Dossier
Wissenschaftlerinnen
Zur Situation von Frauen in Academia
„Vielen Dank für Ihre Anfrage“, schreibt eine Wissenschaftlerin in ihrer Antwort auf eine Mail, in der sie um die Übernahme einer ehrenamtlichen Aufgabe im Rahmen eines Peer Review-Verfahrens gebeten wurde. „Ich befinde mich zurzeit im Urlaub und habe familiäre Verpflichtungen, weshalb ich diese Aufgabe so spontan leider nicht übernehmen kann.“ Die zusätzliche Arbeit, die sie ohnehin schon im gepackten Koffer dabeihat, erwähnt sie erst gar nicht. Die darauffolgende Rückmeldung – ebenfalls von einer Frau – ist ebenso knapp wie bezeichnend: „Die Wissenschaft steht nicht still, nur weil jemand Urlaub macht. Man kann das zu jeder Tages- und Nachtzeit von überall auf der Welt erledigen.“ Eine Bemerkung, die der näheren Betrachtung lohnt, ist sie doch symptomatisch für eine Wissenschaftskultur, die grenzenlose Verfügbarkeit zum Ideal erhebt und Sorgeverpflichtungen aller Art (inklusive Selbstsorge) ausblendet. Wer diesen impliziten Normen nicht entsprechen kann oder will, gilt schnell als weniger engagiert, weniger geeignet, weniger exzellent.
Frauen sind hiervon nach wie vor stärker betroffen als Männer. Trotzdem übernehmen auch sie meist das idealisierte Selbstbild der Wissenschaft und stützen, wie im Beispiel geschildert, das System, das sie ausbeutet. Es ist ein System, das auf ununterbrochene Produktivität, Mobilität und Selbstoptimierung ausgelegt ist. Dadurch werden Menschen benachteiligt, die in Beziehung zu anderen leben und Verpflichtungen außerhalb der Wissenschaft haben – unabhängig vom Geschlecht. Zwar tangiert diese Kultur der Dauerverfügbarkeit zunehmend auch Männer, die sich in Care-Arbeit oder Familienverantwortung einbringen, doch das Ungleichgewicht bleibt bestehen. Frauen sind strukturell besonders von privaten wie beruflichen Mehrfachbelastungen und damit einhergehender Überforderung betroffen. Ihre Anpassungsleistungen – inklusive der Leugnung von Überforderung – und Selbstaufopferung werden vom System meist mit weniger Anerkennung belohnt, während das Setzen von Grenzen als mangelndes Engagement bestraft wird.
In diesem Dossier analysieren die Autorinnen aus unterschiedlichen Perspektiven tief verankerte und fortbestehende Geschlechterungleichheiten im Wissenschaftssystem, von den historischen Wurzeln der Differenzkategorien über die politische Semantik der Exzellenz bis hin zu den alltäglichen Mechanismen, die wissenschaftliche Karrieren prägen.
Der historische Ursprung dieser Strukturen lässt sich bis in jene Epoche zurückverfolgen, in der Differenz verwissenschaftlicht wurde. In ihrem Aufsatz „Die longue durée der Deutungsmuster Geschlecht und Rasse. Für eine historische Soziologie von Differenzdimensionen“ zeigt Theresa Wobbe, wie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert die sciences de l‘homme den männlichen Körper und Geist als Maßstab setzten. Abweichungen wurden als Defizite gedeutet und mittels Analogien zu „niederen Menschen“ erklärt. Dieses epistemische Verfahren naturalisierte gesellschaftliche Hierarchien und wirkt bis heute nach.
Vor diesem Hintergrund wendet sich das Dossier der Gegenwart zu, genauer gesagt der wissenschaftspolitischen Auseinandersetzung um Exzellenz und Chancengleichheit, wie sie Heike Kahlert in ihrem Beitrag analysiert. Programme wie die Exzellenzinitiative und die Exzellenzstrategie haben Gleichstellung erst unter politischem Druck berücksichtigt. Dennoch bleibt das Verhältnis „asymmetrisch“: Exzellenz erscheint als objektiv und geschlechtslos, Gleichstellung hingegen als moralische Zusatzaufgabe. In der Praxis fristet sie häufig eher ein Dasein als Randthema, obwohl sie für die Zukunftsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems von zentraler Bedeutung ist.
Die politische Marginalisierung von Frauen spiegelt sich auch in den alltäglichen Routinen wissenschaftlicher Organisationen wider. Diesem Aspekt widmen sich Amrei Bahr und Kristin Eichhorn in ihrem Beitrag „Ziel erkannt, Ziel verfehlt? Warum wir allen Gleichstellungsmaßnahmen zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft zum Trotz auf der Stelle treten“. Der implizite Gender Bias, der tief in akademischen Leitbildern von Genialität, Rationalität und Autorität verankert ist, prägt Wahrnehmung und Anerkennung in der wissenschaftlichen Welt. Frauen werden seltener zitiert, seltener ausgezeichnet. Überproportional häufig übernehmen viele von ihnen Gremienarbeit, die als Dienst, nicht als Leistung bewertet und damit in den Hintergrund gerückt wird. Hinzu kommen physische Überlastung, psychische Belastung, ja sogar sexualisierte Gewalt, die kein randständiges Phänomen, sondern systemisch sind.
Den Abschluss des Dossiers bildet ein Interview mit Anke Lipinsky, Andrea Löther, Nina Steinweg und Lena Weber vom Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung (CEWS) der GESIS. Es richtet den Blick auf die strukturellen Grundlagen und aktuellen Dynamiken wissenschaftlicher Ungleichheit. Im Zentrum steht die Prekarität des akademischen Beschäftigungssystems: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) hält den Großteil des wissenschaftlichen Personals in befristeten Verhältnissen, was insbesondere in der Lebensphase zwischen 30 und 40 Jahren mit Familiengründung, Pflegeverantwortung und sozialer Unsicherheit kollidiert. Das Gespräch zeigt, dass Gleichstellung nicht durch individuelle Anpassung, sondern nur durch strukturelle Reformen, rechtliche Verbindlichkeit und institutionelles Umdenken zu erreichen ist.
Die Konsequenz liegt auf der Hand: Faire Arbeitsbedingungen sind die beste Frauenförderung. Gleichstellung erfordert nicht nur einzelne Programme, sondern strukturelle Reformen. Es braucht unbefristete Beschäftigungsverhältnisse als Regelfall, geteilte Verantwortungskulturen sowie Institutionen, die Sorgearbeit als Teil wissenschaftlicher Praxis anerkennen. Dabei geht es letztlich nicht nur um Gleichheit im Sinne gleicher Chancen für alle, sondern um Gerechtigkeit – um Strukturen, die Unterschiede anerkennen, ohne sie zu hierarchisieren, und die es allen ermöglichen, unter fairen Bedingungen wissenschaftlich zu arbeiten. Nur so lässt sich der Anspruch auf Exzellenz mit dem auf Gerechtigkeit verbinden. Wirksam wäre schließlich eine Gleichstellungspolitik, die „Familienfreundlichkeit“ und „Work-Life-Balance“ nicht als leere Schlagworte, sondern als strukturelle Prinzipien versteht und entsprechend handelt. Beides steht der Logik grenzenloser Verfügbarkeit entgegen – und könnte genau darin ein Korrektiv jener Arbeitskultur sein, die wissenschaftliche Exzellenz mit permanenter Präsenz verwechselt.
Nicole Holzhauser
Theresa Wobbe | Essay
Die longue durée der Deutungsmuster Geschlecht und Rasse
Für eine historische Soziologie von Differenzdimensionen
Heike Kahlert | Essay
„… als hätte Exzellenz ein Geschlecht“
Wie wissenschaftspolitische Funktionseliten über das Verhältnis von Exzellenz und Chancengleichheit denken
Amrei Bahr, Kristin Eichhorn | Essay
Ziel erkannt, Ziel verfehlt?
Warum wir allen Gleichstellungsmaßnahmen zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft zum Trotz auf der Stelle treten
Anke Lipinsky, Andrea Löther, Nina Steinweg, Lena Weber | Interview
Nachgefragt beim Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung (CEWS)
Fünf Fragen an Anke Lipinsky, Andrea Löther, Nina Steinweg, Lena Weber