Michael Wutzler | Rezension | 25.05.2023
Die Ehe als spezifische Lebensform?
Rezension zu „Die Ehe in Deutschland. Eine soziologische Analyse über Wandel, Kontinuität und Zukunft“ von Rosemarie Nave-Herz

Ungeachtet der sinkenden Eheschließungszahlen während der Corona-Pandemie zeigen unzählige TV-Shows rund ums Thema Heiraten sowie Posts in sozialen Medien, Zeitungsserien oder Ausstellungen in Museen, dass Hochzeiten und Ehe nach wie vor Themen der Gegenwart sind. Da passt es, dass Rosemarie Nave-Herz, die prägende Figur der deutschen Ehesoziologie der 1980er- bis Anfang der 2000er-Jahre, nun eine einführende und gebündelte Übersicht zur Ehe in Deutschland vorgelegt hat. Zwar gibt es aktuellere soziologische Einzelstudien sowie Sammelbände, seit Langem fehlt es jedoch an einem Überblickswerk zum gegenwärtigen Stand der Ehe in Deutschland. Gerade vor dem Hintergrund der führenden Rolle, die die Autorin im wissenschaftlichen Diskurs zum Thema vormals spielte, ist interessant, wie Nave-Herz ihre Erkenntnisse in die Gegenwart überträgt und wie sie aktuelle Trends aufgreift.
Nave-Herz geht auf übersichtlichen 191 Seiten und in 14 Kapiteln auf vielfältige Aspekte rund um Ehe, Eheschließung und Eheleben ein: ausgehend von einer historischen Betrachtung ihrer Entstehung über Ehemotive und rechtliche Rahmenbedingungen bis hin zu Themen des Ehealltags, der Sexualität und der Sorgearbeit, aber auch zu Gewalt in der Ehe und schließlich zu Scheidungen. Neben dieser Fülle an Themen weist das Buch in thematischer, konzeptioneller und methodischer Hinsicht einige Leerstellen auf und lässt dadurch Anknüpfungsmöglichkeiten an gegenwärtige Debatten vermissen.
In der Einführung stellt Nave-Herz eine soziologische Beschreibung der Ehe in Aussicht, welche sie erstmals als „eigenständige Lebensform“ analysiert (S. 9). Dabei basieren ihre Ausführungen auf strukturfunktionalistischen und systemischen Prämissen, die zum Teil jedoch nur beiläufig und allgemein erläutert werden: „Mit der Verwendung des Begriffes ‚System‘ soll hier eine Forschungsstrategie angekündigt werden, die darin besteht, etwas als System zu betrachten. Dies bedeutet, dass wir einen bestimmten Bereich als einen Komplex von Elementen, Beziehungen, Interaktionen, Wechselwirkungen usw. thematisieren und analysieren.“ (Fußnote 18 auf S. 52) Die Autorin definiert die Ehe als System „mit Spezialisierung auf emotionale und sexuelle Bedürfnisbefriedigung“ (S. 52). Diese Festlegung bedarf in konzeptioneller Hinsicht zugleich einer Abgrenzung zur Familie und zu nichtehelichen Formen der (Paar-)Beziehung. Denn mit der zunehmenden gesellschaftlichen Anerkennung von Paaren ohne Trauschein, so gesteht Nave-Herz ein, wird der Monopolanspruch der Ehe auf diese gesellschaftliche Funktion infrage gestellt – und dennoch erkennt die Autorin nichteheliche Paarbeziehungen nicht als funktional äquivalent an. So gängig die von ihr angeführte grundlegende Unterscheidung von der Liebe als ein Verweis auf das Jetzt respektive den Moment und der Ehe auf das Morgen und damit die Dauerhaftigkeit und Konstanz (S. 57) sein mag, so wenig überzeugend ist ihr Versuch, der Ehe in ihrer staatlich-institutionellen Form generalisierend eine Bedürfnisbefriedigung zuzuschreiben, die sich grundlegend von der in nichtehelichen, intimen (Paar-)Beziehungs- und Familienformen unterscheidet.
Kapitel 1 (S. 12–14) fasst sechs essenzielle Kriterien der Ehe zusammen (S. 12 f.): Bei ihr handele es sich um eine soziale Institution, die rechtlich verfasst unter öffentlichem Schutz stehe; sie sei eine juristische Norm lebenslänglicher Solidarität; sie werde öffentlich bekundet und zeremoniell gefeiert; sie definiere familiale Rollen und Beziehungen zwischen Herkunftsfamilien neu; sie bestehe aus zwei („überwiegend gegengeschlechtlich[en]“, S. 13) Personen und verweise auf Familie, mithin auf eigene Kinder und die Integration in die Herkunftsfamilie des:der Partners:in.
Kapitel 2 (S. 15–35) und 3 (S. 36–51) beschreiben den Bedeutungswandel der Ehe ausgehend von christlichen Idealen über ihre Verstaatlichung im 19. Jahrhundert, die Dominanz des bürgerlichen Eheideals Mitte des 20. Jahrhunderts (inklusive dessen gesetzlicher Fixierung) und der rechtlichen De-institutionalisierung[1] in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Tatsächlich wurden nicht nur rechtliche Regularien und damit patriarchale Strukturen, die mit der staatlichen Ehe institutionalisiert waren, abgebaut. Denn die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare hat den Kreis an Beziehungen, die inzwischen mit der staatlichen Ehe erfasst werden können, erweitert. Dass die Autorin die Gegengeschlechtlichkeit der Ehepartner:innen (S. 13) derart betont, scheint vor diesem Hintergrund mindestens fraglich.
Die von Nave-Herz angeführten Kriterien führen zu einem engen Verständnis der Ehe als staatlicher Institution, in dessen Folge die Ehe auf rechtliche Regulierungen einer intimen Beziehung und das Knüpfen rechtlich-familiärer Bande reduziert wird, Aushandlungsprozesse auf Beziehungsebene geraten an dieser Stelle eher in den Hintergrund. Die Spannungen und Folgen der staatlichen Regulierung persönlicher Beziehungen, die sich aus der Überlagerung hochemotionaler Bindungen und deren rechtlicher Institutionalisierung ergeben sowie nicht-staatliche Ehen[2] als Alternative werden nicht aufgegriffen.
Obwohl die Autorin in ihren Ehe-Kriterien auch die Bedeutung familialer Beziehungen innerhalb der Ehe hervorhebt, kritisiert sie irritierenderweise nur wenige Seiten zuvor, dass die Ehe soziologisch bisher vor allem mit Blick auf Familie untersucht werde (S. 9). Durch das ganze Buch hindurch wird die Familiengründung als wesentlich für die Schließung einer Ehe dargestellt (S. 47 ff.), was insbesondere im umfangreichen Abschnitt zur kinderlosen Ehe (Kapitel 6.4) oder zu den subjektiven Ehemotiven (etwa Kapitel 3.2, S. 45 f.) deutlich wird. Zudem fasst Nave-Herz das „Ehesystem“ ausdrücklich als ein Subsystem von „Familiensystemen“ (S. 167), womit sie die Ehe in die Familie einordnet. In Bezug auf die Ehemotive verpasst es die Autorin, nicht nur die Vielfalt und paarspezifische Verwobenheit der Motive für eine Eheschließung, wie verschiedene Studien sie aufzeigen,[3] sondern auch die Binnendifferenzierung der kindorientierten Eheschließung[4] zu skizzieren, die sie als entscheidend herausgreift. Darüber hinaus blendet Nave-Herz eine Vielzahl aktueller ehesoziologischer Arbeiten aus, welche die Ehe als paarsoziologisches Phänomen verhandeln.
Empirisch zeigt sich zwar, dass nichteheliche Beziehungen eher kinderlos bleiben als eheliche, doch dass die Familiengründung längst nicht mehr an den Paarstatus oder die Ehe gebunden ist,[5] findet bei Nave-Herz dennoch keinerlei Erwähnung. Neben dem Wunsch nach Kindern postuliert die Autorin als Differenzierungsmerkmal der bedürfnisbefriedigenden Funktion der Ehe (Kapitel 4, S. 52–59), dass von nichtehelichen Paaren „keine dauerhafte Partnerbeziehung angestrebt“ (S. 54) werde. Nicht nur gibt es immer mehr Paare, die ohne Ehe dauerhaft zusammenleben, auch die Scheidungsrate ist weiterhin hoch – ein Umstand, auf den die Autorin selbst verweist. Dass es sich hierbei um eine Verkürzung handelt, zeigt sich beispielhaft daran, wie Nave-Herz ihre Vorstellung von der Gründung einer nichtehelichen Paarbeziehung umschreibt:
„So werden zunächst ein paar persönliche Gegenstände in der Wohnung des Partners bzw. der Partnerin deponiert, dann hält man sich vornehmlich nur noch in einer Wohnung auf, bis man sich schließlich fragt, warum man zweimal Miete zahlt. Schließlich gibt man eine Wohnung auf.“ (S. 55)
Warum wird die Gründung der Beziehung an das Zusammenziehen gebunden? Das Modell des living-apart-together ist eine in mittlerweile zahlreichen Studien aufgegriffene und längst gängige Konstellation von Paaren.
Weiterhin behauptet die Autorin: „Die nichteheliche Lebensgemeinschaft kennt […] keinen Verweisungszusammenhang. Sie verweist nicht über sich selbst hinaus.“ (S. 57) Das ist mitnichten der Fall, denn schon wenn ein Paar gemeinsam ein Kind bekommt, verweist dies über das Paar hinaus. Zu behaupten, dass erst durch die rechtliche Verankerung der Schwägerschaft – unabhängig von der gelebten paarspezifischen Praxis – eine Beziehung zur Herkunftsfamilie des:der Partners:in etabliert wird, geht schlichtweg weit an der sozialen Wirklichkeit der meisten Paare vorbei. Weiterhin behauptet Nave-Herz, dass es nur auf Paarbeziehungen bezogene Rechtsprechungen gäbe, jedoch keine auf nichteheliche Paare bezogene Gesetze existierten (S. 59). Ungeachtet des unterschiedlichen Institutionalisierungsgrades von Paarbeziehungen verdeutlicht bereits die Rechtslage zur sexuellen Selbstbestimmung oder des Sorgerechts, dass diese Behauptung dem tatsächlichen rechtlichen Rahmen nichtehelicher Paarbeziehungen nicht gerecht wird. Spannend ist in Bezug auf das Recht und Eheschließungen hinsichtlich der Praxis von Paaren vielmehr, dass emotionale Bindungen einer anderen Logik folgen als dies bei der Formalisierung des Rechts der Fall ist. Mit der Eheschließung obliegt es den Individuen in Paarbeziehungen dieses Spannungsverhältnis von zugleich emotionaler und rechtlicher Handlungsaufforderung explizit auszuhandeln.[6]
Kapitel 6 (S. 78–106) greift die Eheschließung und Hochzeitsfeier als Übergangsritual auf, beides wird im Vergleich zur ausführlichen Darstellung von kinderlosen Ehen, in denen Nave-Herz neben Statistiken sowie Motiven auch auf die Reproduktionsmedizin eingeht, jedoch eher flüchtig behandelt. Die Kapitel 7 bis 11 (S. 107–135) fallen auch aufgrund ihrer Kürze gegenüber den anderen Abschnitten ab. Dabei bleibt teils unklar, warum die Themen (etwa Ehephasen, Liebesheirat, Sexualität, eheliches Gespräch, Gewalt) aufgegriffen, dann aber nur grob skizziert werden. In Bezug auf die eheliche Sexualität (Kapitel 9, S. 123–126) wird der Einstellungswandel bei Frauen thematisiert: Galt Sex für sie vormals als Pflicht gegenüber dem Ehemann (respektive als Recht des Mannes) und Mittel zur Erfüllung des Kinderwunsches soll er heute der Befriedigung eigener Bedürfnisse dienen (S. 123). Ebenfalls behandelt wird Sexualität im Alter, außerehelicher Sex wird jedoch vor allem als Fremdgehen und damit stark verkürzt dargestellt. Auch die Ausführungen zur innerehelichen Arbeitsteilung und zur Sorgearbeit (Kapitel 12, S. 136–145) reichen leider nicht an die aktuelle Care-Debatte[7] heran. Zwar wird der Wandel von der Hausfrauenehe zum Doppelversorger:innenmodel skizziert, die dahinterliegenden gesellschaftlichen Strukturen jedoch kaum aufgegriffen. Wie das Eherecht Ungleichheit zwischen den Ehepartner:innen etwa durch das Ehegattensplitting reproduziert, wird ebenfalls nicht diskutiert.
In Bezug auf Ehescheidungen (Kapitel 13, S. 146–160) vermutet Nave-Herz zukünftig einen weiteren Anstieg der Scheidungszahlen (S. 163). Als ausschlaggebenden Grund für diese Annahme bringt sie den „gestiegenen Anspruch an die Qualität der Ehepartnerbeziehung“ (ebd.) an. Damit macht sie deutlich, dass die emotionale und sexuelle Bedürfnisbefriedigung eben nicht mit der Dauerhaftigkeit oder rechtlichen Institutionalisierung einer Paarbeziehung gleichgesetzt werden kann. Widersprüchlich ist dies schon deshalb, weil auch das im Buch abgebildete Diagramm zu den Scheidungsziffern – die absoluten Zahlen sind bei sinkenden Eheschließungszahlen wenig aussagekräftig – vom Bundesamt für Statistik (S. 175) seit 2005 eine sinkende Scheidungsquote zeigt. Der Komplexität von Scheidungs(-hinter-)gründen wird das Kapitel schlichtweg nicht gerecht.[8]
Im abschließenden Kapitel 14 (S. 161–167) fragt Nave-Herz nach der Zukunft der Ehe. In ihrer Erläuterung bietet sie mit ihrer Idee von der Ehe als Institution mit „psychische[r] Entlastungsfunktion“ (S. 163) eine Verknüpfung der rechtlichen Institutionalisierung und der subjektiven Bedürfnisbefriedigung an. Die Ehe entspräche einer Außenorientierung, also einer öffentlichen Sichtbarkeit des Paares, die die Sicherheit und Verbindlichkeit der Paarbeziehung stärke (S. 163). Die hiermit verbundene Annahme der Autorin lautet, dass die Beziehung schwerer aufzukünden sei, wenn sie öffentlich dokumentiert ist. Dies macht die Ehestabilität von der sozialen Sanktionierung abhängig und verortet sie außerhalb des Paares. Fraglich ist dies nicht nur, da Scheidungen gesellschaftlich immer stärker akzeptiert sind, sondern auch, weil soziale Sanktionierungen milieuspezifisch unterschiedlich ausfallen. Und nicht zuletzt gibt es gar keine Pflicht, Trauzeug:innen mit vor den Altar zu nehmen: Die öffentliche Bekundung der Ehe – auch wenn sie verwaltungsbürokratisch dokumentiert ist – muss nicht über eine standesamtlichen Trauung hinausgehen.
Schließlich lautet das Fazit von Nave-Herz: „Weil aber weiterhin von ihr die Erfüllung bestimmter sozialer Bedürfnisse erwartet wird, wird sie als spezifische Lebensform […] weiterhin erhalten bleiben.“ (S. 167) Doch offen bleibt: Wenn die „emotionale und sexuelle Bedürfnisbefriedigung“ zentral für das System Ehe ist, in welcher Weise hängt sie mit der „psychische[n] Entlastungsfunktion“ zusammen? Zudem wäre zu fragen, in welchem Sinne subjektive Befriedigung und psychische Entlastungsfunktion soziale Bedürfnisse sind, die die Ehe als spezifische Lebensform erhalten? Gleichwohl zuzustimmen ist, dass die staatliche Ehe gerade aufgrund individualisierender Sinnzuschreibungen ihre Attraktivität beibehält.[9] Auf konzeptioneller Ebene bliebe zu fragen, wie individuelle Erwartungen die staatliche Ehe zu einer spezifischen Lebensform und einem gesellschaftlichen Funktionssystem werden lassen.
Problematisch ist durch das Buch hinweg die empirische Grundlage, die sich an vielen Stellen aus den Studien der Autorin aus den 1980er- und 1990er-Jahren speist, bei denen das Sample meist aus evangelischen Paaren bestand. Zudem verweist Nave-Herz sehr häufig auf Statista, ein Internetportal, das Statistiken aus unterschiedlichsten Quellen versammelt. Es ist deshalb teils nicht ersichtlich, wer die Daten, auf die die Autorin sich bezieht, zu welchen Zwecken erhoben hat. Wiederholt wird auch eine Heiratsstudie von kartenmacherei.de zitiert. Die mit einer solchen Datengrundlage verbundenen Probleme versucht Nave-Herz mit dem Verweis zu übergehen, dass sie aus Platzgründen nicht genauer auf die methodischen Aspekte der Studie eingehen könne (Fußnote 16, S. 46). In einigen Abschnitten fehlen darüber hinaus Quellenangaben: Zur Differenzierung von nichtehelichen Beziehungen verweist sie beispielsweise auf Günter Burkart, ohne jedoch eine Studie anzugeben (S. 53). Damit entsprechen weder die empirischen Quellen noch die Nachprüfbarkeit der Datengrundlage eines Großteils der Verweise wissenschaftlichen Standards. Problematisch ist dies auch deshalb, weil der Verlag mit dem Buch vor allem Studierende und Lehrende ansprechen möchte.
Darüber hinaus sind einige Formulierungen fragwürdig. So ist nicht nur problematisch, dass wiederholt auf Gegebenheiten „bei uns“ Bezug genommen wird. Auch generalisierende Feststellungen wie etwa jene, dass Zwangsehen in Deutschland ausschließlich auf Migrationsprozesse zurückzuführen seien (S. 74), sind kulturell und historisch ebenso undifferenziert wie verkürzt. Mit derartigen Formulierungen knüpft Nave-Herz eher an rassistische Vorurteile an und wird der Diversität des Ehelebens in Deutschland nicht gerecht. Immer wieder gibt es zudem unregelmäßig starke typografische Hervorhebungen, deren Systematik nicht immer ersichtlich ist.
Der Anspruch, sowohl Wandel, Kontinuität und Zukunft der Ehe zu behandeln, wird bereits im Vorwort mit dem Argument eingeschränkt, dass aufgrund der Datenlage nicht auf gleichgeschlechtliche und binationale Ehen oder Wiederverheiratung eingegangen werden könne (S. 11). Ist man mit den Arbeiten von Nave-Herz vertraut, überrascht es nicht, dass katholische und evangelische Ehen im Fokus stehen, auf nicht-konfessionelle eher am Rande, auf muslimische kaum und andere religiöse Eheschließungen gar nicht eingegangen wird. Einzelne thematische Abschnitte weisen durchaus inhaltliche und argumentative Tiefe auf, beispielsweise werden bezüglich der Partner:innenwahl in Kapitel 5 verschiedene Modelle, unterschiedliche soziale und familiäre Bedingungen und Beschränkungen aufgegriffen sowie auf die Debatten zur Ehemündigkeit und zum Inzesttabu eingegangen. Aber auch hier zeigen sich Schlagseiten. Beispielsweise wird zwar das das Inzesttabu bestätigende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zitiert, jedoch ohne die Punkte des Sondervotums des Vizepräsidenten Winfried Hassemer aufzugreifen, der unter anderem die eugenische Argumentation kritisierte.
Nave-Herzens Buch ist in verständlicher Sprache geschrieben, rechtliche Aspekte zu unterschiedlichen Themen sind sinnvoll und anschaulich eingewoben. Die Umsetzung des Anspruchs, die Ehe als eigenständige Lebensform zu untersuchen, überzeugt jedoch nicht. Auch wenn viele Aspekte zur Ehe unterschiedlich differenziert aufgearbeitet sind, lässt das Buch in der Gesamtschau Aktualität vermissen. Zentrale Themen wie etwa gleichgeschlechtliche Ehen werden schlichtweg nicht behandelt. Eine kritische Reflexion der regulativen wie diskriminierenden Effekte des Rechts bleibt weitestgehend aus. Dem konzeptionellen Fundament fehlt es an Kohärenz. Alles in allem wirkt das Buch aus der Zeit gefallen, die Ehe selbst ist es nicht. Forschungsarbeiten zu Ehe, Familie und Paarbeziehungen sind sowohl thematisch wie theoretisch vielschichtiger als von der Autorin dargestellt. Aufgrund der konzeptionellen Unschärfe und problematischen empirischen Grundlage ist das Buch weder für Einsteiger:innen noch für Studierende und Forschende zu empfehlen. Interessierten Leser:innen seien eher unterschiedliche aktuelle Einzelstudien ans Herz gelegt.[10]
Fußnoten
- Andrew J Cherlin, The deinstitutionalization of American marriage, in: Journal of Marriage and Family 66 (2004), 4, S. 848–861; Sean Lauer / Carrie Yodanis, The deinstitutionalization of marriage revisited: A new institutional approach to marriage, in: Journal of Family Theory & Review 2 (2010), 1, S. 58–72.
- U.a. Clare Chambers, Against marriage. An egalitarian defence of the marriage-free state, Oxford 2017.
- U.a. Norbert F. Schneider / Heiko Rüger, Value of Marriage. Der subjektive Sinn der Ehe und die Entscheidung zur Heirat, in: Zeitschrift für Soziologie 36 (2007), S. 131–152.
- Jennifer A. Holland, The timing of marriage vis-à-vis coresidence and childbearing in Europe and the United States, in: Demographic Research 36 (2007), S. 609–626.
- Julia Teschlade et al. (Hg.), Elternschaft und Familie jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit, Sonderband 5 der Zeitschrift GENDER, Opladen 2020.
- Vgl. Michael Wutzler, Zwischen Absicherung, Irrelevanz und Infragestellung der Liebe: Deutungen heiratender Paare in der Thematisierung und Aushandlung von Eheverträgen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 41 (2021), 1, S. 97–133.
- U.a. Gabriele Winker, Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld 2015; Sylka Scholz / Andreas Heilmann (Hg.), Caring Masculinities? Männlichkeiten in der Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften, München 2019.
- U.a. Dimitri Mortelmans (Hg.), Divorce in Europe. New Insights in Trends, Causes and Consequences of Relation Break-ups, Cham 2020.
- Carsten Horn, „Und jetzt hat man eben manchmal das Gefühl, dass die Entscheidung zur Ehe ne Entscheidung gegen den gesellschaftlichen Mainstream is“. Ehe im Zeitalter der Singularisierung, in: Michael Wutzler / Jacqueline Klesse (Hg.), Paarbeziehungen heute: Kontinuität und Wandel, Weinheim/Basel 2021, S. 123–149.
- Neben den bereits zitierten Studien bspw. auch: Oliver Arránz Becker / Daniel Lois, Zum Zusammenwirken von Normen und Anreizen bei Fertilitätsentscheidungen. Die Bedeutung religiöser Orientierungen sowie wahrgenommener Kinderkosten- und -nutzenaspekte für die Familiengründung, in: Zeitschrift für Soziologie 46 (2017), 6, S. 437–455; Sushila Mesquita, Ban Marriage! Ambivalenzen der Normalisierung aus queer-feministischer Perspektive, Wien 2011; Daniel Loick, Verrechtlichung und Politik, in: Uwe Bittlingmayer / Alex Demirović / Tatjana Freytag (Hg.), Handbuch Kritische Theorie. Wiesbaden 2019, S. 857–872; Günter Burkart, Soziologie der Paarbeziehung. Eine Einführung, Wiesbaden 2018.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Diversity Familie / Jugend / Alter Gender Lebensformen Recht Sozialer Wandel
Empfehlungen
Im Griff des Affekts
Rezension zu „Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ von Stephan Lessenich
„Das Gleichheitsversprechen der Demokratie läuft empirisch für sehr viele Menschen ins Leere“
Fünf Fragen an Naika Foroutan zum Thema des diesjährigen DGS-Kongresses
Eine politische Angelegenheit
Rezension zu „Politiken der Reproduktion. Umkämpfte Forschungsperspektiven und Praxisfelder“ von Marie Fröhlich, Ronja Schütz und Katharina Wolf (Hg.)