Lion Hubrich | Rezension | 09.01.2025
Die Beharrlichkeit der „old boys“
Rezension zu „Born to Rule. The Making and Remaking of the British Elite“ von Aaron Reeves und Sam Friedman

Sam Friedman und Aaron Reeves versuchen sich mit Born to Rule an nichts Geringerem als der empirisch umfangreichsten soziologischen Untersuchung der Elitenstruktur eines Landes. Die beiden Professoren der London School of Economics greifen für ihr Buch auf Daten der letzten 125 Jahre zurück, um die britische Elite hinsichtlich ihrer Sozialstruktur, ihrer Bildungswege, ihrer Distinktionsstrategien und ihrer Einstellungen im Zeitverlauf zu analysieren. Sie profitieren dabei von dem Personenlexikon Who’s Who, das seit 1897 detaillierte Profile von Personen mit herausgehobener Bedeutung für die britische Gesellschaft enthält. Dieser reiche Datenschatz wurde nun erstmalig für die Forschung gehoben. Friedmans und Reeves’ Sample besteht aus insgesamt 125.000 im Who’s Who gelisteten Eliten aus allen gesellschaftlichen Bereichen, von denen zum Zeitpunkt der Analyse noch 33.000 leben (S. 11 ff.). Ergänzend schätzen sie anhand von Testamentsabschriften die Vermögen der betreffenden Personen. Zusätzlich haben 3.610 der untersuchten Eliten an einer Umfrage und 214 davon an qualitativen Interviews teilgenommen.
Wenig Wandel in 125 Jahren
Die britische Gesellschaft war, ist und bleibt eine Klassengesellschaft – daran lassen die Ergebnisse von Friedman und Reeves wenig Zweifel. Die Hälfte der von ihnen untersuchten Eliten stammt aus Familien in den oberen 10 Prozent der britischen Vermögensverteilung, über 20 Prozent kommen aus dem reichsten 1 Prozent (S. 97). Dieser Befund hat sich seit 1897 kaum geändert, zuletzt stieg die Bedeutung des Herkunftsvermögens sogar wieder. Wie weit die elitären Wurzeln in die Vergangenheit reichen, lässt sich auch daran ablesen, dass ganze 15,5 Prozent der heutigen Eliten ein Elternteil haben, das die Ritterwürde oder einen Orden des britischen Empires trägt (ebd.).
Auch in Bezug auf die ethnischen Identitäten der untersuchten Eliten widerlegen die Autoren den Eindruck einer Öffnung, der zuletzt durch die Prominenz von Einzelpersonen wie dem ehemaligen Premierminister Rishi Sunak entstand. Friedman und Reeves schätzen 96,8 Prozent der aktuellen Eliten als white ein (S. 200)[1] – eine deutliche Diskrepanz zur Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung Großbritanniens. Wenngleich im Zeitverlauf ein vorsichtiger Wandel zu verzeichnen ist, würde es in diesem Tempo noch circa fünfzig Jahre dauern, bis die aktuell um den Faktor 4,5 unterrepräsentierte Gruppe Black/Asian proportional in der britischen Elite vertreten ist (S. 201).
Am ehesten lässt sich ein Wandel im Geschlechterverhältnis feststellen. Waren bis in die 1980er-Jahre weniger als 5 Prozent der Who’s-Who-Eliten weiblich, so sind es heute immerhin 18 Prozent (S. 197 ff.). Ginge es in dieser Geschwindigkeit weiter, könnte bis 2050 Parität erreicht werden. Friedman und Reeves machen aber deutlich, dass Elitepositionen bei Weitem nicht für alle Frauen offenstehen. Denn jene vorsichtigen Öffnungsprozesse, die sich beobachten lassen, sind alles andere als intersektional: Die nun aufsteigenden oder bereits aufgestiegenen Frauen haben denselben Klassenhintergrund wie die Männer (S. 186), und nichtweiße Personen in der Elite kommen in sozioökonomischer Hinsicht sogar aus noch einmal besonders privilegierten Verhältnissen (S. 207).
Klassenreproduktion im Bildungssystem – Eton und Oxbridge
Friedman und Reeves machen eine Gruppe von neun Privatschule für Jungs aus, deren als old boys bezeichnete und hauptsächlich aus hochvermögenden Familien stammende Absolventen mit 52-mal höherer Wahrscheinlichkeit in der britischen Elite landen als Absolventen anderer Schulen (S. 118). Allein das Internat Eton beispielsweise brachte zwanzig britische Premierminister hervor. Natürlich sind auch die legendären britischen Universitäten ein wichtiger Hort der Elitenformation: Ganze 37 Prozent der aktuellen Eliten haben in Oxford oder Cambridge (Oxbridge) studiert (S. 137). Ein ähnlicher Anteil fällt auf 24 weitere etablierte Universitäten, von denen die Universitäten Durham und Edinburgh sowie die London School of Economics und das King’s College London die wichtigsten sind. Während die Bedeutung der Privatschulen im Vergleich zum 19. Jahrhundert zurückging, ist die von Oxbridge heute noch dieselbe wie vor über 125 Jahren – obwohl heute nicht mehr nur einige tausend Männer studieren, sondern Millionen von Brit:innen.
Angesichts der Bildungsexpansion der Nachkriegszeit mussten sich die etablierten Einrichtungen neu erfinden, um ihre Bedeutung zu behalten (S. 139 ff.). Bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts reichte es mitunter für die old boys, lediglich ihren Familiennamen und die Privatschule zu nennen, um ohne jeglichen Leistungsnachweis erst in Oxbridge aufgenommen zu werden und dann eine Spitzenposition in der Londoner Wirtschafts- oder Politikwelt zu bekommen. Heute müssen auch die Nachkommen privilegierter Familien beim Eintritt in die Universität und später in das Berufsleben die gleichen Leistungsnachweise wie andere Kandidat:innen erbringen. Dass die old boys weiterhin erfolgreicher sind, führen Friedman und Reeves darauf zurück, dass die Privatschulen ihnen nicht nur Extracurriculars und soziale Netzwerke bieten, sondern ihnen vor allem das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein (S. 126 ff.). Die wohlhabenden Jungs bilden so eine Subjektivität heraus, mit der es für sie – und für alle anderen – selbstverständlich ist, eine herausgehobene Position in der britischen Gesellschaft einzunehmen. Darüber hinaus, so argumentieren die Autoren, gebe es zwei Oxbridges (S. 145ff): eines für die old boys, die sich an den Universitäten in ihren ganz eigenen Netzwerken bewegen – mit Dinner Societies, Sportveranstaltungen, Mentoring und anderen Angeboten – und eines für alle anderen, die dort wohl hauptsächlich strebsam lernen müssen. Die Effekte eines privilegierten Klassenhintergrundes reichen somit sehr weit in den formal leistungsbasierten Bildungsapparat hinein. Oxbridge-Absolvent:innen, die aus dem obersten 1 Prozent der reichsten Familien Großbritanniens kommen, haben dementsprechend immer noch eine 5-fach höhere Chance, später eine Eliteposition zu erreichen, als andere Absolvent:innen derselben Universitäten (S. 147).
„So what?“
Die empirischen Ergebnisse von Friedman und Reeves dokumentieren mit großer Akribie den Fortbestand von starken Ungleichheitsstrukturen in einer Gesellschaft, die kürzlich immerhin eine aus der Arbeiterbewegung entstandene Partei in die Regierung wählte. Freilich ließe sich fragen, ob sich das Leben der übrigen britischen Bevölkerung mit einer proportionalen Repräsentation in den Eliten verbessern würde. Arbeiterkinder, Frauen und nichtweiße Personen in Elitepositionen weisen aufgrund ihrer eigenen Diskriminierungserfahrungen eine höhere Sensibilität für soziale Fragen auf, so die diesbezügliche Argumentation der Autoren (S. 156 ff.). Die aus diesen Gruppen rekrutierten Eliten seien deshalb im Vergleich zu weißen Männern aus wohlhabenden Familien beispielsweise eher dazu bereit, politische Maßnahmen wie höhere Steuern für Reiche zu akzeptieren, um den Sozialstaat auszubauen.
Eine Limitation, die den Autoren auch bewusst ist, bleibt bestehen: Friedman und Reeves untersuchen nur die in den Umfragen angegebenen Einstellungen und nicht das tatsächliche Handeln der Eliten. Sie interessieren sich gemäß ihrer sehr von Bourdieu geprägten Perspektive jedoch ohnehin primär für die symbolische Ordnung, welche die in der Elitenstruktur manifestierten Ungleichheitsbeziehungen legitimiert. Deshalb beschäftigten sie sich auch eingehend mit den kulturellen Distinktionsstrategien der untersuchten Eliten, etwa den Hobbys, die im Who’s Who gelistete Personen in ihrem Profil hinterlegen können (S. 64 ff.). Während die dominanten Freizeitbeschäftigungen im ausgehenden 19. Jahrhundert noch eindeutig an größeren Landbesitz gebunden waren (Jagen, Reit- und Wassersport), reflektierten sie ab den 1920er-Jahren zunehmend den Geschmack eines städtisch-industriellen Bürgertums, das sich durch den Konsum anspruchsvoller Kultur von anderen Klassen abgrenzte (Theater, Oper, klassische Musik, Literatur, Kunst). Für die vergangenen Jahre lässt sich eine erneute Veränderung feststellen: Statt exklusiver Hochkultur dominieren mittlerweile allgemeinere Vorlieben wie Fußball schauen, Bier trinken oder Zeit mit der Familie verbringen. Anders als bei der Ablösung des Landadels durch das Großbürgertum geht der kulturelle Wandel diesmal jedoch nicht mit einem substanziellen Wandel in der Zusammensetzung der Elitenstruktur einher, sondern im Gegenteil mit insgesamt wachsender ökonomischer Ungleichheit in der britischen Gesellschaft. Friedman und Reeves deuten die habituelle Anpassung der Eliten an die Arbeiterklasse als eine mehr oder weniger bewusste Strategie, um ein Legitimationsdefizit symbolisch auszugleichen (S. 39 ff.). Zahlreiche Interviewausschnitte, in denen die befragten Eliten teils krampfhaft versuchten, die eigene soziale Herkunft irgendwie mit der Arbeiterklasse in Verbindungen zu bringen – und sei es durch den Verweis auf einen Urgroßvater (S. 2) – bestätigen diesen Eindruck. Insgesamt lässt sich also resümieren: Die angestammten Eliten Großbritanniens sind nach wie vor stark privilegiert, tragen ihre Sonderrechte und Vorteile aber nicht mehr wie einst selbstbewusst vor sich her.
Eine Renaissance der Elitenforschung?
Friedman und Reeves versuchen, Statusreproduktion soziokulturell zu erklären und lassen dafür die politökonomischen Strategien von Eliten weitgehend außen vor. Hierbei gehen sie wie die Mehrheit der aktuell boomenden angloamerikanischen Elitenforschung wohl davon aus, dass die ökonomischen Aspekte globaler Ungleichheitsproduktion seit Thomas Piketty im Wesentlichen geklärt sind.[2] Die englischsprachige Elitesoziologie konzentriert sich dementsprechend eher auf Fragen der Legitimitätsproduktion.[3] Als sich die Sozialstrukturanalyse allgemeinen Bevölkerungsumfragen zuwandte, gerieten die Eliten aus dem Blick (vgl. S. 13). Vor dem Hintergrund wachsender globaler Ungleichheiten sind sie allerdings wieder eine wichtige Untersuchungspopulation – zumindest in der englischsprachigen Soziologie.
Bei der Lektüre des Buches stellt sich unweigerlich die Frage, welche Perspektiven ähnlich ambitionierte Forschungsprojekte zu deutschen Eliten hätten. In Deutschland tun sich im Vergleich zum Vereinigten Königreich wohl einige praktische Probleme im Feldzugang auf, schließlich gibt es kein Pedant zum Who’s Who. Zudem gelten insbesondere deutsche (Vermögens-)Eliten als öffentlichkeitsscheu. Anders als in Großbritannien gab es im deutschsprachigen Raum historisch keine kulturell dominante öffentliche Inszenierung privilegierter Großbürgersöhne als Gentleman. Und schließlich ist in Deutschland die Wertigkeit der Abschlüsse verschiedener Schulen und Universitäten bei Weitem nicht so stratifiziert wie im angloamerikanischen Raum.[4] Exzellenzinitiativen zum Trotz – mit Oxbridge oder Eton vergleichbare sektorübergreifende Eliteschmieden existieren hierzulande schlicht nicht.
Dennoch sollten wir nicht glauben, in Deutschland herrsche keine krasse Ungleichheit im Zugang zu Elitenpositionen. Die Mechanismen funktionieren nur anders, etwa über die teils bis vor den ersten Weltkrieg zurückreichende familiäre Vererbung von Unternehmensbesitz.[5] Insbesondere Michael Hartmann verwies immer wieder auf die Bedeutung der sozialen Herkunft für die Elitenformation. Gemäß seinen letzten Daten über die größten deutschen Unternehmen stammen „mehr als vier Fünftel der Vorstandsvorsitzenden aus Familien des Bürger- oder des Großbürgertums, die in den Geburtsjahren der Manager ungefähr 4 % der Bevölkerung ausmachten“.[6] Born to Rule erinnert deutsche Leser:innen also nicht zuletzt auch an die Lücke, die seit Hartmanns Emeritierung in der hiesigen (Eliten-)Soziologie bis heute besteht.
Fußnoten
- Für das verwendete Klassifikationssystem ethnischer Gruppen des britischen Zensus siehe Richard Laux, 50 Years of Collecting Ethnicity Data, in: History of Government, 7.3.2019.
- Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, übers. von Ilse Utz und Stefan Lorenzer, München 2014.
- Shamus Rahman Khan verfasste eine vielbeachtete Ethnografie über die Privatschule und US-Eliteschmiede St. Paul’s, die ihre privilegierten Schüler heutzutage dahingehend sozialisiert, dass sie ihren späteren Eintritt in Elitepositionen nicht mehr als ein Anrecht verstehen, sondern als etwas, das sie sich erarbeitet haben. Ders., Privilege. The Making of an Adolescent Elite at St. Paul's School, Princeton, NJ 2021. Rachel Sherman zeichnete nach, wie New Yorker Hochvermögende zunehmend emotionale Probleme damit haben, ihren unverhältnismäßigen Reichtum vor sich selbst zu rechtfertigen. Dies., Uneasy Street. The Anxieties of Affluence, Princeton, NJ 2017. Lauren A. Rivera untersuchte den Rekrutierungsprozess in hochbezahlte Berufsfelder und entschlüsselte, wie diese darauf angelegt sind, unter dem Deckmantel der Leistungsgerechtigkeit Kandidat:innen aus privilegierten sozialen Schichten durchzuwinken. Dies., Pedigree. How Elite Students Get Elite Jobs, Princeton, NJ 2016.
- Dieser Befund gilt auch für die digitalen Speerspitzen der deutschen Wirtschaftselite, die weiterhin an einer Vielzahl von Massenuniversitäten ausgebildet werden. Siehe hierzu Lion Hubrich / Philipp Staab, Eliten der Digitalisierung. Führungswechsel in der deutschen Wirtschaft?, in: Berliner Journal für Soziologie 34 (2024), 3, S. 309–337, hier S. 325.
- Daria Tisch / Emma Ischinsky, Top Wealth and Its Historical Origins. An Analysis of Germany’s Largest Privately Held Fortunes in 2019, in: MPIfG Discussion Paper (2023), 1.
- Michael Hartmann, Nichts Neues an der Spitze der Großunternehmen!? Die deutsche Wirtschaftselite zwischen 1970 und 2020, in: Berliner Journal für Soziologie 30 (2020), 3–4, S. 347–368, hier S. 359.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Bildung / Erziehung Familie / Jugend / Alter Gruppen / Organisationen / Netzwerke Soziale Ungleichheit Sozialer Wandel Sozialstruktur Wirtschaft
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