute aber wissen wir: Pustekuchen! In den 70er-Jahren ist nicht nur der Fortschrittsglaube verpufft, sondern zugleich auch die revolutionäre Energie, durchgesetzt haben sich die „Advokaten des Status quo“ (S. 86). „Vielleicht wäre einmal diese oder jene Fantasie real möglich gewesen. Aber die Zeit ist vergangen und mit ihr die Bedingungen, die zur Verwirklichung hätten führen können.“ (S. 179) Es hat nicht sollen sein – der Zug ist unwiderruflich abgefahren: „Die absolut neue und schwer zu bewältigende Herausforderung“ unserer heutigen Zeit bestehe nun darin, „mit Irreversibilität umgehen zu können.“ (S. 178)

Wie aber fängt man das an? Wie sich dem Unvermeidlichen stellen, dem nicht wieder gut zu Machenden ins Auge sehen, ohne darüber zynisch oder depressiv, larmoyant oder besserwisserisch, defätistisch oder irre zu werden? Guillaume Paoli hat für sich einen guten Weg gefunden: Er hat ein Buch geschrieben, das sich entspannt kämpferisch, belustigt traurig gibt und auf unprätentiöse Weise klug daherkommt. 260 Seiten, 123 Miniaturen, 8 Kapitel (die als strukturgebende Instanzen eher Schall und Rauch sind) zuzüglich 85 Endnoten. Das Ganze „als ein Nebeneinander chronologisch ungeordneter Gedanken belassen“ (S. 15), denn das „Chaos will doch chaotisch dargestellt werden“ (ebd.). Wenn man so will: Die Minima Moralia unserer spätfossilistischen Zeit.

Die Analogie ist nicht ganz so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn Paoli ist erstens ein begnadeter Aphoristiker; er konstatiert zweitens die fortschreitende Zerstörung der Vernunft und sieht die Unvernunft „auf dem Vormarsch“ (S. 36); und er schreibt drittens von der Unmöglichkeit, im Angesicht der Katastrophe über das „gute Leben“ zu sinnieren, weswegen er die ganze Sache – die Wissenschaft, die Welt, das Leben – ex negativo angeht, im Sinne der bestimmten Negation und im Einsatz gegen die „Falschmünzer der Hoffnung“ (S. 47). „Um gegen präsente und kommende Übel geistige Antikörper zu entwickeln“, sei es ratsam – das Buch atmet unter anderem auch den Geist der Pandemie – „sich Bazillen der Negativität einzuimpfen“ (S. 58). Wenn Adorno das erleben dürfte.

Darf er aber nicht. Dafür allerdings wir – Paoli sei Dank. Es geht ihm darum, „die Dinge vom Ende her zu denken“ (S. 52, H.i.O.): Die Sache ist durch, unsere Zivilisation (‚Zivilisation‘, s.o.) ist dem Untergang geweiht. Und doch kann es nun nicht darum gehen, fröhliche Wissenschaft (oder zynische Politik) zu betreiben. Die Dinge liegen auf der Hand, die kapitalistische Produktivitätsmaschinerie ist auf allerhöchstem Niveau heruntergewirtschaftet, der Fortbestand des Menschen ist terminiert, ein Tribunal ist nicht mehr notwendig: „Die Gerichtsuntersuchung ist längst abgeschlossen, die historische Schuld geklärt, die Beweislage erdrückend.“ (S. 55 f.)[1]

Die katastrophische, post-apokalyptische Jetzt-Zeit belegt Paoli – nach reiflichem Überlegen, an welchem er die Leser:in ex post teilhaben lässt – mit dem Begriff des Desasters, einer Verheerung, die keineswegs im Werden, sondern „längst eingetreten“ (S. 19) sei. Dieses Desaster besteht nicht nur aus der allseits bekannten, seit Jahrhunderten systematisch betriebenen und soziotechnisch immer weiter verfeinerten, physisch-materiellen Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschheit. Zum Desaströsen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustands gehört ganz entscheidend auch ein in seiner Konstruktion einigermaßen komplexes, in Stoßrichtung und Ergebnis allerdings denkbar schlichtes psychosoziales Syndrom. Kern desselben ist eine mit aller gesellschaftlicher Macht – und zunehmender Gewalt – betriebene Form der teils bewussten, teils vorreflexiven Handlungskoordination, die sich als Projekt der Entwirklichung bezeichnen und begreifen lässt.

Durch die leidlich effektiv hergestellte „Trennung zwischen Unheil und Alltag“ (S. 17) wird beides gleichermaßen irreal: Das Unheil mutiert zum bloßen Schein (was wollt Ihr eigentlich – läuft doch alles!?), der Alltag wird zum traumwandlerischen Vollzug der eingespielten Verhaltensroutinen. Mit Zustimmung, mindestens aber Duldung der Vielen betreibt die Gesellschaft des Desasters Politik nach dem Motto „Krieg den Symptomen, Friede den Ursachen“ (S. 18): Krieg den Flüchtenden, Friede den Fluchtursachen! Kampf den Treibhausgasen, lang lebe die kapitalistische Produktionsweise! Immer noch wird so getan, und bis auf Weiteres dürfte so getan werden, als ob ein eigentlich intaktes, „im Kern vernünftiges System von außen her angegriffen“ (S. 36) und in Mitleidenschaft gezogen würde – das eine Mal von Autokraten, ein andermal von Viren, hier vom Klima, dort vom Islam.

Die grüne Verheißung einer Fortsetzung des Modernisierungsprozesses mit ökologischen Mitteln wird die Regierungsbeteiligung der GRÜNEN, die es selbst mit ihrem wirtschafts- und verbraucherfreundlichen Reformkurs nach Ansicht der wirtschafts- und verbraucherfreundlichen Milieus offenkundig übertrieben haben, gewiss überleben, um fürderhin noch stärker kosmetische Züge zu tragen. „Freiheit ist eine Apokalypse wert“ (S. 69) – und zwar für sämtliche Fraktionen der liberal-libertären Internationale, von vermeintlich stabilitätsbesorgten Biedermännern vom Typ Christian Lindner bis zu den ihr neofaschistisches Anliegen nur noch notdürftig kaschierenden Brandstiftern vom Schlage eines Javier Milei. Die Kontrollillusion funktioniert, freilich „nur, indem sämtliche Widersprüche in unsichtbaren Peripherien abgelagert werden“ (S. 237) – Peripherien des Planeten ebenso wie Peripherien der Psyche. An der „Spirale der selbstverlogenen Rationalisierungen“ (S. 227) wird fleißig weitergedreht, „dem Selbstgespräch des Alkoholikers ähnlich. Morgen höre ich auf.“ (Ebd.) Doch das aus der sozialen Wahrnehmung und der politischen Dringlichkeit Ausgeschlossene wird durch seinen Ausschluss nicht gegenstandslos: „Der unterdrückte Gegenstand ist als Phantom allgegenwärtig“ (S. 21), auf unheimliche Weise taucht er immer mal wieder, und mittlerweile immer öfter, aus der Versenkung auf, denn die gesellschaftlich generierten und mobilisierten „Verdrängungsmittel“ (S. 23) werden zusehends knapper – was, wie Paoli wohl nicht zu Unrecht anmerkt, nicht unbedingt eine gute Nachricht sei, denn in einer Situation akuten Rechtfertigungsbedarfs für ein unbeirrtes Weiter-So öffnet sich beinahe zwangsläufig der Raum für „gröbere, aggressivere Verdrängungsvarianten“ (ebd.). Die grassierende Militarisierung des Regierungshandelns in Ost und West, Nord und Süd erscheint insofern nicht als zufällige Konjunktur, sondern als Kapitulationsurkunde der politischen und ökonomischen Eliten: „Den neuartigen Katastrophen sind sie nicht gewachsen, aber Krieg können sie.“ (S. 67)

Schon an dieser kleinen Kostprobe schonungsloser Enttarnungen des herrschenden kollektiven Selbstbetrugs wird deutlich, dass Schönreden Paolis Sache nicht ist: „Take that, Positivdenkende!“ (S. 43) Ganz im Gegenteil, Wahrsprechen ist das Gebot im Angesicht des Desasters, in einer gesellschaftlichen Konstellation, in der – „Tragödie der Gegenwart“ (S. 32) – eine Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse „sowohl unmöglich als auch unabdinglich ist“ (ebd.). Und dennoch, man glaubt es kaum, hat das Positive seinen Platz bei Paoli, wenn auch nur am Katzentisch des Zeitgeschehens. Für die nicht nur von den herrschenden Verhältnissen selbst, sondern auch von ihrer gesellschaftlich akzeptierten Analyse geplagte Soziolog:in findet sich das Positive dieses Bandes in einer beißenden Kritik sowohl des unvermeidlichsten aller Fernsehphilosophen (unter dem sprechenden Pseudonym „Ingar-Armin Blech“ [S. 27]) wie auch des vielleicht überschätztesten aller bürgerlichen Modeintellektuellen („Latourkundemuseum“, S. 126 ff.). Aber für solche Randgruppeninteressen ist das Buch zum Glück nicht geschrieben.

Für die Mehrheitsleser:innenschaft hingegen dürfte das Positive in einem irgendwie widersinnigen, irgendwie auch trotzigen, so oder so jedoch überzeugenden Restoptimismus des Autors liegen. Nicht umsonst ist Günther Anders zwischen den Zeilen dieses Buches, wo nicht in ihnen, allgegenwärtig: Den historischen Endpunkt des Weltenlaufs, gedanklich vorweggenommen, gilt es, so unwahrscheinlich, ja aussichtslos dies auch sein mag, empirisch abzuwenden. „Vor dem grassierenden Desaster zumindest das Denkvermögen zu retten“ (S. 44), das ist das bescheiden-größenwahnsinnige Anliegen Paolis. Und: Es gegen all den gesellschaftlich produzierten und verbreiteten Müll zu verteidigen.

Womit wir endlich beim Titel des Bandes wären. Geist und Müll – das ist ein Paar, das derzeit eine unheilvolle Liaison eingegangen ist und das es wieder gründlich voneinander zu scheiden gälte. Denn die industriekapitalistische Vermüllung der Welt hat vor der Welt des Geistes nicht Halt gemacht. Die „ungeheure Warensammlung“, die Marx gleich im ersten Satz des ersten Bandes des Kapital aufruft, gebiert Ungeheuer in Gestalt gigantischer Müllberge. Müll ist die Kehrseite des Wertes, Wertschöpfung ist Müllschöpfung, „offensichtlich korreliert die beschleunigte Vermehrung des Mülls in der Welt mit der endlosen Spirale des abstrakten Verwertungsprozesses namens Kapital“ (S. 171).[2] Der Müll ist aber nicht nur das Weggemachte, sondern auch das Weggedachte im herrschenden Wertesystem. Als faulender, stinkender Abfall deklariert, wird er in Tonnen und Container gestopft, rund um den Globus geschippert, irgendwo abgelagert oder verbrannt – und damit unsichtbar gemacht.

Zugleich lenkt dieser Müll erster Ordnung, um dessen potenziell profitträchtige Wieder-Verwertung sich jeder wohlmeinende Privathaushalt zu kümmern hat, von dem Müll zweiter Ordnung ab, von der massenindustriellen, für die höheren Stände auch als manufactum geadelte Schundproduktion: „Was produziert wird, ist hauptsächlich Schrott mit zwischenzeitlichem Kollateralnutzen“ (S. 99) – man schaue sich zur Bestätigung der These nur einmal kurz in den eigenen vier Wänden um. Der materiellen Müllproduktion, wie es sich kapitalistisch gehört auf stetig erweiterter Stufe betrieben, entspricht eine geistige, die die Müllproduktion zur unabdingbaren gesellschaftlichen Notwendigkeit und den Müllkonsum zum Inbegriff gelingender persönlicher Lebensführung erklärt.

Ein notorischer Nörgler, Lustfeind, Ungeist, wer dies als Entfremdung der individuellen und kollektiven Existenz bezeichnet. Und doch, schlag nach bei Marx: „Entfremdung ist die zwangsläufige Auswirkung der Entfaltung der Warenlogik auf die Subjektivität.“ (S. 213) Insofern – im Sinne der Entfremdung nicht mehr (nur) der materiellen, sondern (auch) der geistigen Praxis –„sind heute so gut wie alle Menschen auf diesem Planeten proletarisiert!“ (S. 223) Wir sind alle Proletarier:innen, in allen Ländern – nur das mit dem Vereinigen will noch nicht so recht klappen. Irgendwie anti- und dann doch wieder promarxianisch konstatiert Paoli keinen fortschreitenden Verelendungs-, sondern einen nachhaltigen Veredelungsprozess, einen trickle up-Effekt der Proletarisierung via geistiger Vermüllung: „Das Instrumentwerden der Fabrikarbeiter war nur der Anfang. Es fand ein Durchsickern von unten nach oben statt.“ (S. 223) Die Welt, eine umgekehrte Sickergrube.

Was nun dagegen tun? Paoli plädiert für geistige Müllbeseitigung – und beginnt gleich mal selbst mit einem ersten Akt einer solchen „Rudologie des Geistes“ (S. 149). Angesichts des Müllhaufens der Modernisierungsgeschichte und seiner wissenschaftlichen Legitimationstheorien ist Paolis Buch eine Freiübung in Sachen Entsorgung, die ganz nebenbei der populären Rhetorik des Verzichts das Wasser abgräbt: Worum es geht und in Zukunft gehen wird, ist das „Trennen und Sich-trennen“ (S. 241) nicht nur von der beständigen Produktion eines materiellen Überschusses, der endlose Weiten ewiger Abfälle hinterlässt, „sondern auch von überkommenen Institutionen und toxischen Verhältnissen“ (ebd.).

„Gegen die Anpassung“ (S. 233), wie das letzte Kapitel des Bandes betitelt ist, und damit gegen ein herrschendes Motiv, mit dem die post-apokalyptische Welt auf das endgültige Ende von Emanzipation und Politik eingestimmt werden soll, bringt Paoli „eine Politik der emanzipatorischen Konservierung“ (S. 240) in Anschlag: „Das Ausgestorbene ist für immer weg, der Abfall noch lange da.“ (ebd.) Der gepflegten Affektsemantik der „Angst vorm Weltuntergang“ (S. 188) wiederum – „ein Luxus für privilegierte Westler“ (ebd.)[3] – setzt er die Utopie einer Revolte entgegen, „die von Neid und Ressentiment frei ist“, „den erhobenen Zeigefinger auslacht, angefangen mit dem eigenen“, und „sich vor Chaos, Widerspruch und Abwegigkeit nicht fürchtet“ (S. 105). Wo diese Revolte ihren Ausgang, wie sie ihren Lauf, welche Richtung sie nehmen soll – all das bleibt, wie im guten Brecht‘schen Drama, offen. Doch bevor der Vorhang fällt, hinterlässt uns Paoli noch die Idee und den Begriff der „Perkolation“: „In einem gegebenen System verbinden sich getrennte Punkte in zufallsbedingten Zusammenhängen untereinander, welche sich wiederum mit anderen Zusammenhängen vernetzen.“ (S. 242) So sähen wohl sozialrevolutionäre Bewegungen aus in einer historischen Zeit und einer wahrhaft sozialen Welt, in der so gut wie „alle Lebewesen vernetzt“ (S. 243) sind: „über Waren und Viren verbunden, von Klima und Kapital existenziell bedroht“ (ebd.).

Was soll man sagen? Am Ende vielleicht nur zweierlei, und beides mit Paoli: „Selbstredend verdienen sowieso nur die wenigsten Drucksachen, dass man sich in sie vertieft“ (S. 202) – diese hier aber schon! Und klar: „Nicht jede Philosophie eignet sich für jede Epoche.“ (S. 245) Mit diesem Werk jedoch hätten wir einen zeitgemäßen Entwurf – für eine Endzeit, die ihren Namen verdient.

  1. Die Geschichte und Gegenwart der kapitalistisch-kolonialen Katastrophe namens „Moderne“ erzählt Paoli auf zehn Zeilen, die sich gewaschen haben: „Bekanntlich waren es wenige europäische Nationen, später die US-amerikanische dazu, die den übrigen Völkern der Welt durch Gewalt und Verführung eine zerstörerische Arbeits- und Lebensweise aufdrängten. Und innerhalb jener Nationen eine ganz winzige Minderheit der Entscheidungsträger und Profiteure. Auf synchroner Ebene ist die Last der Verantwortlichkeiten nicht weniger belegt. Heute verursacht die dünne Oberschicht die meisten Emissionen und Verheerungen, von denen die kaum beteiligte, überwiegende Mehrheit am schlimmsten getroffen wird.“ (S. 56)
  2. „Vor hundert Jahren entsprach die Masse von Menschenhand fabrizierter Dinge gerade mal drei Prozent der Biomasse, dann aber verdoppelte sich diese Menge alle zwanzig Jahre, während die pflanzliche Masse auf die Hälfte ihres vormaligen Niveaus schrumpfte. Homo sapiens, trotz Bevölkerungswachstums ein bescheidenes Zehntausendstel der Biomasse, stellt Woche für Woche das Äquivalent seines Gewichtes in Produkten her.“ (S. 167)
  3. „Die Welt der anderen ist bereits untergegangen. Indigene Völker, Sklavenabkömmlinge, Geflüchtete, Vertriebene, Entrechtete, zahlenmäßig die Mehrheit der Erdenbewohner, haben ihre Welt (wie man von der ,griechischen Welt‘ oder der ,Welt der Inka‘ spricht) schon längst verloren,“ (S. 188)

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Konsum Ökologie / Nachhaltigkeit Politik

Stephan Lessenich

Stephan Lessenich, Soziologe, ist Professor für Gesellschaftstheorie und Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und dort Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS).

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