Nikolas Kill | Zeitschriftenschau | 30.06.2023
Aufgelesen
Die Zeitschriftenschau im Juni 2023
Die aktuelle Ausgabe des Berliner Journals für Soziologie greift eine „heikle Debatte“ auf. So kündigen es die Soziologen Benjamin Seyd und Hartmut Rosa in ihrem Editorial unter dem Titel „Immer Ärger mit dem Kategorisieren“ an. Angestoßen wird die Debatte von der Übersetzung des Essays „Resolving the trouble with ‚race‘“ von Loïc Wacquant, der ein enger Mitarbeiter Pierre Bourdieus war und inzwischen an der University of California in Berkeley Soziologie lehrt. Wacquant hat Bourdieus Theorien in der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung angewandt, etwa in ethnographischen Studien zur französischen Banlieue und dem amerikanischen Ghetto[1] sowie in seiner Arbeit zum Zusammenhang von „Race“ und Gefängnisstrafen.[2] Der nun auf Deutsch im Berliner Journal für Soziologie veröffentlichte Text ist erstmals 2022 in der Zeitschrift New Left Review erschienen.
Wie die Herausgeber im Editorial anmerken, haben sie „im Sinne eines verantwortungsbewussten Sprachgebrauchs […] nicht nur die wörtliche Übersetzung des englischen Titels vermieden, sondern auf die Übersetzung des zentralen Begriffs gleich ganz verzichtet“ (S. 1). „Immer Ärger mit ,Race‘. Eine Agenda für den Umgang mit einer heiklen Kategorie“, heißt der Essay dementsprechend in deutscher Übersetzung. Wacquant unterbreitet in seinem Beitrag fünf Vorschläge, „rassische Herrschaft“ zu überdenken und „Race“ als eine „verleugnete Modalität von Ethnizität zu begreifen, die die Verweigerung von Ehre und die Naturalisierung, Verstetigung und Homogenisierung von Ungleichheit mit sich bringt“ (S. 9).
Wie umgehen mit „Race“?
Zunächst schlägt Wacquant vor, den Begriff zu historisieren. Schwierigkeiten mit „Race“ beginnen im Westen nicht erst im 20. oder 21. Jahrhundert, vielmehr begleiten sie den Begriff seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und verweisen auf eine problematische „Komplizenschaft zwischen Alltagsverstand und Wissenschaft“ (S. 12). Die Verflechtung dieser Wissensformen halte mit Blick auf „Race“ bis in die Gegenwart an, vornehmlich in Form der gängigen Kopplung von „Rasse und Ethnizität“: „Wann immer Sozialwissenschaftler dieses doxische Duo aufgreifen, bestätigen und verstärken sie den strukturbildenden symbolischen Effekt von Race, nämlich den ideologischen Glauben, dass sie sich grundsätzlich von Ethnizität unterscheide.“ (ebd.)
Zweitens gelte es, den geographischen Kontext auszuweiten, um verschiedene Perspektiven auf die Geschichte in Dialog miteinander zu bringen, Parallelen aufzuzeigen und Besonderheiten herauszuarbeiten sowie den Umstand zu ändern, dass in der Forschung die Geschichte einzelner Staaten dominiert oder bevorzugt behandelt wird. Dabei hat Wacquant besonders die Vereinigten Staaten im Blick, deren Theoriebildung über „Race“ das globale wissenschaftliche Feld präge, dabei jedoch von den „Merkwürdigkeiten der nationalen historischen Erfahrung“ geprägt ist und entsprechende perspektivische Verengungen begünstigt:
„Zum Beispiel lässt die Vorstellung, dass Race gleich ,Farbe‘ im Sinne von Hauttönung sei, Fälle ethnorassischer Herrschaft außer Acht, in denen andere phänotypische Marker verwendet werden (z. B. Haare, Körpergröße oder Augenfarbe wie in China, Zentralafrika und den Anden), Situationen, in denen kein phänotypischer Unterschied existiert (Juden, Slawen und Sinti im Europa der Nazizeit, die Burakumin in Japan, die Dalits in Indien), Fälle, in denen eine ‚farbige‘ Bevölkerung der Rassifizierende ist (die Imperien des vorkolonialen Afrika und Asien) oder die Rassifizierten ,weiß‘ sind (die Iren in den Augen der Briten noch in der Zwischenkriegszeit).“ (S. 13)
Ein dritter Grundsatz lautet, die Logik der Gerichtsverhandlung zu vermeiden. Statt den Erkenntnisprozess zu unterbrechen, um „schuldhaftes Verhalten zu belegen und Verantwortung zuzuweisen“, plädiert Wacquant für eine „kaltblütige Logik der theoretischen Konstruktion und empirischen Validierung, egal wohin dies führt“ (S. 15). Er erinnert an W.E.B. Du Bois’ Maxime: „the utmost that the world can demand is, not lack of human interest and moral conviction, but rather the heart-quality of fairness, and an earnest desire for the truth despite its possible unpleasantness“ (ebd.). Wacquant betont, Sozialforschung müsse fair, ergebnisoffen und konsequent vollzogen werden. Im Sinne wissenschaftlicher Nüchternheit dürften Sozialforscher:innen, die zu „Race“ arbeiten, zudem ruhig darauf verzichten, die eigenen Privilegien in einem Vorwort zu thematisieren oder vorweg ihre „ethnische Solidarität“ zu bekräftigen, wie es nur allzu oft geschehe – „auf eine Weise, die einem Kollegen aus der Oberschicht, der über Klassenungleichheit schreibt, niemals einfallen würde“ (ebd.).
Mit Alltagsverstand brechen, Alltagsverstand einbeziehen
Viertens fordert Wacquant dazu auf, zu demarkieren und zu repatriieren. Gemäß einer wesentlichen Erkenntnis der Wissenschaftsphilosophie nach Bachelard, Koyré und Canguilhem müsse Theoriebildung zunächst im Sinne wissenschaftlicher Distanzierung mit dem Alltagsverstand brechen.
„Es ist auch das erste Gebot der soziologischen Methode, über die sich Marx, Durkheim und Weber einig sind: Volkstümliche und analytische Konzepte gehören unterschiedlichen Wissensregistern an; Erstere gehen mit sozialen Bedürfnissen einher, offenbaren oder verschleiern gegensätzliche Interessen und stellen praktische kognitive Rezepte bereit; Letztere werden speziell für Zwecke der wissenschaftlichen Beschreibung, Interpretation und Erklärung geschmiedet.“ (S. 16)
In diesem Sinn müssten in einem ersten Schritt „gewöhnliche rassische Überzeugungen“ ausgeblendet werden, um die ihnen zugrunde liegende materielle und symbolische Struktur herauszuarbeiten (demarkieren), bevor im zweiten Schritt eben diese Wahrnehmungen und Überzeugungen wieder in das theoretische Modell eingegliedert können (repatriieren). Wieso letzteres keine Zusatzoption, sondern eine epistemische Notwendigkeit darstellt, begründet Wacquant mit Pierre Bourdieu: Weil die
„‚soziale Wirklichkeit‘, von der die Objektivisten sprechen, […] ebenfalls Objekt der Wahrnehmung [ist]. Die Sozialwissenschaft muß denn auch diese Wirklichkeit und die Perzeption dieser Wirklichkeit, die Perspektiven, die abhängig von ihrer Position im objektiven sozialen Raum gegebenen Standpunkte der Akteure zu dieser Wirklichkeit zum Untersuchungsobjekt erheben.“[3] (S. 16)
Der Schritt der Repatriierung sei auch deshalb notwendig, weil sich Ethnizität, so Wacquant, in einem entscheidenden Aspekt von anderen sozialen Kategorien unterscheide, die Gesellschaft gliedern und hierarchisieren. Klasse, Geschlecht, Alter oder auch nationaler Identität schreibt er eine „unabhängige materielle Grundlage“ zu („Produktionsweise“, „Reproduktionsweise“, „Entfaltung des biologischen Lebens“, beziehungsweise „Zugehörigkeit zu einem Staat“). Ethnizität im Gegenteil beruhe Wacquant zufolge letztlich allein auf „Wahrnehmung und Unterscheidungsvermögen“ (ebd.). Insofern begreift der Soziologe „Race“ als ein ideelles Konstrukt ohne materielle Grundlage. Dementsprechend folgert er: „Race ist eine reine Modalität symbolischer Gewalt, die Beugung der sozialen Realität, um sie einer mentalen Landkarte anzupassen“, die jedoch eben als solche eine objektive Wirkmacht entwickle, „als verwirklichte Grundlage von Klassifikation und Stratifikation“ (S. 17 f.).
„Rassische Herrschaft disaggregieren“
Der fünfte und letzte Grundsatz Wacquants lautet: disaggregieren. Es geht darum, „ethnorassische Phänomene in ihre konstitutiven Elemente zu zerlegen“ (S. 22). Diese wären: Kategorisierung, Diskriminierung, Segregation, Ghettoisierung und Gewalt, „die angewandt wird, um Rassengrenzen aufzuzeigen und durchzusetzen“ (ebd.) und insofern wohl als Fluchtpunkt rassischer Herrschaft verstanden werden darf. Die Gleichzeitigkeit mehrerer dieser Elemente in einem bestimmten Kontext ist Wacquant zufolge nicht notwendig, sondern steht im Zeichen einer historischen Kontingenz:
„Diese fünf elementaren Formen werden in verschiedenen Gesellschaften, für verschiedene Bevölkerungen und in verschiedenen Epochen miteinander verflochten und unterschiedlich zusammengefügt. Und sie können im Einklang variieren […] oder sich im Gegensatz dazu unabhängig voneinander entwickeln“ (S. 22).
Dementsprechend sei konzeptuelle Differenzierung geboten, wie Wacquant mit einem Beispiel für die Verflechtung von „Rassenungleichheit“ und Klasse in den USA illustriert: Unter Afroamerikanern ohne Hochschulbildung ist die Wahrscheinlichkeit, eine Gefängnisstrafe abzusitzen, 22-mal höher als bei Schwarzen mit Hochschulbildung, während die Wahrscheinlichkeit unter Afroamerikanern gegenüber Weißen in einem Verhältnis von 6 zu 1 steht.[4] Diesen Umstand deutet Wacquant als Indiz dafür, dass es Reformansätzen, die sich allein auf „Rassenungleichheit“ beziehen und dabei Klasse vernachlässigen, kaum gelingen werde, Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen im Strafvollzug wirksam zu bekämpfen. Laut Wacquant gehen solche Ansätze nämlich von einer unzureichenden Beschreibung der Beziehung von „Race“ und Gefängnisstrafe aus, sie unterschlagen einen entscheidenden Umstand: Unter Afroamerikanern sei die Wahrscheinlichkeit, zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden, nicht nur aufgrund ihrer Hauptfarbe höher als bei weißen Amerikanern, sondern auch weil sie öfter arm sind.
Schließlich buchstabiert Wacquant seine Auffassung des Verhältnisses von Race zu Ethnizität aus: Race sei ein „paradoxe[r] Subtyp von Ethnizität“, paradox insofern, als „sie verleugnet, eine ethnische Kategorie, d.h. auf den Zufällen der Geschichte gegründet zu sein und sie doch eben dies gerade durch diese Verleugnung (im Freud’schen Sinne von ,Verneinung‘) offenbart“ (S. 18). Sein Vorschlag zur Neuausrichtung des Begriffs ziele auf die Frage ab, „unter welchen Bedingungen und aufgrund welcher Kräfte und Mechanismen gewöhnliche Ethnizität in rassifizierte (und dadurch verleugnete) Ethnizität verwandelt wird“ (S. 25). Auf dieser Grundlage bemängelt er „schwammige[r] Termini“ wie „struktureller Rassismus“ oder „systemischer Rassismus“, „die sich im Gefolge der sozialen Bewegung für Rassengerechtigkeit in den letzten Jahren mit unglaublicher Geschwindigkeit verbreitet haben“ (S. 26). Als politische Parolen würden sie zwar gut funktionieren, um Menschen zu mobilisieren und ihnen ein „persönliches Gefühl von moralischem Enthusiasmus“ zu vermitteln; dennoch seien sie „schlechte Wegweiser, um die rassische Ordnung zu sezieren und dann umzustürzen“ (ebd.).
Alltagsverstand und Wissenschaft
Ebenfalls auf den Seiten des Berliner Journals für Soziologie kommentieren die Soziologin Martina Löw und die Politikwissenschaftlerin Maria do Mar Castro Varela den Essay Wacquants, der wiederum auf diese Kommentare in einer Entgegnung antwortet. Unter dem Titel „Über die Einhegung von Race in Ethnizität. Eine feministische Intervention“ bemängelt Martina Löw unter anderem, dass Wacquants konzeptuelle Differenzierung von „Race“ den Preis hat, andere soziale Kategorien zu „substanzialisieren“. Auch Hierarchien und Ungleichheit entlang der Kategorie Geschlecht seien vornehmlich in Formen der Wahrnehmung und ideeller Unterscheidung begründet, betont Löw mit Verweis auf Bourdieus Arbeit zu „männlicher Herrschaft“ – und nicht vornehmlich materiell verankert, wie Wacquant behauptet. Demnach plädiert sie dafür, Race und Geschlecht in ihrer Verflechtung zu beforschen, „um doing race und doing Geschlecht zu verstehen“ (S. 35).
In ihrem Kommentar „Unruhe bewahren. Eine unordentliche Antwort auf Loïc Wacquants Plädoyer für eine Diskurskorrektur“ kritisiert Maria do Mar Castro Varela, Wacquants Beitrag beschwöre eine „Kampflinie“ zwischen Wissenschaft und Aktivismus herauf (S. 48). Die „Abwertung einer Aussage als ,unwissenschaftlich‘ und als nur dem ,Alltagsverstand‘ angehörend“, erschwere den Dialog verschiedener Perspektiven ebenso wie die Arbeit an einer postkolonialen Soziologie. In seiner Antwort hinterfragt Wacquant wiederum die Tragfähigkeit der Konzepte „Alltagsverstand“ und „gesunder Menschenverstand“ als Grundlage von sozialwissenschaftlicher Forschung. „Epistemologischer Populismus“ sei in der Sache nicht zielführend betont der Soziologe in rationalistischer Tradition: „Mit der begrenzten Gewissheit, die die Sozialwissenschaft zu bieten hat, müssen wir verstehen, wie [rassische] Herrschaft in der Realität funktioniert, nicht wie im ,Alltagsverstand‘ oder im ,gesunden Menschenverstand‘ ihrer Opfer.“ (S. 64)
Die Debatte spiegelt eine für die Soziologie charakteristische Herausforderung: Welchen Stellenwert soll Wissenschaft den Selbstbeschreibungen von Akteuren beimessen, die von dem untersuchten Phänomen unmittelbar betroffen sind, sowie sogenanntem Alltagswissen ganz allgemein? Wacquants Essay arbeitet in klarer Argumentation eine Position heraus, die mit alltäglichen Bedeutungen und Konnotationen von „Race“ bricht, sie jedoch gleichzeitig als Forschungsgegenstand in den Blick nimmt. Die anschließende Debatte vertieft bestimmte Aspekte und ermöglicht es, Positionen auszubuchstabieren – etwa die notwendige Distanz zur Selbstbeschreibung von betroffenen Akteuren (Wacquant) –, beziehungsweise zu problematisieren – wie die vereinfachende Auffassung von Geschlecht (Löw). Insofern bietet Wacquants Vorschlag, „Race“ als geleugneten Subtyp von Ethnizität zu verstehen, der konkrete soziale Wirkungen entfaltet und bestimmte Herrschaftsformen begründet, eine produktive Grundlage für die weitere Beschreibung der Strukturen und Mechanismen, die Rassismus fortwährend ermöglichen.
Alternative und alternativlose Fakten: Wie positioniert sich die Soziologie?
In einem Beitrag der aktuellen Ausgabe der Soziologie führt die Soziologin Katharina Hoppe unter dem Titel „Öffentliche, parteiliche, positionierte Soziologie“ einen aktuellen Selbstverständigungsprozess der Disziplin fort.[5] Es geht es um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik und insbesondere die Frage, wie sich die Soziologie angesichts von öffentlichen Debatten zu verhalten habe, in denen ihr vorgeworfen wird, Kenntnisse gemäß einer politischen Agenda zu produzieren. Angesichts von Forderungen nach politischer Stellungnahme der Wissenschaft sowie jüngeren Kontroversen um alternative Fakten werde der Begriff der Positionierung regelmäßig in Stellung gebracht, „um Diskreditierungen einer (vermeintlich) politisierten oder aktivistischen Wissenschaft etwas entgegenzusetzen“ (S. 163). Jedoch bleibe der Begriff dabei „notorisch unterbestimmt“, so Hoppes Ausgangsbeobachtung. Dementsprechend geht sie der Frage nach: „Wie kann die Soziologie ihre eigene Positionierung als Stärke und Vorzug und nicht als Fallstrick und Handicap begreifen?“ (Ebd.)
Zu diesem Zweck diskutiert Hoppe zunächst Auffassungen „öffentlicher“ und „parteilicher“ Soziologie, „die der Involviertheit mit der Welt, die man erforscht, Rechnung“ tragen, um im letzten Schritt das Verständnis „positionierter“ Wissenschaft zu schärfen. Bereits 1959 hatte der Soziologie Charles Wright Mills das „unweigerliche Moment der Involviertheit“ von Soziologen in die politische Gemengelage hervorgehoben (S. 166).[6] Anschließend an Mills Intervention hat Michael Burawoy für die Kultivierung einer öffentlichen Soziologie plädiert[7] – einer Wissenschaft, „die Konversationen zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft“ schaffe. Gegenwärtige Forderungen in diesem Sinne „werben für einen stärkeren Einbezug der Zivilgesellschaft, sozialer Bewegungen und Gegenöffentlichkeiten“ (S. 167).
Als Musterbeispiel parteilicher Soziologie verweist Hoppe auf die Frauenforschung in ihrer Gründungsphase[8] und hebt insbesondere die 1978 von Maria Mies vorgelegten „Methodischen Postulate der Frauenforschung“ hervor.[9] Die Frauenforschung habe damals die Wahl der Forschungsgegenstände nach Zielen und Taktiken der Frauenbewegung ausgerichtet und versucht, Hierarchien zwischen Forschenden und Beforschten zugunsten einer „Sicht von unten“ zu überwinden. In den 1980er-Jahren schlug die Standpunkttheorie vor, die marxistische Annahme eines epistemischen Privilegs der Unterdrückten für „ein feministisches, historisch-materialistisches Projekt fruchtbar zu machen“ (S. 169).
Schließlich skizziert Katharina Hoppe eine Auffassung positionierter Soziologie, welche gängige Schwächen der eingangs umrissenen öffentlichen und parteilichen Soziologie überwinden soll – den grundlegenden Objektivitätsanspruch und die Beschränkung auf eine Vermittlungsfunktion (öffentliche Soziologie) und die Gleichsetzung sozialer Positionierung entlang von Race, Klasse oder Geschlecht mit inhaltlichen Positionierungen und Perspektiven (parteiliche Soziologie).
Dazu bringt sie den Soziologen Geoffroy de Lagasnerie in einen kritischen Dialog mit der feministischen Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway. Hoppe greift de Lagasneries Kritik an der „Phantasie unengagierter Wissenschaft und neutraler Wissensproduktion“ auf (S. 171), wenngleich sie seiner ablehnenden Position gegenüber induktiv verfahrender empirischer Forschung und seiner „vereinseitigende[n] Perspektive auf oppositionelle Wissensproduktion“ kritisch gegenübersteht (S. 172). Da sie Erkenntnissubjekte als „gespalten, in sich heterogen“ betrachtet, verteidigt sie mit Donna Haraway eine Konzeption „partialen Wissens“:
„Partiale Wissen können, wie unvollständig auch immer, übersetzt, als solche auch potentiell verbunden werden und lassen so Neues entstehen. In solchen Prozessen muss Haraway zufolge entschieden auf der Eingebundenheit der Erkennenden in die Welt beharrt werden und darauf, dass es keine ambivalenzfreien Positionen in ihr geben kann: Solche Wissenschaft ist unhintergehbar positioniert.“ (S. 173 f.)
Gegen den relativistischen Diskurs von Postfaktizität wie gegen die „szientistische“ (S. 164) Rede von alternativlosen Fakten, vertritt Katharina Hoppe eine „identitätskritische und relationale Stoßrichtung positionierter Wissenschaft“, die ihre Involviertheit im politischen Geschehen nicht leugnet (S. 175). Gleichzeitig betont sie mit Donna Haraway, dass „bessere Darstellungen der Welt“[10] stets „eine unabgeschlossene Aufgabe bleiben, die nicht nur eine, sondern viele Wissensbestände und Expertisen“ erfordern (ebd.).
Context is the new genre: Genre-Kategorien auf Spotify
In einem vorab veröffentlichten Artikel des Journals Cultural Sociology untersucht der Kulturwissenschaftler und Soziologe Mads Krogh die Bedeutung von Klassifizierungen in der Kultur, genauer gesagt: wie Musik vom marktführenden Musik-Streaming-Diensts Spotify in Kategorien unterteilt und Nutzern empfohlen wird. Unter dem Titel „Rampant Abstraction as a Strategy of Singularization: Genre on Spotify“ beleuchtet Krogh die ‚zügellose‘ Abstraktionstendenz, die er bei der Kategorisierung von Musik auf der Streaming-Plattform beobachtet. Sein Beitrag baut auf jüngeren Studien zur Organisation kultureller Produktion und den Singularitäts- beziehungsweise Authentizitätsansprüchen der Erlebnisökonomie auf. Über den Fall von Spotify hinaus verhandelt er Fragen der Kategorisierung von Kultur in Zusammenhang mit dem algorithmischen Kuratieren von Streaming-Plattformen, der Nachfrage, die sie bedienen, und den Konsummöglichkeiten, die sie zeitigen.
Musik werde nicht mehr allein entlang Genres im klassischen Sinn (Pop, Soul, Metal), sondern auch nach activities (Chill, Workout, Sleep) oder Stimmung, beziehungsweise mood geordnet und präsentiert, so die Ausgangsbeobachtung von Krogh. Diesen Umstand ordnet der Kulturwissenschaftler einer allgemeinen Tendenz der Datenverarbeitung durch Streaming-Dienste zu, die unter dem Namen „contextual turn“ firmiert und von einem Spotify-Programmierer trocken auf den Punkt gebracht wurde: „Context is the new genre“ (S. 2). Sie beruht auf dem Befund, dass Genre-Kategorien heutzutage keinen zuverlässigen Indikator für individuelle Präferenzen von Hörerinnen mehr darstellen und sie Nutzerverhalten nur noch unzureichend voraussagen. An dieser Stelle beruft sich Krogh neben der existierenden Forschung zu dem Thema auf einen Bericht von Spotifys Marketingabteilung:
„Pre-internet, music genres often came out of specific scenes married to geography […] As digital natives, millennials are the first generation to have the world’s entire library and geography of music at their fingertips. [. . .] Genre still matters, but it no longer defines them. Instead, it is viewed as a shortcut to selecting music to enhance and improve every mood and occasion.“ (Ebd.)
Automatisierte Singularisierung
Millennials haben den Anspruch, aus jeder Stimmung und jedem Anlass einen bestimmten Vibe zu machen. Musik-Streaming-Anbieter wie Spotify sind redlich bemüht, dieses Bedürfnis zu erfüllen. Um die daraus resultierende Tendenz der Kontextualisierung und Personalisierung zu deuten, zieht Krogh Andreas Reckwitz‘ Theorie der Singularisierung heran. Genauer gesagt, die These, dass die soziale Logik des Allgemeinen und ihr Drang zur Rationalisierung, die in der industriellen Moderne vorherrschend war, in der Spätmoderne in den Hintergrund rückt, während die Logik der Singularisierung, „die zugleich eine der Kulturalisierung und der Affektintensivierung ist“, strukturbildend auf die Gesellschaft wirkt.[11]
Das Ziel von Streaming-Anbietern wie Spotify, ihren Nutzern einen personalisierten, kontext-spezifischen, in jeglicher Weise singulären Musikkonsum zu ermöglichen, führe zwangsläufig zu Fragen der Kategorisierung. Diese sei nämlich schlechthin die Bedingung, um (Nutzungs-)Daten nützlich zu machen – ob für zielgerichtete Werbung oder eben, um Hörern eine vermeintlich maßgeschneiderte Playlist anzubieten („Dein Mix der Woche“).
Krogh deutet den Kategorisierungsprozess von Musik auf Spotify als Wechselspiel zwischen den Ebenen des Besonderen und des Allgemeinen, das von einem vermittelnden Moment der Abstraktion geleitet wird. Den Begriff der Abstraktion bezieht er auf Prozesse, die Merkmale von Musik und von Hörerverhalten feststellen, symbolisieren und systematisieren. Solche Prozesse umfassen meist zwei Schritte: Erst werden einzelne Nutzungsmerkmale einem allgemeinen Begriff zugeordnet, der dann wiederum konkretisiert und flexibel ausgefüllt wird (etwa bei der Erstellung von Playlists):
„The abstraction of categories not traditionally recognized as musical genres illustrates this. For example, by 2018, Spotify looked specifically to identify genres of ‘functional music’ (e.g. sleep, ballet class, pet calming), singling out listening patterns (in terms of time, location, age, artist etc.) aligned to cultural key words signaling activities and moods.“ (S. 7)
Die Unterbestimmung entlang von Genres im klassischen Sinn – Spotify belässt es bei generischen Kategorien, wie Jazz oder Metal – wird dementsprechend durch Kategorien nach mood und activity wettgemacht. So werden Hörempfehlungen neben klassischen Genres auch Kategorien wie ,Moods and Moments’, ,At Home’ oder eben ,Made For You’ zugeordnet – durchaus im Einklang mit Spotifys Marktforschung: „millennials turn to streaming to enhance and regulate every moment“ oder „music is moving away from genres […] people don’t search for Hip Hop or Country anymore, but rather they search around activities or a particular experience.“ (S. 8)
Kroghs Analyse umreißt das Versprechen eines radikal singulären und zielgerichteten Musikkonsums – „the indeterminate offering of an affectively open, musical enhancement of whatever situation“ (S. 13). In diesem Zusammenhang arbeitet er in Anlehnung an Reckwitz‘ Analyse von Kulturgütern das affektive Moment von Spotifys Service, beziehungsweise Vision heraus. Diese liege einerseits in der Ambition „Momente“ emotional zu intensivieren. Andererseits versteht Krogh den Begriff des Affekts als einen Zustand prozessualer Offenheit und Unvollendetheit – „the endless flow of moments or the everchanging stream of context“ (S. 10) – stets ausgerichtet auf den nächsten Song, stets den nächsten mood im Blick.
Es ist Sommer. Passend zur Jahreszeit empfiehlt Spotify nicht etwa eine Playlist, sondern gleich ein halbes Dutzend – „Sommerhits 2023“, „Sommer Chillout“, „Familienzeit: Sommer“, „Sommerklassiker“, „Retro Sommerhits“ oder „Your Summer Rewind“. Sie kommen mit beigefügter Beschreibung („Sommer, Sonne, Lieblingshits [Sonnen-Emoji]“) oder freundlicher Anleitung („Dip your feet in the pool and enjoy this perfect summer house mix [Sonnen-Emoji]“) – individuell zugeschnitten („We’ve made YOU a new playlist featuring YOUR old summer favourites“) oder flächendeckend anschlussfähig (Sommerhits). Ob Chillout oder Retro, ob im Club Tropicana (Wham!) oder zu Mangos mit Chili (Nina Chuba), die Musik für den Urlaub steht bereit [Sonnen-Emoji].
Fußnoten
- Siehe u.a. Loïc Wacquant, Die Verdammten der Stadt. Eine vergleichende Soziologie fortgeschrittener Marginalität, übers. von Alexander Frings, Wiesbaden 2017.
- Siehe u.a. Loïc Wacquant, Deadly Symbiosis: Race and the Rise of Neoliberal Penalty, Cambridge 2009.
- Pierre Bourdieu, „Sozialer Raum und symbolische Macht“, in: ders.: Rede und Antwort, übers. von Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1992, S. 135–154.
- Christopher Muller / Alexander F. Roehrkasse, „Racial and class inequality in US incarceration in the early twenty-first century“, Social Forces 101, S. 803–828.
- Die Autorin verweist an dieser Stelle u.a. auf die Diskussion der Ad-Hoc-Gruppe „Soziale Spaltung als Zeitdiagnose“ auf dem DGS-Kongress 2023 in Bielefeld, über die Soziopolis berichtete: www.soziopolis.de/bielefelder-splitter-iv-donnerstag.html
- Charles W. Mills, Soziologische Phantasie [1959], übers. von Ulrike Berger, Wiesbaden 2016.
- Michael Burawoy, „For Public Sociology“, in: American Sociological Review (70), 1, S. 4–28.
- Hoppe beruft sich an dieser Stelle auf: Sabine Hark, Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a.M. 2005.
- Maria Mies, „Methodische Postulate zur Frauenforschung – dargestellt am Beispiel der Gewalt gegen Frauen“, in: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis 1 (1978), 1, S. 41–63.
- Donna Haraway, „Situiertes Wissen. Die Wissensfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M./New York 1995, S. 73–79.
- Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2018, S. 103.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.
Kategorien: Epistemologien Feminismus Kultur Medien Methoden / Forschung Öffentlichkeit Rassismus / Diskriminierung Soziale Ungleichheit
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