Tobias Schädel | Rezension |

Die Moral der Erkenntnis

Rezension zu „Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens“ von Miranda Fricker

Miranda Fricker:
Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens
Mit einer Einführung von Christine Bratu und Aline Dammel, aus dem Englischen übersetzt von Antje Korsmeier
Deutschland
München 2023: C.H. Beck
278 S., 34 EUR
ISBN 978-3-406-79892-4

Wissen und Wahrheit sind keine losgelösten Entitäten, die in einem idealisierten Akt der Erkenntnis frei von profanen Fehlerquellen der empirischen Wirklichkeit einfach in der Welt zu entdecken sind. Vielmehr müssen sie in historisch präfigurierten, von Machtverhältnissen durchzogenen sozialen Praktiken erst mühevoll hervorgebracht werden– ein Umstand, der sicher zu den unausweichlichen Tatsachenbeobachtungen gehört, die am gedanklichen Ausgangspunkt einer soziologisch aufgeklärten Erkenntnistheorie zu stehen haben. Die politische Bedeutung dieser ‚Seinsgebundenheit‘ von Erkenntnis ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur in einschlägigen poststrukturalistischen und postkolonialen Kritiken dominanter Wissenspraktiken, sondern insbesondere auch in feministischen Theorieansätzen herausgearbeitet worden. Letzteren kommt dabei wohl das besondere Verdienst zu, mit Konzepten wie der ‚sozialen Situiertheit‘ des Wissens[1] oder der ‚Intersektionalität‘[2] von Diskriminierungserfahrungen ein sensibles Vokabular speziell für ethische Problemkomplexe, die sich auch in und durch gesellschaftliche(n) Wissens- und Wahrheitspraktiken entfalten, geschaffen zu haben.

Mit der gerade bei C.H. Beck erschienenen Übersetzung von Miranda Frickers längst zum Klassiker avancierten Buches Epistemic Injustice[3] wird nun einer der konzeptionell einschlägigsten Beiträge zu diesem politisch brisanten Großthema ganze sechzehn Jahre nach dem Erscheinen des Originals endlich auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Dass es bis zur Übersetzung so lange gedauert hat, überrascht umso mehr als aus Frickers überzeugender wie ethisch aufwühlender Grundthese – nämlich dass systematische identitätsbasierte Diskriminierungs- und Marginalisierungsdynamiken eine spezifisch erkenntnistheoretische Dimension haben und damit gleichzeitig eine distinkte Form ethisch relevanten Unrechts herbeiführen können – bereits ein umfangreiches und stetig wachsendes Forschungsfeld[4] entstanden ist. Es ist gerade diese philosophische Grenzarbeit, die es Fricker ermöglicht, nicht nur der Liste ethischer Übel in der Welt einen neuen Eintrag hinzuzufügen, sondern dediziert die ethische Konstitution auch des klassisch-analytischen Wissensideals aufzuzeigen. Die große intellektuelle Aufgabe, die Fricker sich in Epistemische Ungerechtigkeit vornimmt, besteht nämlich darin, die ehrwürdige erkenntnistheoretische Tradition der analytischen Philosophie nicht einfach – wie die Autorin in der Einleitung selbst betont (S. 25) – in postmodern-zynischem Überschwang abzuräumen, sondern ihr Schritt für Schritt vor Augen zu führen, wie sehr ihr eigener Wissensbegriff von einer politisch grundierten, ethischen Praxis abhängt: „Voilà – Themen aus dem Bereich der feministischen Philosophie, von denen man einst glaubte, sie seien für die Erkenntnistheorie im engeren Sinne irrelevant, erweisen sich als notwendige Elemente unseres Begriffs des Wissens.“ (S. 17)

Moralphilosophie trifft Machttheorie

Frickers Argumente speisen sich neben der feministischen Theorie beziehungsweise Literatur auch aus der analytischen Moralphilosophie (beispielsweise Bernard Williams, der wohl zu Frickers akademischen Lehrern gezählt werden kann) und Erkenntnistheorie (etwa Edward Craig), enthalten zudem noch Spurenelemente kantischer Aufklärungsphilosophie. Sie zielen im Wesentlichen darauf ab, zwei distinkte Arten epistemischen Unrechts begrifflich darzustellen: Zeugnisungerechtigkeit und hermeneutische Ungerechtigkeit. Diesen beiden Arten von Unrecht stellt Fricker jeweils eine korrespondierende und als individuelles wie kollektives Korrektiv funktionierende Tugend zur Seite, und zwar Zeugnisgerechtigkeit und hermeneutische Gerechtigkeit.[5] Interessant im Zusammenhang mit Frickers feministischer Selbstpositionierung ist die bei beiden Arten von Unrecht mitgeführte Unterscheidung einer allgemeinen und einer speziellen (oder auch: zentralen) Form. Während die allgemeine Form jeweils alle Mitglieder einer Gesellschaft betreffen kann, zeichnet sich die spezielle respektive zentrale Form dadurch aus, dass sie ein systematisches Unrecht für Mitglieder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen bezeichnet, die durch soziale Identitätskonstruktionen und mit ihnen konnotierte, negative Vorurteile konstituiert werden. Durch diese Unterscheidung gelingt es Fricker, eine allgemein-analytische Moralphilosophie parallel zu einer feministischen Gesellschaftskritik zu entwickeln und beide über die Abwägung der Schwere eines begangenen Unrechts zueinander in Beziehung zu setzen. Epistemisches Unrecht kann daher gewissermaßen zufällig jede:n treffen, was die damit verbundene Demütigung der Betroffenen selbstverständlich nicht in Abrede stellen soll.

Die Unterscheidung spezieller und allgemeiner Formen epistemischen Unrechts wird auf konzeptioneller Ebene durch einen machttheoretischen Zugriff auf „die Gesellschaft“ in Gang gebracht, der den sozialen Raum als Ansammlung von individuellen und kollektiven Akteuren fasst, die in einem relationalen Machtgefüge auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind. Daraus resultiert eine Konzeption von sozialer Macht, die einerseits als „Handlungsmacht“ von Akteuren intentional ausgeübt wird, um andere Akteure zu beeinflussen. Andererseits tritt sie als „strukturelle Macht“ auf, die durch historisch gewachsene und gefestigte Relationierungen sozialer Gruppen ganz ohne konkret handelndes Subjekt Machteffekte zeitigt (S. 35). Diese, letztlich auch die konkrete Handlungsmacht umfassende strukturelle Macht ist es, die die konkreten Machtausübungen – seien sie nun aktiv oder passiv, intentional oder strukturell vollzogen – sozial situiert, das heißt, im gesellschaftlichen Gefüge eindeutig verortbar und damit auch benennbar macht. Frickers machttheoretische Basis erlaubt es ihr daher, den sozialen Raum mit einem differenzierten Instrumentarium zu durchmessen und die – für die ethische Betrachtung maßgebliche – Frage zu stellen, wer oder was wem gegenüber Macht ausübt. Die soziale Situiertheit von Macht eröffnet die Möglichkeit, in konkreten Fällen über Fragen von Schuld oder Unschuld, von systematischer oder zufälliger Ungerechtigkeit und so weiter disponieren und begründet urteilen zu können. Gestärkt und theoretisch abgerundet wird die hierdurch gewonnene Urteilsfähigkeit zur Benennung systematisch auftretenden epistemischen Unrechts durch die Idee der „Identitätsmacht“ (S. 39). Hiermit umschreibt die Autorin Machteffekte, die auf der Grundlage kollektiv geteilter, mithin dominanter Begriffe und Imaginationen von sozialen Identitäten ausgeübt werden, die der sozialen Konstruktion gesellschaftlich situierter Gruppen dienen – sowohl in der Fremdwahrnehmung durch andere Gruppen wie auch in deren eigener Selbstwahrnehmung. So gibt es in der Gesellschaft etwa spezifische Vorstellungen davon, was eine Frau „ausmacht“, die das Urteil darüber, wie glaubwürdig von Frauen getätigte Aussagen sind, beeinflussen können. Eines von Frickers oft bemühten Beispielen ist ein einschlägiger Satz aus dem Film Der talentierte Mr. Ripley: „Marge, es gibt weibliche Intuition, und es gibt Fakten.“ (S. 33)

Erkenntnis und Moral: Zwei Ungerechtigkeiten

Mit einer derart entfalteten Machttheorie gewinnt Fricker ein umfassendes analytisches Raster zur Thematisierung identitätsbasierter, sozial situierter Ungerechtigkeiten. Konkret geht es ihr aber um die titelgebenden epistemischen, das heißt, auf kollektive Praktiken der Wissensgenerierung und -verbreitung bezogenen Ungerechtigkeiten. Deren Besonderheit – vor allem in der Spielart der Zeugnisungerechtigkeit – scheint darin zu liegen, dass das begangene Unrecht gewissermaßen Folgen in zwei Richtungen hat: Zum einen schließt es Angehörige bestimmter sozialer Gruppen aufgrund von negativen Identitätsvorurteilen je nach konkretem Kontext in verschiedenen Härtegraden von diesen Praktiken aus und ist damit auf menschliche Subjekte sowie deren Würde gerichtet. Zum anderen entsteht auch ein erkenntnisbezogener Schaden, der sich gewissermaßen gegen das Wissenspraktiken inhärente Ideal vernunftgeleiteter Wahrheitsfindung selbst richtet, werden Wahrheitsfindung und -zirkulation durch die Begrenzung legitimer Sprecher:innen und wahrnehmungsverzerrende Vorurteile doch künstlich und auf ungerechtfertigte Weise beeinflusst.

Im Falle der Zeugnisungerechtigkeit geht es im Wesentlichen um die Glaubwürdigkeit sozial situierter Sprecher:innen in ihrer Eigenschaft als Wissende, die für die Zuhörenden relevante Informationen, Wissensbestände und Erkenntnisse vermitteln können. Durch kollektiv geteilte Vorurteile gegenüber bestimmten sozialen Gruppen kann es daher zu ungerechtfertigten „Glaubwürdigkeitsdefiziten“ (S. 43) kommen, die – wenn sie systematisch, das heißt in allen denkbaren, sozial relevanten Feldern auftreten – die betreffende Person „als Mensch symbolisch entwerten“ (S. 77), weil ihr der Status des Wissenden aberkannt wird: „In seiner Eigenschaft als Wissender verletzt zu werden bedeutet, in einer für den menschlichen Wert wesentlichen Eigenschaft verletzt zu werden.“ (S. 76) Frickers Argumentation hinsichtlich der hermeneutischen Ungerechtigkeit fällt – der spezifischen Natur dieser Form von Unrecht entsprechend – etwas verworrener aus. Sie bezieht sich auf den kollektiv geteilten Vorrat an kulturellen Interpretationsressourcen, die es ermöglichen, individuelle wie gruppenspezifische Erfahrungen auf sprachlicher wie kognitiver Ebene adressier- und kommunizierbar zu machen. Fricker zufolge klaffen in diesen „hermeneutischen Ressourcen“ (S. 206) Lücken, die es tendenziell machtlosen Identitätsgruppen verwehren, ihre spezifischen, für sie jedoch regelrecht existenziell bedeutsamen Erfahrungen nicht nur interpretativ für sich selbst (im Sinne einer Selbsterkenntnis) auszudeuten, sondern diese Erfahrungen auch mit entsprechend elaborierten Begriffen und Konzepten in den kollektiven Vorrat einzuspeisen und ihnen somit erst soziale Realität und politische wie ethische Relevanz zu verleihen. Durch eine solche „hermeneutische Marginalisierung“ (S. 208) entsteht wiederum, wenn sie systematisch auftritt, das Unrecht einer „situierten hermeneutischen Ungleichheit […]: Die konkrete Situation ist so beschaffen, dass das Subjekt nicht in der Lage ist, eine Sache kommunikativ verständlich zu machen, deren sinnvolle Vermittlung für ihn oder sie besonders wichtig ist“ (S. 221) – kurz: Man versteht ganz einfach nicht.

Fricker geht es in ihren Ausführungen – klassisch moralphilosophisch – hauptsächlich um das auf Personen gerichtete epistemische Unrecht. Dennoch bildet auch die auf Erkenntnis im weitesten Sinne bezogene Ungerechtigkeit eine ebenso wichtige wie innovative Argumentationsachse. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in den beiden Tugenden, die als Korrektive in vorurteilsverzerrte Sprech- und Aushandlungssituationen intervenieren sollen. Schließlich gehört es zum wohlverstandenen Eigeninteresse epistemisch aufrichtiger Dialogpartner:innen, die kollektive Wissens- beziehungsweise Interpretationspraxis nicht durch sachfremde oder Deutungsressourcen künstlich verknappende Vorurteile einzuschränken. Dementsprechend sind sowohl Zeugnisgerechtigkeit als auch hermeneutische Gerechtigkeit als „hybride Tugenden“ zu verstehen, da sie „sowohl auf Wahrheit wie auch auf Gerechtigkeit“ (S. 171) als ihren Endzweck gerichtet sein können – in vielen Fällen auf beide gleichzeitig.

Schuld und Sühne

In moralphilosophischer Hinsicht interessant ist Epistemische Ungerechtigkeit insbesondere dann, wenn es darum geht, die in beiden Formen von Ungerechtigkeit entstehende Schuld ethisch zu bemessen. Im Falle der Zeugnisungerechtigkeit hängt die Abwägung der Schuld von zahlreichen subtilen, mitunter schwer zu taxierenden Faktoren ab. Die leitende Frage lautet: Stehen der Person, die einer anderen aufgrund von Vorurteilen ihre Glaubwürdigkeit abspricht, in der konkreten, historisch-kulturellen Situation und eigenen sozialen Situiertheit die entsprechenden Begriffe und Reflexionsinstrumente zur Verfügung, um es eigentlich besser wissen zu können? Lautet die Antwort nein, liegt Frickers Auffassung nach kein in ethisch strengem Sinne schuldhaftes Verhalten vor. Gerade bei der Beurteilung von Situationen, die sich durch eine große historische wie soziale Distanz auszeichnen, sollte der Autorin zufolge eher von einem „Ärger der Enttäuschung“ (S. 147) gesprochen werden – womit die Enttäuschung darüber gemeint ist, dass die eigenen Moralvorstellungen verletzt sind. Im Falle der hermeneutischen Ungerechtigkeit geht Fricker sogar so weit, die Möglichkeit schuldhaften Handelns kategorisch auszuschließen, da sie überhaupt nicht auf intentionale Handlungen zurückgeführt werden könne.

Die Kategorie der Schuld ist in Fällen von epistemischer Ungerechtigkeit daher – von direkter und absichtsvoller Zeugnisungerechtigkeit einmal abgesehen – gemessen an ihrer Tragweite interessanterweise relativ unwichtig. Das liegt wohl auch an der von Fricker vollzogenen Grenzarbeit, bei der die Parallelität ethischer und erkenntnistheoretischer Erwägungen dazu führt, dass beide auf konzeptioneller Ebene ineinander übergehen. Konkret benennbare Schuld liegt entweder erkenntnisbezogen vor und verletzt das Idealbild einer unverzerrten Wahrheitssuche, oder sie entsteht dann, wenn Personen bezüglich ihrer sozialen Identität marginalisiert und aus der sozialen Praxis der Wissensgenerierung ausgeschlossen werden. Da die letztgenannte Schuld wiederum ganz konkret von Wissensbeständen über die soziale Welt abhängt – kritisches Wissen, Reflexionswissen, Tatsachenwissen –, die historisch wie kulturell spezifisch auftreten und darüber hinaus auch in ein und derselben Gesellschaft unterschiedlich verteilt sind, wird ‚Schuld‘ zum Resultat eines hermeneutischen Zirkels, der – wie Fricker schließlich selbst hervorhebt –keine definitiven Schuldzuweisungen zulässt. Entsprechend sind auch die herausgearbeiteten Tugenden eher im Sinne einer selbstreflexiven Sensibilität und ganz dediziert nicht als Bestandteile eines kodifizierten Regelwerkes zu verstehen, die einfach auf konkrete Situationen angewandt werden könnten.

Gerade bei einem philosophischen Buch, das zu großen Teilen der feministischen Tradition verpflichtet ist, überrascht es schließlich, dass die Ebene gesellschaftspolitischer Aktion nur sehr oberflächlich gestreift, ja kaum explizit benannt wird. Nach Einschätzung des Rezensenten mag dies insbesondere Frickers machttheoretischem Zugang geschuldet sein. Letzterer ermöglicht es zwar, spezifische Ungerechtigkeitserfahrungen sozial eindeutig verortbarer Identitätsgruppen kritisch herauszuarbeiten, zugleich zwingt er jedoch dazu, die auf individueller Ebene verortete Tugendethik von einer mit diesem Instrumentarium nur schwer greifbaren Ebene „gemeinschaftliche[n], politische[n] Handeln[s]“ (S. 238) tendenziell abzutrennen. Zu hoffen bleibt wohl letztlich nur, dass ein (mit welchem Tempo auch immer) zunehmender Gewinn an machtsensibler Reflexivität die strukturellen Machtgefüge aufzuweichen vermag, ohne selbst dabei seinen emanzipatorischen Charakter zu verlieren. Für den in dieser Hinsicht schon heute konkret erreichten Status quo lässt sich mit Fricker immerhin das konkrete Ziel definieren, die individuellen Tugenden auch zu „institutionellen Tugenden“ zu machen, „über die zum Beispiel Angehörige der Justiz, der Polizei und der Kriminalverwaltung sowie Arbeitgeber:innen verfügen müssen.“ (S. 240) Immerhin wären damit Radare für epistemisches Unrecht an gesellschaftlich sensiblen und besonders anfälligen Knotenpunkten aufgestellt.

Ein Klassiker mit Gebrauchsspuren

Nach der Lektüre bleibt der Rezensent mit einem zwiegespaltenen Gefühl zurück. Einerseits sind Frickers Darstellungen äußerst eingängig, was insbesondere für die durchweg überzeugend vorgebrachten und detailliert herausgearbeiteten Konzepte der Zeugnisungerechtigkeit, des durch sie verübten epistemischen Unrechts sowie die ihr korrespondierende Tugend gilt. Die hierin aufscheinende Problematik sozialer Gerechtigkeit verdient nicht nur eine entsprechende philosophische wie ethisch-reflexive Würdigung, sondern gibt den Leser:innen überdies bereichernde Impulse für die eigene Lebenspraxis – sicherlich ein Qualitätsmerkmal für jedes Werk, das sich selbst (auch) im Feld der praktischen Philosophie verortet. Besonders erwähnenswert ist zudem, dass es Fricker gelungen ist, nicht nur die ethischen und sozialen – und damit realen – Vorbedingungen des traditionellen Wissensbegriffs in der analytischen Philosophie kenntlich zu machen, sondern auch das intellektuelle Potenzial feministischer Theorien mustergültig zu präsentieren. In diesem Zusammenhang sei auch auf den in der Übersetzung glücklicherweise erhalten gebliebenen Schreibstil der Autorin hingewiesen, der eindeutig der Tradition der analytischen Philosophie entstammt. Es ist nicht zuletzt jener Schreibstil, der dem Text seinen beinahe durchgängig erkennbaren, stringenten und konsequenten Charakter verleiht.

Andererseits sind auch Mängel zu benennen. Hierzu gehören vor allem die Ausführungen zur hermeneutischen Ungerechtigkeit, die im Vergleich zur über mehrere Kapitel hinweg sehr ausführlich entfalteten Zeugnisungerechtigkeit, in nur einem Kapitel zusammengedrängt, ja regelrecht eingepfercht worden sind. Dieses Ungleichgewicht macht sich leider auch auf theoretisch-konzeptioneller Ebene bemerkbar. Die Autorin arbeitet die einzelnen Punkte Konzept – Unrecht – Tugend derart schnell ab, dass die gesamte Argumentation einen Eindruck des Halbgaren vermittelt. Alle möglichen moralisch-ethischen sowie sozialtheoretischen Begriffe scheinen schon allein dadurch geklärt und gerechtfertigt zu sein, dass ihnen das Adjektiv ‚hermeneutisch‘ vorgesetzt wird. Es scheint, als hätte das Konzept der hermeneutischen Ungerechtigkeit von mehr analytischer Schärfe profitieren können. So verstrickt sich die Autorin – zumindest oberflächlich – teils gar in Widersprüche, etwa wenn sie ausführt, dass sich hermeneutische Lücken im kollektiven Deutungsvorrat durch eine Begriffs- respektive Konzeptlosigkeit ‚bemerkbar‘ machen würden, die nicht ausgedrückten Bedeutungen aber trotzdem schon implizit vorhanden sein müssen. Genauso wird zwar die Möglichkeit einer ethisch begründbaren Schuld ausgeschlossen, doch gleichzeitig verführt die machtheoretische Basis, die im Falle der Zeugnisungerechtigkeit noch relativ reibungslos funktioniert hat, dazu, zu mutmaßen, dass die Mächtigen eben doch ein Interesse an der Aufrechterhaltung hermeneutischer Lücken haben, die durch die Erfahrung marginalisierter Gruppen geschlossen werden könnten. Das mögen keine zwingenden oder unaufhebbaren theoretischen Fehler sein, doch die kurze und sprachlich wenig konkrete Darstellung schaden der argumentativen Stringenz.

Insgesamt liegt hier eine – dank der hervorragenden und lobenswerten Arbeit von Antje Korsmeier – kompetente Übersetzung eines anregenden und lesenswerten Klassikers feministischer Philosophie vor, der mit argumentativer Ruhe und analytischer Schärfe die vielfältigen Verschachtelungen von Moralphilosophie, Erkenntnistheorie und kritischer Machtanalytik herausarbeitet und den Blick für deren gesellschaftliche Relevanz scharfstellt.

  1. Donna Haraway, Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14 (1988), 3, S. 575–599.
  2. Klassisch etwa Kimberlé W. Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, in: The University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139–167.
  3. Miranda Fricker, Epistemic Injustice. Power and Ethics of Knowing, Oxford 2007.
  4. Neben vielen Einzelarbeiten liegt inzwischen sogar ein eigenes Handbuch vor: Ian James Kidd / Jose Medina / Gaile Pohlhaus, Jr. (Hg.), The Routledge Handbook of Epistemic Injustice, London / New York 2017.
  5. Der Katalog an identifizierten epistemischen Ungerechtigkeiten ist seit dem Erscheinen von Frickers Epistemic Injustice deutlich erweitert worden. Inzwischen wird zwischen discriminatory und distributive epistemic injustices differenziert, wobei auch weitere Differenzierungen wie formative epistemic injustice vorgeschlagen wurden, vgl. Alexandros Charalampos Nikolaidis, A Third Conception of Epistemic Injustice, in: Studies in Philosophy and Education 40 (2021), S. 381–398.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Epistemologien Feminismus Gesellschaft Handlungstheorie Macht Rassismus / Diskriminierung Soziale Ungleichheit

Tobias Schädel

Tobias Schädel hat Soziologie an den Universitäten Marburg und Gießen studiert und ist Mitglied des International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC). In seiner Dissertationsarbeit beschäftigt er sich in kultursoziologischer Perspektive mit der Transformation des gesellschaftlichen Imaginären der Moderne.

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