Wolfgang Eßbach | Essay |

Die Fähigkeit zur religiösen Phantasie

Heinrich Popitz über das Transzendieren

Im September 1998 fand in Freiburg der dritte trinationale Kongress der soziologischen Gesellschaften Deutschlands, Österreichs und der Schweiz statt, die ersten beiden 1928 und 1988 in Zürich. Das Thema in Freiburg lautete „Grenzenlose Gesellschaft?“. Mit mehr als 100 Vortragsveranstaltungen und gut 650 Vorträgen war dies keine leichte Aufgabe für das kleine Institut für Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität.

Heinrich Popitz hatten wir gebeten, eine der herausgehobenen Mittagsvorlesungen zu halten. Für den Abschlussvortrag hatte Amitai Etzioni zugesagt, dann aber krankheitsbedingt absagen müssen, sodass schließlich Heinrich Popitz diese Aufgabe übernahm. Im überfüllten Auditorium Maximum sprach er zum Thema „Die Kreativität religiöser Ideen. Zur Anthropologie der Sinnstiftung“.[1] Es ist dies der letzte Beitrag, den Popitz fertiggestellt hat.

Mit Bezug auf diesen Vortrag hat man Maria Popitz nach dem Tod ihres Mannes gefragt, „ob Heinrich [Popitz] eigentlich ein religiöser Mensch gewesen sei.“ Sie antwortete: „Er war ein fragender Mensch.“ Heinrich Popitz stammte aus einer preußisch-lutherischen Familie. Maria Popitz berichtete: „Zur Zeit seiner Konfirmation war er fromm. An unserem ersten verheirateten Weihnachten hat er mir, Katholikin, engagiert von Luther erzählt. Das war ein sehr schöner Abend. Während des Philosophie-Studiums 1945-48 ist er vor allem in seiner Heidelberger Zeit öfters morgens in katholische Kirchen gegangen und hat mir später erklärt, daß in der katholischen Messe etwas geschieht, da wird gehandelt – im Gegensatz zu reinem Predigt-, Gebets- und Gesangsgottesdienst.“[2]

Der Sonntag war auch für ihn ein spezieller Tag, allerdings weniger zum Kirchgang als zum Malen. „Ich bin ein Sonntagsmaler“, pflegte er zu sagen. Seit Mitte der 1970er Jahre malte er – nur an Wochenenden und nur im Winter, „im Sommer waren Rosen zu schneiden sowie zwei Rebstöcke und alles zu beaufsichtigen, was im Garten zu geschehen hatte.“[3]

Popitz hat sich erst spät dem Thema Religion zugewandt. In der Dissertationsschrift von 1949 über den jungen Marx heißt es lediglich: Marx habe „auch später die Kritik des religiösen Bewusstseins – eine Leistung, die er Feuerbach zuschrieb – als Voraussetzung seiner eigenen Entlarvung der bürgerlichen Ideologie betrachtet.“[4] Religion kommt in den industriesoziologischen Untersuchungen, die Popitz zusammen unter anderem mit Hans Paul Bahrdt in der Hüttenindustrie des Ruhrgebiets durchführte, nicht vor, wohl aber Ideologiekritik als Kritik der „sozialen Mythen“ einer „Gefährdung der bürgerlichen Gesellschaft durch die drohende Masse des kampfbereiten Proletariats“.[5]

Geht man auf der Suche nach einer Thematisierung von Religion weiter im Eilschritt durch Popitz‘ Schriften, so stößt man in der posthum veröffentlichten Vorlesung des Wintersemesters 1957/58 Einführung in die Soziologie, die sich bei der Lektüre als eine Einführung in die „Soziologie der Naturvölkerkulturen“ entpuppt, auf die Themen Magie und Riten.[6] Aber interessant ist, dass es Popitz vermeidet, hier von Religion zu sprechen. So korrigiert er zum Beispiel Ruth Benedicts Behauptung, „im Mittelpunkt der Kwakiutl-Kultur stände die Ekstase. Offensichtlich handelt es sich hier nicht um eine eigentlich religiös motivierte Ekstase, sondern eher um eine höchst weltliche Form des Strebens nach Prestige, eine Form allerdings, die ebenso wie das Potlatsch-Brauchtum einen hohen Grad der Freisetzung von wirtschaftlichen Nöten und Sorgen, einen hohen Grad auch an Bereitschaft voraussetzt, die extremen Möglichkeiten des menschlichen Lebens zu erproben.“[7]

Zehn Jahre später, in der ebenfalls posthum publizierten Vorlesung Allgemeine Soziologische Theorie vom Wintersemester 1966/67, streift Popitz das Thema Religion bei der Erörterung des Wertes.[8] Ein Wert ist nach Verhaltensregelmäßigkeit, Sanktionsstruktur und Verinnerlichung eine weitere Komponente der Geltung sozialer Normen. Wertbegriffe wie Gerechtigkeit oder Tapferkeit bezeichnen Tugenden, sie sind Popitz zufolge abstrahierende Zusammenfassungen zahlreicher einzelner Normen, die sich gleichsam so „verselbstständigen können, daß sie ein eigenes Leben, eine eigene Bedeutung erhalten können und daß sie mit dieser eigenen Bedeutung zu motivbildenden Vorstellungsinhalten werden.“[9] Hier platziert Popitz einen Verweis: „Der Gedanke einer Werteebene, eines Werthimmels über den Handlungsnormen ist uns eigentlich selbstverständlich geworden aus der griechischen Ethik und aus dem Christentum vor allen Dingen.“ [10] Und kritisch merkt er an: „Nun, diese Autonomie des Wertes und entsprechend auch der Gesinnung, des Willens, ist für uns so ausgeprägt, so selbstverständlich, daß sie uns selbst den Zugang zu anderen Hochreligionen sehr erschwert.“ [11]

Findet man bis zum Ende der 1980er-Jahre nur wenige, sehr verschiedene Thematisierungen religiöser Phänomene, so ändert sich dies in der Zeit nach 1990. Es bildet sich bei Popitz ein neues Interesse an Fragen ideologischer Verblendung und zum Verhältnis von Anthropologie und Soziologie der Religion. Ich habe das Vergnügen gehabt, diese Entwicklung hier in Freiburg mitzuerleben.

Nachdem ich zum Wintersemester 1987/88 aus Göttingen nach Freiburg als dritter Hochschullehrer neben, besser gesagt zwischen Popitz und Dux gekommen war, entwickelte sich ein privater Gedankenaustausch zwischen Popitz und mir nur sehr langsam. Man tastete sich vorsichtig an das Thema ,1968‘ heran: die studentische Linke in Göttingen, wo Popitz‘ Freund Hans Paul Bahrdt Soziologie lehrte, und das, was in Freiburg und an anderen Orten erlebt werden konnte.

1994 erschien Popitz‘ Beitrag Realitätsverlust in Gruppen, in dem er das Phänomen von Gruppenautorität analysierte.[12] Er ging dabei von der berühmten Untersuchung When Prophecy Fails von 1957 aus. Einer Frau haben Wesen aus dem Weltraum ein Datum für den Weltuntergang prophezeit, dem diejenigen entfliehen könnten, die aus festem Glauben an die Prophezeiung sich von einem extraterrestrischen Raumschiff retten lassen. Es bildet sich eine gläubige Gruppe, die unbeirrt an der Prophetie festhält, obwohl kein Untergang stattfindet und kein Raumschiff kommt. Autorität hat hier ein anderes Gesicht als die Einzelautorität einer Person. Es handelt sich um „Gruppenautorität“. Diese verstärkt sich Popitz zufolge, wenn Gruppen an „riskante Ideologien“ glauben, deren Basisannahmen sich rasch als Irrtum erweisen. Bei vielen chiliastischen Bewegungen ist dies der Fall.

Weitergehend können Gruppen glauben, das „Ereignis, das sie erwartet, selbst auslösen zu können“, wie im Fall der Terrorgruppe RAF, der Popitz eine längere Fußnote mit vielen Originalbelegen widmete.[13] „Ihre Basisprämisse war die Erwartung, durch gewaltsame Aktionen einer ‚Stadtguerilla‘ eine Massenmobilisierung auslösen zu können.“[14] Das Scheitern führte zu Umdeutungen und einer Festigung der Gruppenautorität, ohne Korrektur ihrer irrealen Basisannahme. Sowohl bei der Ufo-gläubigen Lake-City-Gruppe als auch der RAF geht es nicht nur um erfahrungsresistente Erwartungen. Solch ein durch Gruppenautorität gestützter Glaube wird durch die Kreation neuer Gründe für das Ausbleiben des erwarteten Ereignisses zu einem die Phantasie mobilisierenden Kraftakt. Was Popitz fesselte, waren Phänomene der die Wirklichkeit übersteigenden phantastischen Basisannahmen.

Religion und gesellschaftliche Erfahrung war eine meiner ersten Vorlesungen zur Religionssoziologie in Freiburg. 1995 legte ich in Popitz‘ Postfach einen ersten Entwurf für einen Artikel, und wir kamen darüber ins Gespräch. Im Sommer 1996, da war er schon emeritiert, bot er ein Seminar zum Thema: „Die Präsenz des Nicht-Gegenwärtigen“ an. In weiteren Seminaren ging es um „Kategorien religiöser Erfahrungen und die Religiosität der Lebenslagen“ (Sommersemester 1997), um „Phantastische Entwürfe einer Gegen-Ordnung“, ein Seminar zum Thema Utopie (Sommersemester 1998) und danach ein Seminar zum Thema: „ Aufklärung von Lessing und Kant zu Hegel und Marx“ (Wintersemester 1998/99). Lessings rationalreligiöse Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ genoss dabei Popitz‘ höchste Wertschätzung.

In der Anthropologie der Sinnstiftung, die Popitz 1998 auf dem Freiburger Soziologiekongress vorstellte, konzentriert er sich auf vier zentrale religiöse Ideen, von denen er annimmt, dass sie sich „in vielen Religionen – auch unabhängig voneinander – zu grundlegenden Glaubensinhalten entwickelt haben.“[15] Es geht um die Ideen

  1. einer Beseelung der Welt,
  2. eines himmlischen Schöpfergottes,
  3. der Überwindung des Todes und
  4. der Überwindung des Leidens.

Von diesen Ideen heißt es: Sie „antworten auf irritierende, verstörende, beängstigende Erfahrungen und geben ihnen in irgendeiner Weise ‘Sinn‘.“[16] Zwar bedient sich Popitz ausgiebig religionswissenschaftlicher und religionsgeschichtlicher Theorien und entsprechender Forschungsergebnisse, aber er behandelt nicht die Frage: „Warum und wann sind Menschen religiös? Sondern: Was macht Menschen fähig religiöse Ideen hervorzubringen, warum können sie das?“[17] Die Antwort findet Popitz nicht in den vielen Erklärungen, die Menschen für jede der vier zentralen religiösen Ideen entwickelt und gegen Zweifel verteidigt haben, sondern in der Fähigkeit zur Fantasie, zu einer „in bestimmter Weise intensivierte[n] Vorstellungskraft“, die die „Begabung zur Kreativität“ ermöglicht.[18]

Popitz geht es nicht um den normativen Charakter von Religion, der in sprachlich normierten Gebeten und Bekenntnissen, in religiösen Geboten und Ratschlägen anzutreffen ist. Ende der 1990er-Jahre hat er schon über den Plan gesprochen, seine verschiedenen Beiträge zu sozialen Normen in einem Band zusammenzufassen.[19] Der Religionsvortrag auf den Freiburger Soziologiekongress sollte jedoch dem Band Wege der Kreativität in einer zweiten Auflage zugefügt werden.

Was ist Kreativität? Normalerweise, so Popitz, folgen wir einer anthropomorphen Weltsicht. Anders, wenn es um Kreativität geht. „Kreativ ist der Mensch, weil er fähig ist, der Welt, dem Nicht-Ich mit allozentrischen Ideen zu begegnen“ [20] Was ist damit gemeint? Ein zur Allozentrik oft zu findendes Lehrbuchbeispiel besagt: Wenn Ihr Tanzlehrer Sie darum bittet, einen Schritt nach links zu machen, würden Sie seiner Anweisung umgehend folgen. Was aber, wenn er sagt: „Gehen Sie einen Schritt nach Süden?“ Um das zu tun, kommen Sie mit der egozentrischen Perspektive links von mir nicht weiter. Dazu brauchen Sie eine allozentrische Vorstellung von Himmelsrichtungen. Mit Allozentrik haben wir es schon beim Würfelspiel, dem Spiel mit dem Zufall zu tun. Zufall begreifen wir in seinem eigensinnigen Anderssein.

Die spezifische Kreativität religiöser Ideen, die Eigenart ihrer allozentrischen Leistung besteht nun Popitz zufolge in kreativer Sinnstiftung. Religiöse Ideen „antworten auf irritierende verstörende beängstigende Erfahrungen und geben ihnen in irgendeiner Weise ‚Sinn‘.“[21] Popitz nimmt nicht ratlos machende epochale Zeiterfahrungen in den Blick, die über mehrere Generationen Thema bleiben und zu Verwerfungen im religiösen Feld in Europa geführt haben, wie die Glaubenskriege der frühen Moderne, den revolutionären Enthusiasmus sich wiederholender Revolutionen seit 1789 oder den vieldiskutierten Prozess einer Säkularisierung, sondern anthropologisch begriffene unterschiedliche „sinnlich evidente Erfahrungen“.

Zum Beispiel wird die religiöse Idee der Beseelung der Welt herausgefordert durch Beobachtungen wie die des Sterbens: Bewegungslos und stumm, hat der Körper die Seele verloren, oder durch Beobachtungen des Träumens: Der Träumende verlässt seinen Körper, begegnet Verstorbenen und im Erwachen kehrt die Seele wieder zurück in den Körper. In der Übertragung dieser menschlichen Erfahrung auf natürliche Wesen und Dinge verwandelt sich „die Welt in eine doppelte Realität. Hinter dem, was sichtbar ist, steckt eine unsichtbare Entität.“[22]

Die religiöse Idee eines himmlischen Schöpfergottes wurzelt in „der Erfahrung der Wirkungskraft des Himmels und der Ergriffenheit, die man ‚anschauliche Transzendenz‘ des Firmaments nennen könnte.“[23]

Abhängig von dem, was der Himmel schickt, etwa lebensspendenden Regen, Licht und Wärme, und bedroht vom Entzug dieser Gaben durch Dürre und Flut, wird „hoffend und bangend […] alles beobachtet, was am Himmel erscheint.“ [24] Es ist „die soziale Erfahrung des Übermächtigen“, die „auf die Idee eines Allmächtigen Gottes“ verweist.[25]

Die religiöse Idee von der Überwindung des Todes basiert auf der erfahrenen Gewissheit des Sterbens. Popitz zitiert den jüdischen Religionswissenschaftler Zwi Werblowsky: „Religion beginnt dort, wo Menschen sich mehr mit einem Leichnam beschäftigen als zu seiner Beseitigung notwendig ist.“[26] Solch offenkundige soziale Betroffenheit nährt die Frage nach dem Danach, auf die mit verschiedenen Modi der Überwindung des Todes geantwortet wird. Die religiöse Idee der Überwindung des Leidens schließlich wurzelt nicht nur in der Erfahrung von Krankheit und Alter an, sondern ebenso in Erfahrung von Leid durch Krieg und Verfolgung.

Zusammengefasst: Bestimmte sinnlich evidente Erfahrungen korrespondieren mit bestimmten religiösen Ideen. Auf die Begegnung mit dem Unheimlichen antwortet die Idee der Beseelung der Welt; auf die Ohnmacht des Handelnden antwortet der Glaube an den himmlischen Schöpfergott; auf die Gewissheit des Sterbens und auf die Leidhaftigkeit des Daseins antwortet die Gewissheit der Überwindbarkeit von Tod und Leiden.

Popitz zeigt nun nicht nur nach dem Challenge-Response-Modell den Zusammenhang von Erfahrung und Idee auf, sondern er fragt weitergehend nach der sinnstiftenden Wirkung der jeweiligen Idee, nach entsprechenden Kategorien unseres Empfindens und Denkens, die uns Transzendierungen ermöglichen, und nach der kreativen Leistung der einzelnen religiösen Ideen.[27]

Die Idee einer Beseelung der Welt ist sinnstiftend vermöge ihres Handlungsbezugs. „Das Unheimliche, das der Mensch erfährt, beruht auf Handlungen bestimmter agierender Wesen“.[28] Hinzu kommt, dass die Einzelerklärungen in allen irritierenden Fällen im gleichen Interpretationsmuster erfolgen. Die transzendierende Kategorie, die die Beseelungsidee ermöglicht, ist die „Kategorie des Unsichtbaren“, die zu kreativen Leistungen befähigt. „Mit der Schöpfung der Seelen oder Geister, der Erfindung einer Unkörperlichkeit inmitten der Körperwelt wird die allozentrische Phantasie des Menschen als Weltanschauung produktiv“.[29]

Die Beseelungsidee bleibt im Wesentlichen terrestrisch. „Die Sinnstiftung der Himmelsgott-Idee dagegen ist kosmisch, sie erstreckt sich auf das gesamte vorstellbare Weltall. Kosmologien und Kosmogonien werden denkbar. Sobald der Mensch in den Himmel blickt, beginnt er mit dem Theoretisieren.“[30] Die transzendierende Kategorie ist die des Übermächtigen. „Wo immer überlegene Durchsetzungsfähigkeit vitale soziale Bedeutung gewinnt, entsteht das Bedürfnis, ihr eine übersinnliche Evidenz zuzuordnen. […] Solche Legitimationen schrauben sich hoch mit der Bildung größerer territorialer Verbände.“[31] Kreativ ist, dass die Fantasie hier eine Welt ersinnt, „die in einer neuen Dimension gedacht wird, der Dimension des Grenzenlosen, Unbetretenen, Unbetretbaren. […] Damit kommt ein Gedanke in den Sinn des Menschen, der den Horizont seiner Vorstellungen radikal und definitiv verändert: der Gedanke des Absoluten.“[32]

Die sinnstiftende Wirkung der religiösen Idee einer Überwindung des Todes wird durch einen eindeutigen Handlungsbezug erkennbar gemacht: Der Himmelsgott richtet über Taten und Untaten und fügt somit alles Geschehen in eine umfassende Ordnung. Popitz hebt eine transzendierende Kategorie besonders hervor: die Kategorie der Wiederkehr. Auch jenseits von Religion ist Wiederkehr sinnlich evident. Täglich im Aufgehen der Sonne, in den Rhythmen der Fruchtbarkeit der Vegetation findet die Idee der Wiederkehr ihre Bestätigung, und sie „leitet in vielfacher Weise die Interpretation sozialer Gefüge. […] Die Wiederkehr wird für unser Empfinden und Denken zu einer vertrauten Erwartung. Sie stützt und beschwingt so auch die Hoffnung auf die Wiederkehr der Toten.“[33] Kreativ wird der Gedanke, dass das Jenseits das Ende aller Wiederkehr ist. Tragendes Konzept wird der Begriff der Ewigkeit. Wie immer die Szenarien des Himmlischen Paradieses ausphantasiert werden, einen „völlig neuen merkwürdigen Sinn“ erhält „das tragende Konzept der Ewigkeit, […] wenn der Mensch ihn auf sich selbst überträgt. Eingekehrt in das himmlische Reich existiert er ‘ewig‘. Damit verwandelt sich der Mensch – so eifrig auch am Gedanken der Identität festgehalten wird – in eine essentiell andere Daseinsform. Indem er die allozentrische Perspektive auf sich selbst zurückwendet, ‘alteriert‘ er sich selbst. Er selbst wird der ‘ganz andere‘“.[34]

Die sinnstiftende Kraft der religiösen Idee der Überwindung des Leidens zeigt Popitz am Beispiel zweier Weltreligionen: des jüdischen Messias-Glaubens und des Buddhismus. Es ist dies das einzige Mal, dass er sich auf bestimmte Weltreligionen bezieht. „Die messianische Erwartung einer diesseitigen Erlösung verlagert ebenso wie der Jenseitsglaube die Sinngebung in die Zukunft. Der Sinn wird aus einer imaginierten Zukunft gleichsam herausgeholt und auf die gesamte Geschichte zurück projiziert.“[35] So wird die Überwindung des Leidens im Judentum als ein geschichtliches Ereignis verstanden. Der Buddhismus sperrt sich einer Theologie der Sinnstiftung. „Die Welt, das menschliche Dasein sind sinnlos. Die graduelle Verbesserung der Lebenslage in der Sequenz der Wiedergeburten kann das Leiden nicht überwinden. Dem Leiden kann nur entfliehen, wer sich aus dem Getriebe der Welt löst – aus eigener Kraft, ohne Volk, ohne Geschichte, ohne Gott.“[36] Die Gewissheit der Sinnstiftung ist gesichert in einer frommen Intellektualität und dem Gefühl der Beherrschung der eigenen Affekte.

Die Transzendierungsleistung der Idee der Erlösung von allem Leiden sieht Popitz „in der allgegenwärtigen Kategorie der Befreiung angelegt“.[37] Kreativ ist das „Konzept einer vollkommenen Überwindung allen Leidens in einem Dasein der Leidlosigkeit.“[38] Prozesshaft gesehen, ist diese Überwindung nicht nur eine Fortsetzung empirischer Befreiungen von diesem und jenem Übel, „sondern eine prinzipielle Grenzüberschreitung der Erfahrungswelt. Leidlosigkeit ist das allozentrische Konzept einer Befreiung, die alles menschliche Maß übersteigt.“[39] Judentum und Buddhismus „denken sich die Leidhaftigkeit, die Friedlosigkeit der menschlichen Existenz als etwas, dem ein Ende gesetzt werden kann.“[40]

Jede religiöse Idee nimmt ihren Ausgang von irritierenden, verstörenden, beängstigenden sinnlich evidenten Erfahrungen verschiedenen Typs. Sie werden verbunden mit entsprechenden Kategorien unseres Empfindens und Denkens, die uns Transzendierungen ermöglichen und sich in der Fähigkeit zu kreativen Sinnzuschreibungen zeigen.

Seinen Abschlussvortrag auf dem Freiburger trinationalen Soziologiekongress beendete Popitz 1998 mit den Worten: „Das Andersseiende zieht sich aus dem Lebenssinn zurück. Es scheint so, als vermöge es der Mensch immer weniger, über seinen Schatten zu springen; als könne er sich nur noch zu dem in Bezug setzen, worauf sein eigener Schatten fällt."[41]

  1. Heinrich Popitz, Die Kreativität religiöser Ideen. Zur Anthropologie der Sinnstiftung, in: Claudia Honegger / Stefan Hradil / Franz Traxler (Hg.), Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 29. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, des 16. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, des 11. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg 1998 (Teil 2), Opladen 1999, S. 691–707.
  2. Maria Popitz, Heinrich Popitz. Bilder, Freiburg 2022, S. 76.
  3. Ebd., S. 74.
  4. Heinrich Popitz, Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx, Frankfurt am Main 1967, hier S. 16.
  5. Heinrich Popitz / Hans Paul Bahrdt / Ernst August Jüres / Hanno Kesting, Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen 1957; dies., Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen 1957, S. 6.
  6. Heinrich Popitz, Einführung in die Soziologie, hrsg. und mit einem Nachwort von Jochen Dreher und Michael K. Walter, Konstanz 2011.
  7. Heinrich Popitz, Einführung in die Soziologie, S.76. Ruth Benedict (1887–1948) stand in der von Popitz geschätzten Tradition der amerikanischen Cultural Anthropology, begründet durch den deutsch-amerikanischen Sprachwissenschaftler und Geographen Franz Boas.
  8. Heinrich Popitz, Allgemeine Soziologische Theorie, hrsg. und mit einem Nachwort von Jochen Dreher und Andreas Göttlich, Konstanz 2011, S. 269–282.
  9. Ebd., S. 274.
  10. Ebd., S. 275.
  11. Ebd., S. 276.
  12. Heinrich Popitz, Realitätsverlust in Gruppen, in: Republik und dritte Welt. Festschrift für Dieter Oberndörfer zum 65. Geburtstag, Paderborn 1994, S. 313–321; wieder abgedruckt in: Heinrich Popitz, Soziale Normen, hrsg. v. Friedrich Pohlmann und Wolfgang Eßbach, Frankfurt am Main 2006, S. 175–186. Im Folgenden zitiert nach dieser Ausgabe.
  13. Ebd., S. 179.
  14. Ebd., S. 180.
  15. Heinrich Popitz, Die Kreativität religiöser Ideen. Zur Anthropologie der Sinnstiftung, in: ders., Wege der Kreativität, 2., erweiterte Auflage, Tübingen 2000, S. 135.
  16. Ebd., S. 136.
  17. Ebd.
  18. Ebd.
  19. Ein Band wurde posthum von Friedrich Pohlmann und mir herausgegeben: Popitz, Soziale Normen.
  20. Popitz, Wege der Kreativität, S. 137.
  21. Ebd., S. 136.
  22. Ebd., S. 142.
  23. Ebd., S. 117.
  24. Ebd.
  25. Ebd., S. 163.
  26. Ebd., S. 164.
  27. Ebd., S. 138, S. 144.
  28. Ebd., S. 143.
  29. Ebd., S. 147.
  30. Ebd., S. 152. Über dieses Motiv hat Hans Blumenberg ein geistreiches Büchlein geschrieben: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt am Main 1987.
  31. Ebd., S. 153.
  32. Ebd., S. 155.
  33. Ebd., S. 167.
  34. Ebd., S. 168f.
  35. Ebd., S. 183.
  36. Ebd., S. 184.
  37. Ebd., S. 185.
  38. Ebd., 186.
  39. Ebd.
  40. Ebd., S. 188.
  41. Ebd., S. 192

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Religion

Wolfgang Eßbach

Wolfgang Eßbach lehrte Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. Er war Gründungspräsident der Helmuth-Plessner-Gesellschaft und langjähriger Sprecher der Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 2011/2012 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, 2012/2013 Co-Direktor der FRIAS School of History (Freiburg Institute for Advanced Studies). Wissenschaftliche Schwerpunkte: Kultursoziologie, Religionssoziologie, Anthropologie, Ideengeschichte und Soziologie der Intelligenz. Zuletzt erschien: https://www.soziologie.uni-freiburg.de/aktuell/religionssoziologie-wolfgang-essbach

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Ulrich Bröckling

Alleinordinarius und Bündnispartner

Einführung zum Filmausschnitt „Popitz 1968 in Freiburg“

Artikel lesen

Wolfgang Knöbl

Dynamistische Anthropologie

Georges Balandier und der Bereich des Politischen

Artikel lesen

Newsletter