Amrei Bahr, Kristin Eichhorn | Essay | 14.10.2025
Ziel erkannt, Ziel verfehlt?
Warum wir allen Gleichstellungsmaßnahmen zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft zum Trotz auf der Stelle treten
Seit dem 10. Juni 2021 ist in der deutschen Wissenschaftslandschaft nichts mehr, wie es vorher war. An diesem Tag entstand der Hashtag #IchBinHanna, der eine breite öffentliche Diskussion über die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft anstieß. Dies war unsere zweite große gemeinsame Aktion zusammen mit Sebastian Kubon, nachdem wir bereits im Vorjahr 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) gesammelt und veröffentlicht hatten (unter dem Hashtag #95vsWissZeitVG). Beide Initiativen richten sich gegen das Sonderbefristungsrecht, das dazu führt, dass der überwiegende Teil des wissenschaftlichen Personals eben kein Normalarbeitsverhältnis hat, sondern sich über Jahrzehnte von einem befristeten Vertrag zum nächsten hangelt – in aller Regel, um die Wissenschaft anschließend verlassen und sich beruflich neu orientieren zu müssen. Mit #IchBinHanna ist es uns gelungen, den nötigen Druck aufzubauen, um einen Diskussionsprozess zum WissZeitVG anzustoßen; vor allem aber haben wir damit ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass das, was man in der Wissenschaft lange für selbstverständlich hielt, mitnichten selbstverständlich und schon gar nicht alternativlos ist.[1]
Doch warum hielt man den defizitären Ist-Zustand lange Zeit für unabänderlich und die Wissenschaft für einen Beruf, dessen Ausübung zwingend mit dem Verzicht auf anderswo geltende arbeitsrechtliche Standards und Arbeitsschutzmaßnahmen einhergehen müsse? Ein Teil der Antwort darauf ist, dass das Narrativ bewusst von Wissenschaft und Politik befeuert worden ist, wie der Ursprung von #IchBinHanna belegt. Denn der Hashtag geht zurück auf ein Erklärvideo des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) aus dem Jahr 2018, in dem anhand der fiktiven Biologiedoktorandin Hanna erklärt wurde, wie die rechtlichen Rahmenbedingungen für Befristung in der Wissenschaft ausgestaltet sind – inklusive der freimütigen Ansage, dass diese Bedingungen nötig seien, um wissenschaftliche Innovationskraft zu gewährleisten und zu verhindern, „dass eine Generation alle Stellen verstopft“.[2] Mit anderen Worten: Individuelle Wissenschaftler:innen müssen Opfer bringen, damit die Wissenschaft als Ganze weiter innovativ sein kann und damit zukünftige Wissenschaftler:innen ebenfalls die Chance erhalten, sich wissenschaftlich zu qualifizieren. Wer verzichtet nicht gerne auf berufliche Sicherheit, ein angemessenes Einkommen und Urlaub, um anderen die Möglichkeit zu geben, dieselben prekären Berufserfahrungen machen zu dürfen wie man selbst? Die Antwort lautet: Auf Dauer verzichten nur diejenigen, die es sich leisten können, vielfach also jene, die weder familiäre Verpflichtungen noch gesundheitliche Einschränkungen haben und die über ein solides finanzielles Polster verfügen, mit dem sie auf das Einkommen aus eigener Erwerbstätigkeit nicht allzu dringend angewiesen sind.
Nun ist Hanna – im Gegensatz zu dem im Video außerdem vorkommenden Laboranten Lars, der, wie es heißt, „nach dem normalen Arbeitsrecht“ angestellt ist – eine Frau. Wie wahrscheinlich ist es, dass sie die Kriterien erfüllen kann, um so lange in der Wissenschaft zu bestehen, bis es zum Ruf auf eine Professur auf Lebenszeit kommt (was generell recht unwahrscheinlich ist, ebenso wie der Erhalt einer nichtprofessoralen unbefristeten Stelle[3])? Sehen wir uns das einmal genauer an.
Frauen sind in der Wissenschaft nach wie vor unterrepräsentiert. Das gilt, abgesehen von bestimmten Fächern wie etwa dem Ingenieurwesen oder der Informatik, disziplinübergreifend vor allem auf höheren Karrierestufen: Während bei den Studierenden und Promovierenden das Geschlechterverhältnis noch einigermaßen ausgewogen ist, liegt der Frauenanteil bei Professuren nur noch bei 28 Prozent.[4] Immerhin hat sich in den letzten Jahren der Anteil an Frauen in den Hochschulleitungen deutlich erhöht, nachdem dort lange eine auffällige Dominanz westdeutscher Männer um die 60 zu erkennen war.[5] Freilich hängen solche Zahlen jedoch immer von konkreten Einzelbesetzungen ab. Wie nachhaltig die Entwicklung ist, bleibt abzuwarten. Denn auch in den deutschen Hochschulleitungen gibt es den berühmten Drehtüreffekt:[6] Frauen werden zwar mitunter in diese Ämter gewählt, treffen dann aber auf Widerstände verschiedener Art, die dazu führen, dass ein Ausgleich des Geschlechterverhältnisses nur von kurzer Dauer bleibt und sich nach einiger Zeit wieder die immer noch als Norm geltende Besetzung – „61, männlich, westdeutsch“ – durchsetzt.[7] Kulturelle Veränderungen brauchen Zeit – sie bedürfen aber auch des Abbaus struktureller Hindernisse, die sämtliche Bemühungen um Gleichstellung immer wieder unterlaufen, aller schönen Rhetorik und wohlmeinenden Absichten zum Trotz.
Strukturelle Hindernisse auf dem Weg zur Gleichstellung
Wie an so vielen Stellen glaubt man, die wesentliche Arbeit zum Ausgleich der Unterrepräsentation von Frauen in der Wissenschaft sei mit ein paar wenigen Maßnahmen getan: So wie Angebote von Yoga-, Zeitmanagementkursen oder bewegten Pausen der überall grassierenden Überarbeitung begegnen sollen, statt das eigentliche Problem – zu viele Aufgaben und Anforderungen in zu wenig Arbeitszeit – im Kern anzugehen,[8] schießen in den letzten Jahren und Jahrzehnten überall Förder- und Mentoringprogramme wie Pilze aus dem Boden, mit dem gemeinsamen (wenn auch unterschiedlich verfolgten) Ziel, Frauen bei ihrer wissenschaftlichen Karriere zu unterstützen. Die in diesem Rahmen eingeführten Maßnahmen reichen dabei von der Schaffung von Vernetzungsmöglichkeiten zwecks gegenseitiger Unterstützung über Veranstaltungen zur Erhöhung der Sichtbarkeit von Frauen in der Wissenschaft bis hin zu Förderstipendien, Beratungs- und Trainingsangeboten, bei denen speziell Frauen Tipps erhalten, wie sie in Verhandlungen auftreten und was sie in Berufungsverfahren anziehen sollen, um ihren Chancennachteil gegenüber der männlichen Konkurrenz auszugleichen.
Warum reichen diese Schritte nicht aus – und warum bergen sie im Gegenteil sogar das Risiko, den Status quo indirekt zu stabilisieren? Weil sie nichts an den grundlegenden Strukturen ändern – aber wunderbar geeignet sind, sich in der Annahme einzurichten, man habe bereits genügend getan. So birgt die wahrgenommene Präsenz zahlreicher Frauenfördermaßnahmen die Gefahr, den Eindruck zu erzeugen, es gebe längst genug Bemühungen und das Projekt der Gleichstellung sei dementsprechend schon in hinreichendem Maße vorangetrieben worden. Es tritt also ein gewisser Ermüdungseffekt ein. Und fast automatisch wird die Frage laut, ob nicht durch diese ganzen Versuche gar eine Diskriminierung von Männern betrieben werde – was den Diskurs in gleichermaßen schräger wie ungünstiger Weise zu verschieben droht.
Während nun aber Maßnahmen, die auf Vernetzung und Sichtbarkeit hinauslaufen, immerhin eine positive Wirkung entfalten, indem sie es Frauen ermöglichen, vom Wissen und von der Unterstützung anderer zu profitieren und weibliche Rollenvorbilder zu erhalten, erweisen sich andere Ansätze in ihrer Wirkung als geradezu destruktiv. Schauen wir zunächst auf Stipendien und verschiedene Arten von Stellenausschreibungen, die speziell der Frauenförderung dienen sollen. Was alle diese ‚Förderungen‘ gemeinsam haben, ist ihre Befristung. Das ist keine Besonderheit von Frauenförderung, sondern ein in der Wissenschaft gerne genutztes generelles Instrument, um dem sogenannten ‚Nachwuchs‘ Chancen auf eine wissenschaftliche Karriere zu eröffnen, siehe die oben skizzierte Argumentation aus dem Hanna-Video.[9] Mit Ausnahme der Professur auf Lebenszeit gibt es in der deutschen Wissenschaft so gut wie keine unbefristeten Stellen – und die wenigen, die sich finden lassen, sind nicht selten Teilzeitstellen oder solche mit einem derart hohen Lehrdeputat, dass sie eigene Forschung und Weiterentwicklung nahezu unmöglich machen. Attraktive Karrierewege sehen anders aus.
Auch wenn die Befristung alle in der Wissenschaft Beschäftigten betrifft, leiden Frauen besonders unter der daraus resultierenden Problematik mangelnder Planungssicherheit. Indem sich für die meisten die Frage des dauerhaften Verbleibs in ihrem Beruf erst mit Mitte 40 entscheidet, ist das biologische Alter zwischen 30 und 40 jenes, in dem gerade besonders viel gearbeitet, gependelt und umgezogen werden muss und in dem man bestenfalls Geld zurückgelegt haben müsste, um Phasen von Erwerbsarbeitslosigkeit zwischen den befristeten Verträgen finanziell abfedern zu können. Das sind denkbar schlechte Bedingungen für eine Familiengründung, die für diejenigen, die sie angehen wollen, meist genau in diese Altersphase fällt. Denn gerade mit kleinen Kindern ist kaum eine 80-stündige Arbeitswoche zu leisten, sind tagelange Abwesenheiten durch das Pendeln zum Arbeitsort eine noch größere Herausforderung und so weiter. Die Zahlen zeigen, dass Wissenschaftlerinnen sehr viel häufiger als andere Berufsgruppen ungewollt auf Kinder verzichten, ihren Kinderwunsch also ihrer ‚Karriere‘ opfern, während ihre männlichen Kollegen die Familiengründung in einem höheren Alter noch nachholen können – und das auch häufig tun.[10] Mit anderen Worten: Frauen in der Wissenschaft sind sehr oft gezwungen, sich zwischen der Familiengründung und ihrem gewählten und erlernten Beruf zu entscheiden. Die Folge: Viele Frauen verlassen gerade zwischen Promotion und Habilitation beziehungsweise noch vor dem ersten Ruf die Wissenschaft, weil ihnen in anderen Branchen bessere Bedingungen geboten werden, um Familienleben und Berufstätigkeit in Einklang zu bringen. Sind diese Frauen einmal aus der Wissenschaft ausgeschieden, kehren sie in aller Regel nicht wieder zurück. Für Professuren und Leitungsposten bleiben dann überproportional viele Männer übrig.
Das zeigt bereits, dass es wesentliche Aspekte der bestehenden Problematik verfehlt, wenn Frauen über entsprechende Ratgeberliteratur und Workshops Verhaltensweisen nahegelegt werden, die ihnen dabei helfen sollen, sich durch Verhaltensänderung der dominierenden Männerriege anzupassen. So sehr dies im Einzelfall zum ‚Erfolg‘ führen kann, bleibt die in dieser Weise aufgestiegene Frau ein Einzelfall; das Gesamtsystem jedoch wandelt sich nicht in einer Art und Weise, die den Aufstieg weiterer Frauen signifikant wahrscheinlicher macht. Zudem wirft ein solches Vorgehen die Frage auf, warum es ausgerechnet an den Frauen sein sollte, sich mit ihrem Verhalten anzupassen. Das gilt auch insofern, als hier noch einmal die Frage nach den Persönlichkeitstypen zu stellen wäre, die im aktuellen Wissenschaftssystem besonders gute Chancen haben, sich – auch jenseits praktischer Fragen wie etwa derjenigen danach, wie lange man sich finanzielle Unsicherheit und berufliche Rastlosigkeit leisten kann – zu ‚bewähren‘. Die stark hierarchische Struktur des Wissenschaftssystems, gleichzeitig gekoppelt mit einem unerbittlichen Alles-Oder-Nichts-Wettbewerb,[11] fördert nämlich nicht nur Machtmissbrauch, sondern auch eine ausgeprägte Ellenbogenmentalität, die der gemeinsamen Arbeit am gesellschaftlichen Wohl, wie sie eigentlich im Zentrum der Wissenschaft stehen sollte, zuwiderläuft.[12] Wenn jede:r ständig um die eigene Existenz bangt und mit der eigenen ‚Karriere‘ beschäftigt ist, werden alle anderen in der Wissenschaft Tätigen zur Konkurrenz, die es auszustechen gilt. Zu fragen wäre, ob dieses Setting nicht allzu oft egomanische Genies, Einzelkämpfer:innen und sozial schwieriges Führungspersonal anzieht, unter denen alle ihnen Unterstellten – man muss mitunter sogar sagen: ihnen Ausgelieferten – zu leiden haben. So entsteht ein Arbeitsumfeld, in dem gerade Frauen sich eher nicht wohl fühlen.[13] Die Fähigkeiten und Schwerpunkte, die Mitarbeiterinnen und weibliche Führungskräfte häufiger wertschätzen, sind in der Wissenschaft zum Teil eklatant karriereschädlich; zumindest engagieren und professionalisieren sich Frauen häufiger in Bereichen, die nicht als ‚harte Währung‘ in Berufungsverfahren gehandelt werden: Lehre, Studierendenbetreuung, Teamführung.
#BrennenFürDieWissenschaft – Wie entgrenzte Arbeit Gleichstellung verhindert
Zugleich wird von Frauen in der Wissenschaft anderes – und ungleich mehr – erwartet als von ihren männlichen Konkurrenten. Sie sollen nicht nur im Wettbewerb mit anderen um knappe Ressourcen und Stellen brillieren, indem sie sich mit herausragenden Verdiensten in Forschung und Lehre hervortun. Nein, Frauen müssen darüber hinaus noch einiges mehr leisten, um überhaupt eine Chance zu haben, im Wissenschaftssystem Fuß zu fassen und zumindest mittelfristig dort arbeiten zu können: Von ihnen wird zusätzlich erwartet, dass sie ihrem Umfeld stets freundlich, sogar fürsorglich gegenübertreten. Frauen sollen sich kümmern. Zum Beispiel um ihre Studierenden, die ihnen in Lehrevaluationen einen Strick daraus drehen, wenn sie den Eindruck haben, die weibliche Lehrkraft habe nicht zu allen Studierenden eine persönliche Beziehung aufgebaut. Derweil werden Männer allenfalls für ihre inhaltliche Arbeit kritisiert, nicht aber dafür, sich nicht ausreichend um das Wohl ihrer Studierenden bemüht zu haben.[14] Mit anderen Worten: Selbst, wenn Frauen in ihrem Beruf als Wissenschaftlerinnen hervorragend sind – wenn sie in Forschung, Lehre und so weiter mit ihren männlichen Kollegen mithalten –, reicht das immer noch nicht aus. Sie sollen außerdem noch bitte recht freundlich sein: Gerade in einem männerdominierten Feld wie der Wissenschaft droht ihnen sonst, aufgrund vermeintlicher sozialer Mängel, aussortiert zu werden – etwa, weil sie als feindselig wahrgenommen werden.[15] Das Phänomen ist freilich nicht neu und auch nicht exklusiv für die Wissenschaft: Was bei Männern als durchsetzungsstark gilt, wird bei Frauen als anstrengend wahrgenommen. Gerade von Frauen wird also erwartet, emotionale Arbeit zu leisten, damit es den Kolleg:innen in ihrem Arbeitsumfeld möglichst gut geht.
Wer über diese Zusatzanforderungen hinaus auch im Privaten verstärkt Sorgearbeit leistet, kommt verständlicherweise rasch an eigene Grenzen – und wird zugleich gern als Vorbild dafür verklärt, dass es sehr wohl möglich sei, Familie und Wissenschaft unter einen Hut zu bekommen. Wie das konkret aussieht, wenn dazu auch noch Gremienarbeit kommt, zeigt eindrucksvoll der Podcast Erschöpfte Wissenschaft, in dem die Juraprofessorin Nele Matz-Lück von ihrer 80-Stunden-Woche berichtet – ein Arbeitspensum, das mit einem Burnout sein Ende fand. „Du bist ja auch fast so ein bisschen Modellfrau gewesen: Guck mal, wenn’s eine Nele Matz-Lück schaffen kann, können’s auch andere schaffen“, sagt im Podcast der Coach Marc Dechmann (ab Minute 21:20). Darauf entgegnet ihm Matz-Lück:
„Ja, wobei dieses Modellhafte, das hat mich in Bezug auf eine Thematik sehr gestört: Ich hab meine Habilitation geschrieben und abgeschlossen, als ich schon den Lehrstuhl in Kiel hatte, das heißt einer ganz normalen Professur mit neun Stunden Lehrverpflichtung, zwei kleinen Kindern, und hab es geschafft, das Buch zu schreiben, noch nicht zu veröffentlichen, auch nach mehreren Jahren – aber es zu schreiben. Und das hatte schon einen sehr hohen, auch gesundheitlichen Preis. Und das hinterher – muss ich so sagen – vor allem männliche Kollegen gesagt haben ‚ach guck mal, das geht doch‘, das stört mich schon seit 2017. Weil ich für mich da das Resümee gezogen hab ‚ja, ich hab’s zwar geschafft, aber eigentlich geht es nicht‘. Es geht um einen Preis, den ich niemandem so guten Gewissens auferlegen könnte oder es ist kein Weg, den ich empfehlen würde.“[16]
Die Glorifizierung der Mehrfachbelastung durch entgrenzte Arbeitszeiten und -umfänge in der Wissenschaft in Kombination mit emotionaler Arbeit und Sorgearbeit, deren Last in dieser Gesellschaft insbesondere auf den Schultern von Frauen lastet, lässt völlig außer Acht, was Nele Matz-Lück im Podcast auch eindrücklich adressiert: Dass sie selbst und ihre eigenen Bedürfnisse immer weniger Raum bekommen und freudvolle Tätigkeiten in Beruf und Familie zunehmend auf der Strecke bleiben. Frauen sollen für die Wissenschaft brennen, für ihr soziales Umfeld und ihre Familie! Es sollte niemanden verwundern, dass dabei viele von ihnen ausbrennen, wenn sie nicht rechtzeitig vorher den Ausstieg aus der Wissenschaft vollziehen.
Schließlich soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass Frauen in der Wissenschaft immer wieder mit geschlechtsbezogener Diskriminierung und sogar Gewalt konfrontiert sind. Erschreckende Fälle von Machtmissbrauch haben in den vergangenen Jahren auch mediale Präsenz erhalten. Männernetzwerke in der Wissenschaft begünstigen entsprechende Übergriffe – und die im deutschen Wissenschaftssystem vorherrschende Befristung tut ihr Übriges, um sie zu ermöglichen. Wer in prekären Arbeitsverhältnissen tätig ist, ist einem erhöhten Risiko für sexualisierte Gewalt ausgesetzt.[17] Viele Frauen melden entsprechende Übergriffe nicht, aus Angst um ihre wissenschaftliche Karriere.[18] Dass so sogar mittelbar ein Aufopfern der Selbstbestimmung über den eigenen Körper von in der Wissenschaft tätigen Frauen erwartet wird, ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, der dringend Abhilfe zu schaffen ist.[19]
Die beste Frauenförderung sind faire Arbeitsbedingungen
Trotz der komplexen Problemlage, die zu einer Unterrepräsentation von Frauen in der Wissenschaft führt, könnten die Lösungsansätze kaum einfacher (und offensichtlicher) sein. Um überzogenen Erwartungen bis hin zu Übergriffen Einhalt zu gebieten, benötigen Frauen (wie Wissenschaftler:innen jedweden Geschlechts) in erster Linie eines: ein sicheres Arbeitsverhältnis, das ihnen die Möglichkeit eröffnet, Grenzen zu setzen, ohne dafür mit der eigenen beruflichen Zukunft in der Wissenschaft zahlen zu müssen. Wissenschaftlerinnen sollten sich sicher sein dürfen, dass das Einfordern basaler arbeitsrechtlicher Standards nicht das Karriereaus bedeutet, weil anschließend kein Folgevertrag mehr ausgestellt wird. Dafür sind unbefristete Arbeitsverhältnisse als Regelfall in der Postdoc-Phase und Mindeststandards für Verträge von Promovierenden von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus braucht es eine faire Bezahlung, um (finanzielle) Abhängigkeiten aufzubrechen, die ein Einfallstor für das Durchsetzen problematischer Arbeitsbedingungen sind. Nicht freiwillig gewählte Teilzeitstellen und der Gender Pay Gap in der deutschen Wissenschaft tragen maßgeblich dazu bei, dass Frauen wirtschaftlich bei Weitem nicht so unabhängig sind wie ihre männlichen Kollegen.
Weiterhin sollten Berufungskommissionen und Vorgesetzte bei der Stellenbesetzung eine hinreichende Sensibilität für eigene implizite Vorurteile und unangemessene Erwartungen gegenüber Bewerberinnen entwickeln. Konkret kann das etwa dadurch erreicht werden, dass die Lehrevaluation als Bestandteil von Bewerbungen mit der nötigen kritischen Distanz betrachtet und unangemessene genderspezifische Kritik durch Studierende als solche erkannt und benannt wird. Vor allem aber wäre – nicht nur für Frauen – viel gewonnen, wenn die Arbeitskultur in der Wissenschaft das Opfern mentaler und psychischer Gesundheit nicht weiter als selbstverständlich oder gar wünschenswert auszeichnen und stattdessen Raum schaffen würde für menschliche Bedürfnisse, zwischenmenschliche Beziehungen außerhalb des beruflichen Kontexts und die für ein gutes Leben erforderliche Selbstsorge.
Frauen abzuverlangen, dass sie auf gute Lebensbedingungen verzichten, um beruflich in der Wissenschaft mitwirken zu können, schadet nicht allein den Frauen. Es schadet der gesamten Wissenschaft, weil sich viele exzellent qualifizierte, hochkompetente (potenzielle) Wissenschaftlerinnen vermehrt anderen Berufsfeldern zuwenden. Wer Gleichstellung will, muss die unangemessenen Zusatzerwartungen an Frauen fallenlassen und Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft fairer gestalten: Das längst erkannte Ziel zu erreichen, ist eigentlich ganz einfach.
Fußnoten
- Kerstin Krieglstein, Alternativlos. Unter dem Hashtag #IchbinHanna wehren sich Forschende gegen das Befristen von Arbeitsstellen. Zu Recht?, in: Ordnung der Wissenschaft (2021), 4, S. 209–210.
- Das Video wurde im Zuge des Protests im Juni 2021 von der offiziellen Seite des BMBF gelöscht, ist aber noch auf Youtube zu finden unter: https://www.youtube.com/watch?v=PIq5GlY4h4E.
- Vgl. Amrei Bahr / Simon Pschorr / Geraldine Rauch / Tobias Rosefeldt, Jetzt nicht das Ziel aus den Augen verlieren, in: Der Wiarda Blog, 16.5.2023.
- Zu den Zahlen im Detail vgl. Konsortium: Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs, Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021 (= BuWiN), S. 76–107.
- Vgl. Jan-Martin Wiarda, Richtung 50 Prozent, in: Der Wiarda Blog, 14.5.2024.
- Vgl. Birgitt Riegraf, Die Kompetenz weiblicher Führungskräfte wird kritisch beäugt, in: Forschung und Lehre, 11.1.2024.
- Jan-Martin Wiarda, 61, männlich, westdeutsch, in: Der Wiarda Blog, 27.3.2022.
- Vgl. Amrei Bahr, Mehr Desinteresse an der Arbeit!, in: Deutschlandfunk Kultur vom 19. November 2021.
- Vgl. Amrei Bahr / Kristin Eichhorn / Sebastian Kubon, #IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland, Berlin 2022.
- Vgl. BuWiN 2021, S. 31.
- Dabei ist – von der Hochschulforschung lange kritisiert – ein großer Teil des Wettbewerbs in der Wissenschaft reine Inszenierung mit schädlichen, aber vermeidbaren Folgen (Vgl. dazu Ina Lohaus: Wie Pseudo-Wettbewerbe der Wissenschaft schaden. Interview mit Isabell Welpe und Björn Brembs, in: Forschung & Lehre, 8.5.2019.
- Zu diesen kontraproduktiven Formen des Wettbewerbs in der Wissenschaft siehe auch Amrei Bahr, Welches Risiko? Welcher Wettbewerb? Was Wissenschaft wirklich braucht, in: Newsletter Arbeit in der Wissenschaft vom 17. Oktober 2023.
- Dieser Frage nach geschlechterspezifischen Präferenzen im Arbeitsumfeld gehen beispielsweise nach Peter Kuhn / Marie Claire Villeval, Do Women Prefer a Co-operative Work Environment?, Bonn 2011.
- Vgl. Joey Sprague / Kelley Massoni, Student evaluations and gendered expectations: What we can't count can hurt us, in: Sex Roles 53 (2005), 11/12, S. 779–793.
- Vgl. Madeline E. Heilman / Aaron S. Wallen / Daniella Fuchs / Melinda M. Tamkins, Penalties for success: reactions to women who succeed at male gender-typed tasks, in: Journal of Applied Psychology, 89 (2004), 3, S. 416–427.
- Marc Dechmann / Nele Matz-Lück, Podcast „Erschöpfte Wissenschaft?!“, 28.02.2024; abgerufen am 8.10.2025.
- Vgl. Marvin Reuter / Morten Wahrendorf / Cristina Di Tecco / Tahira M Probst / Antonio Chirumbolo / Stefanie Ritz-Timme / Claudio Barbaranelli / Sergio Iavicoli / Nico Dragano, Precarious employment and self-reported experiences of unwanted sexual attention and sexual harassment at work. An analysis of the European Working Conditions Survey, in: PloS One 15 (2020), 5.
- Heike Mauer schreibt dazu: „Lediglich rund ein Drittel der von sexueller Belästigung betroffenen Wissenschaftler*innen gibt an, dass sie den Vorfall gemeldet hätten. Gefragt nach den Gründen, äußern mehr als die Hälfte, dass sie sich hiervon keine Lösung versprachen, knapp 45 % der Betroffenen befürchteten hierdurch sogar Nachteile. Mehr als jeder zehnten betroffenen Person war eine Beschwerde- bzw. Unterstützungsstelle nicht bekannt. Mit Blick auf die Abhängigkeitsverhältnisse und häufig befristeten Beschäftigungsverhältnisse im akademischen Mittelbau verwundert es nicht, dass sich die Betroffenen sexualisierter Diskriminierung und Gewalt oft nicht beschweren.“ (Heike Mauer, Feindliche Arbeitskultur, sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt. Befunde und Handlungsnotwendigkeiten an Hochschulen, in: DVPW-Blog, 5.2.2025, abgerufen am 8.10.2025.
- Wie stark auch das Riskieren der eigenen körperlichen Gesundheit zugunsten wissenschaftlicher Arbeit unter Wissenschaftlerinnen normalisiert ist, zeigten eindrücklich die Reaktionen auf einen Bluesky-Post von Kristin Eichhorn, in denen Wissenschaftlerinnen von der Weiterarbeit während Krankenhausaufenthalten berichten (s. etwa https://bsky.app/profile/annaneumaier.bsky.social/post/3kdu22rnclz25, https://bsky.app/profile/4linblue.bsky.social/post/3kduc2mkjzd2w und https://bsky.app/profile/beckergroup.bsky.social/post/3kdua3vhr3k2r, abgerufen am 8.10.2025).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nicole Holzhauser, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Care Familie / Jugend / Alter Gender Rassismus / Diskriminierung Universität Wissenschaft
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