Karsten Fischer | Interview |

„Der klassische Liberalismus hat Verbote nicht kategorisch abgelehnt, sondern sie immer auch als Instrumente zum Schutz der individuellen Freiheit verstanden und eingesetzt“

Sechs Fragen an Karsten Fischer

Verbote und Gebote sind aus dem Alltag hoch regulierter, verrechtlichter Gesellschaften nicht wegzudenken. Warum empören sich dennoch so viele, wenn Verbote zum Schutz des Klimas gefordert werden?

In der Tat begleiten Verbote ja nicht erst die modernen Gesellschaften, sondern bereits die gesamte Menschheitsgeschichte. Dabei war die Legitimität von Verboten aber stets umkämpft. So ist beispielsweise das öffentliche Bekenntnis zu politischen oder religiösen Überzeugungen in demokratischen Systemen gefördert, in autoritären Systemen hingegen verboten worden, und das Problem der rechtlichen Regulierung von Abtreibung ist ja auch eine anhaltende Quelle von Dissens. Empörung gegen Verbote zum Schutz des Klimas dürften also wohl weniger mit einem generellen Überdruss hoch regulierter Gesellschaften an Verboten erklärbar sein. Schließlich werden in anderen Bereichen oftmals neue Verbote gefordert, etwa im Bereich der digitalen Kommunikation. Das spezifische Unbehagen gegenüber Verboten zum Schutz des Klimas dürfte eher auf ausgeprägte Ignoranz gegenüber der Dramatik des Klimawandels zurückzuführen sein. Bekanntlich sieht man Emissionen allenfalls entfernt und selten; exponentielles Wachstum begreifen Menschen auch im Fall der Zerstörung von Regenwäldern nicht in ihren Konsequenzen; und sogar Dürre- und Flutkatastrophen werden eher fatalistisch registriert als konsequent auf ihre Gründe hin befragt. Hinzu kommt eine in hedonistischen Erlebnisgesellschaften notorisch geringe Bereitschaft zum Verzicht. Das ist eine Variante der bekannten Nimby-Haltung (not in my backyard): Andere sollen den erforderlichen Verzicht leisten beziehungsweise die notwendigen Opfer bringen, das eigene Grundstück und die nähere Umgebung hingegen sollen von Solar- oder Windkraftanlagen frei bleiben. Global gesehen ist das wie ein neues Sankt-Florian-Prinzip, nach dem Motto „Verschone mein Land, überschwemme andere.

In seinem Buch Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens beklagt der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies eine zu große staatliche Zurückhaltung bei der Formulierung von Verboten zum Schutz von Klima, Ressourcen und Artenvielfalt. Teilen Sie die Diagnose? Brauchen wir mehr staatliche Verbote?

Diese Position ist auf jeden Fall diskussionswürdig, zumal Verbote ja auch die Entlastung bedeuten, alles tun zu dürfen, was nicht verboten ist, anstatt stets das eigene Verhalten auf seine Konsequenzen hin befragen zu müssen und dabei zu falschen Entscheidungen kommen zu können. Man darf sich aber auch nicht zu viel von Verboten versprechen. Denn die heutzutage erkennbare ökologische Krise ist ja einerseits nur die Kulmination der äonenlangen menschlichen Naturbeherrschung und andererseits so eng mit dem konsumistischen Hedonismus moderner Wohlstandsgesellschaften verbunden, dass man vor allem auch auf technische Innovationen setzen muss. So könnte man beispielsweise gegen individuelle Mobilität und Ernährungsvorlieben ja nur um den Preis der bürgerlichen Freiheit und des sozialen Friedens vorgehen. Neben sinnvollen Regulierungen wie der Einführung eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen darf man sich daher nicht zu viel von Verboten erhoffen, sondern muss auf ökologiefreundliche Erfindungen setzen. Gleichsam in der Fluchtlinie der erforderlichen Komplementarität aus Verboten und Forschungen liegt der schon im Epochenjahr 1989 von Ernst Ulrich von Weizsäcker unter dem Titel Erdpolitik publizierte Nachweis, dass der Umweltschutz nicht unter zu viel, sondern unter zu wenig marktwirtschaftlichem Handeln leidet: Tatsächlich sagen die meisten Preise ja nicht die Wahrheit über die ökologischen Kosten eines Produkts, sondern bürden diese der Allgemeinheit auf. So wären beispielsweise Flugreisen oder Kreuzfahrten sehr viel teurer, wenn die tatsächlichen ökologischen Folgekosten dieser Arten von Mobilität in die Tickets eingepreist würden. Genaugenommen handelt es sich hier ebenso wie in anderen Fällen um nichts anderes als stillschweigende Subventionen ökologisch bedenklicher Produkte oder Verhaltensweisen.

Deutschland ist nur ein Staat neben vielen anderen. Sind Verbote zum Schutz der Umwelt und des Klimas auf nationaler Ebene überhaupt sinnvoll, wenn sie nicht wenigstens von Teilen der Staatengemeinschaft unterstützt werden?

In der Tat wird man von nationalstaatlichem Handeln naturgemäß keine Lösung der globalen Umweltprobleme erwarten können, weswegen auch eine Differenzierung der ökologischen Anforderungen je nach Entwicklungsstand und spezifischen Bedürfnissen der Staaten und Regionen legitim und sinnvoll ist. Aber man wird von keinem sich entwickelnden Land ökologisch verantwortungsvolles Verhalten erwarten können, wenn die OECD-Welt diesbezüglich nicht vorangeht. Diese globale Diskrepanz und ihre motivationalen Effekte sind ein großes Problem, das noch viel mehr Aufmerksamkeit auch seitens der sozialwissenschaftlichen Forschung erfordert, als es bisher erfahren hat.

Kritiker wie Wolfgang Sofsky erachten Verbote als kontraproduktiv, weil sie Menschen provozieren und zur Übertretung herausfordern. Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen scheinen diese Position zu bestätigen. Schaden Verbote also mehr als sie nützen?

Schon Montesquieu wusste, dass der beste Staat derjenige mit den wenigsten Gesetzen, sprich: Verboten ist, aber Sofskys Feststellung ist eine sinnlose und falsche Generalisierung. Auch das Mordverbot, das geradezu ein anthropologischer Konsens ist, wird ja immer wieder verletzt, sowohl in Einzelfällen als auch in Kriegen oder im Zuge der ideologisch motivierten und legitimierten Ermordung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Trotzdem käme niemand auf die Idee, aus der Übertretung des Mordverbotes den Schluss zu ziehen, dass es mehr schade als nütze. Gleiches gilt für die Corona-Maßnahmen, die unzählige Leben gerettet haben, gerade auch unter denjenigen, die sie bekämpft haben und entsprechend ungeschützt waren. Man muss daher immer im Einzelnen abwägen, welche Verbote nützlich und vertretbar sind. Die Folgebereitschaft der Menschen ist dabei nicht mehr und nicht weniger als ein sinnvoller Faktor unter mehreren. Denn der Sinn von Verboten besteht ja regelmäßig gerade darin, Menschen vor den unverstandenen Konsequenzen ihres eigenen Verhaltens zu schützen, und das gilt für die ökologische Krise geradezu exemplarisch.

Manche Liberale betrachten staatliche Verbote als Einschränkungen individueller Freiheitsrechte und lehnen sie ab. Dabei kennt die Geschichte des Liberalismus durchaus Beispiele für Verbote, die individuelle Freiheit allererst ermöglicht haben, etwa das Verbot der Sklaverei. Kann man in Verboten also auch Instrumente zum Schutz der Freiheit sehen?

Wer staatliche Verbote generell als Einschränkungen individueller Freiheitsrechte ansieht und ablehnt, kann sich damit keineswegs auf den Liberalismus berufen, sondern vertritt eine erst im 20. Jahrhundert entstandene, libertäre Position. Der klassische Liberalismus hat Verbote nicht kategorisch abgelehnt, sondern sie immer auch als Instrumente zum Schutz der individuellen Freiheit verstanden und eingesetzt. Schließlich will er nicht bloß proklamieren, dass Freiheit ein individuelles Menschenrecht ist, sondern dafür sorgen, dass die Menschen auch in dessen tatsächlichen Genuss kommen. Dazu bedarf es naheliegenderweise des Verbots aller die Freiheit anderer in unzulässiger Weise beschränkenden Handlungen, wie John Stuart Mill es mit seinem berühmten Schadensprinzip formuliert hat, demzufolge nur diejenigen Handlungen verboten werden dürfen, die den Freiheitsgebrauch anderer einzuschränken drohen. Diese Handlungen müssen aber auch verboten werden. Zudem betont Mill ebenso deutlich, dass es nicht dem Zufall überlassen bleiben darf, wie die soziale Verteilung der Lebenschancen ausfällt. Vielmehr muss der Staat eine entsprechende Ausgleichsfunktion wahrnehmen. Montesquieu formuliert das im L’esprit des lois mit dem Satz, dass ein paar Almosen, die man einem Bettler auf der Straße reicht, nicht die Verpflichtungen des Staates kompensieren, der allen Bürgern ein sicheres Auskommen, Nahrung, angemessene Kleidung und eine gesundheitsförderliche Lebensmöglichkeit schuldet. Darin sind sich alle wichtigen Vertreter des klassischen Liberalismus einig gewesen, sodass der Wohlfahrtsstaat ein zutiefst liberales Projekt ist. Und wenn die Lebenschancen heutzutage auch von ökologischen Faktoren beeinflusst werden, ist es eben ein liberales Postulat, dass alle gewaltenteiligen staatlichen Institutionen Regulierungen zum Schutz des Klimas, der Natur und ihrer Artenvielfalt vornehmen müssen.

Wären Sie zu individuellem Konsumverzicht bereit? Und auf was würden Sie verzichten oder verzichten Sie schon?

Individueller Konsumverzicht, wie ich ihn vor allem durch Vermeidung jeglicher Flugreisen auf dem eigenen Kontinent und problematisch erzeugter oder gehandelter Lebensmittel praktiziere, ist selbstverständlich nötig, denn gerade bei der Vermeidung von Emissionen, Verschmutzungen und Abfällen zählt ja jeder noch so kleine, vereinzelte Beitrag. Zudem kann solch ein Verhalten, das in der Konsumsoziologie als Zusammenhang von „Boycott“ und „Buycott“ beschrieben wird, ja nicht nur vorbildhaft auf andere Personen wirken, sondern bietet auch die nachfrageseitige Voraussetzung dafür, dass die noch viel wichtigere Nachhaltigkeit ganzer Industriezweige realisierbar wird. Insoweit darf individueller Konsumverzicht aber eben auch nicht überschätzt werden und zu selbstzufriedener Bauchnabelschau führen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Globalisierung / Weltgesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Konsum Ökologie / Nachhaltigkeit Politik Sozialer Wandel

Karsten Fischer

Karsten Fischer ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Politische Ideengeschichte, Demokratietheorie, Liberalismus, Populismus und das Verhältnis von Politik und Religion.

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