Dossier

„Ich interessiere mich nicht für Soziologie, ich interessiere mich für die Gesellschaft“

Heinrich Popitz zum 100. Geburtstag

„Mich hat einmal ein Diskussionsleiter eingeführt als einen ‚schon zu Lebzeiten vergessenen Klassiker‘. Bei Popitz könnte es umgekehrt kommen, vielleicht wird der unlängst Verstorbene als Klassiker erst noch entdeckt.“ Diese Vermutung Ralf Dahrendorfs zur Wirkung des 2002 verstorbenen Heinrich Popitz hat sich bislang nur teilweise bewahrheitet. Zwar haben einzelne Teile seines Werks – wie seine Studie Phänomene der Macht (1986/1992) oder der Aufsatz Über die Präventivwirkung des Nichtwissens (1968) – in der Soziologie beziehungsweise der Kriminologie und den Rechtswissenschaften nachhaltig gewirkt. In ihrer gesamten Breite harren Popitz’ Leben und Denken aber noch einer vertieften Auseinandersetzung.

Die Beiträge des Dossiers widmen sich anlässlich des 100. Geburtstags von Heinrich Popitz am 14. Mai 2025 dem in weiten Teilen noch zu entdeckenden Klassiker. Popitz gehörte zur ersten Generation von Soziologen und – in weit geringerer Zahl – von Soziologinnen, die nach 1945 studiert hatten und die Ausbauphase der Soziologie in der Bundesrepublik maßgeblich prägten. Wie viele dieser Generation hatte Popitz nicht Soziologie, sondern Philosophie, Nationalökonomie und Geschichte studiert. Seine 1949 bei Karl Jaspers in Basel abgeschlossene Dissertation Der entfremdete Mensch (1953) ist eine der ersten deutschsprachigen Arbeiten über die Marx’schen Frühschriften. Der Wechsel in die Soziologie erfolgte erst im Rahmen der Tätigkeit an der Sozialforschungsstelle Dortmund, wo Popitz zwischen 1951 und 1955 als Industriesoziologe forschte. Die zusammen mit Hans Paul Bahrdt, Ernst August Jüres und Hanno Kesting verfassten Studien Das Gesellschaftsbild des Arbeiters (1957) sowie Technik und Industriearbeit (1957) gelten als Marksteine der frühen deutschsprachigen Industriesoziologie. Nach der Habilitation 1957 bei dem Politologen Arnold Bergstraesser und zwei Jahren als Dozent in Freiburg übernahm Popitz zunächst eine Professur in Basel, bevor er 1964 nach Freiburg zurückkehrte, um dort als Direktor das neu gegründete Institut für Soziologie zu leiten. Hier lehrte er – unterbrochen nur durch einen Aufenthalt 1970/1971 als Theodor-Heuss-Gastprofessor an der New School for Social Research – bis zu seiner Emeritierung Anfang der 1990er-Jahre. 

Wie viele der Neugründungen der Nachkriegszeit war auch das Freiburger Institut zunächst sehr stark von der Persönlichkeit seines einzigen Ordinarius geprägt. Sucht man nach Elementen dieser spezifisch Popitz’schen Färbung, so wird man die starke anthropologische Grundierung, den hohen Stellenwert begrifflicher Genauigkeit und die Passion für große Fragen – nach der Geltung von Normen, den Prozessen der Machtbildung, den Formen von Herrschaft – anführen und man wird von der gleichermaßen väterlich zugewandten wie mit einer Aura der Unnahbarkeit umgebenen Autorität von Popitz sprechen. Man wird darüber hinaus die Kultur des Streitgesprächs erwähnen müssen, die er in der Universität vermisste, selbst jedoch im Umgang mit Studierenden und Mitarbeitern zu praktizieren suchte – so schwer es ihm bisweilen fiel, die dazu erforderliche Gelassenheit zu wahren. Übungen zur „Wiedererweckung des Agonalen als Element des Universitätslebens“ nannte er das und wusste nur allzu gut, wie mühsam es war, dafür Raum im akademischen Alltag zu schaffen. 

Einen inhaltlichen Schwerpunkt seiner Lehre und Forschung bildete anfangs die Rechtssoziologie, wichtige Themen in späteren Jahren waren Macht, Technik und Kreativität. Popitz war ein glänzender Stilist. Die Lektüre seiner Schriften bietet nicht nur soziologische Aufklärung im besten Sinne, sie ist auch ein intellektuelles Vergnügen. Popitz verfasste keine voluminösen Bücher, ihm lag eher die kleine Form, sprachliche Verknappung war sein Ideal. Zur Entspannung schrieb er Aphorismen und Schüttelreime. Seine soziologischen Theoriemodelle erläuterte er gern mit anschaulichen Beispielen. Die Geschichte vom Kampf um die Liegestühle auf einem Kreuzfahrtschiff in den Prozessen der Machtbildung (1968) hat es sogar in ein mit „Sternstunden der Soziologie“ betiteltes Lehrbuch geschafft. 

Popitz’ Projekt einer allgemeinen, „anthropologischen Soziologie“ verweigert sich der verbreiteten Gegenwartsfixierung des Fachs und wirkt gerade dadurch zeitgemäßer als manche soziologischen Neuerscheinungen unserer Tage. Die Fragen, die er aufwirft, haben unter den Bedingungen des Anthropozäns noch an Dringlichkeit gewonnen: Was hält menschliche Gesellschaften zusammen? Welche Grenzen sind ihnen gesetzt? Und welche dieser Grenzen können Menschen kreativ handelnd transzendieren? 

Die Beiträge des Dossiers leuchten verschiedene Aspekte von Popitz’ Leben und Werk aus: Ulrich Bröckling zeichnet anhand von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen die Beziehung zwischen Heinrich Popitz und Carl Schmitt nach. Oliver Römer würdigt Popitz’ Dissertation Der entfremdete Mensch und ordnet sie in die Marx-Diskussion der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Lukas Potsch untersucht den Beitrag Popitz’ zur Neuen Gewaltsoziologie und eruiert mit Blick auf seine techniksoziologischen und -geschichtlichen Arbeiten mögliche Anschlüsse für eine Soziologie von Gewalt und Krieg im Anthropozän. Wolfgang Eßbach fragt im Anschluss an Popitz’ Studien zur menschlichen Kreativität nach den sozialanthropologischen Voraussetzungen religiöser Erfahrung. Ein besonderes Fundstück stellt schließlich ein Filmausschnitt aus dem Jahr 1968 dar, der Heinrich Popitz in der Diskussion mit Freiburger Studierenden zeigt, dabei geht es um die Reform des Studiengangs Soziologie.

Ulrich Bröckling / Lukas Potsch

Wolfgang Eßbach | Essay

Die Fähigkeit zur religiösen Phantasie

Heinrich Popitz über das Transzendieren

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Oliver Römer | Essay

Der entfremdete Mensch

Heinrich Popitz’ Marx-Lektüre zwischen Anthropologie und Soziologie

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Lukas Potsch | Essay

Verletzungsoffen und verletzungsmächtig

Heinrich Popitz’ Beitrag zur Soziologie der Gewalt und des Krieges

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Ulrich Bröckling | Einführung

Alleinordinarius und Bündnispartner

Einführung zum Filmausschnitt „Popitz 1968 in Freiburg“

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