Anke Lipinsky, Andrea Löther, Nina Steinweg, Lena Weber | Interview | 14.10.2025
Nachgefragt beim Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung (CEWS)
Fünf Fragen an Anke Lipinsky, Andrea Löther, Nina Steinweg, Lena Weber
Mit welchen Herausforderungen sind weiblich gelesene Wissenschaftler:innen konfrontiert, die für männlich gelesene kaum oder gar nicht relevant sind?
Lena Weber: Wissenschaft hat sich unter Ausschluss von Frauen und Weiblichkeit als ein gesellschaftliches Feld etabliert – eine „World without Women” wie David Noble einst ein Buch zum Thema betitelte. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Tätigkeit nötige und von Vorteil scheinende Eigenschaften und Fähigkeiten wie etwa Rationalität, Erfindergeist, Genialität oder Professionalität sind von jeher stark männlich konnotiert und werden eher männlich gelesenen Personen zugeschrieben. Dadurch haben es Frauen und weiblich Gelesene ungemein schwerer, für ihre Leistungen anerkannt und respektiert zu werden und sich generell einen Ruf als professionelle und rationale Wissenschaftlerinnen zu erarbeiten.
Andrea Löther: Anders ausgedrückt gibt es in der Welt der Wissenschaft immer noch einen starken Implicit Gender Bias[1] aufgrund von Stereotypisierungen. Diese Verzerrungen führen zur Benachteiligung und dem Ausschluss von Frauen, selbst dann noch, wenn Barrieren formal abgebaut sind. Geschlechtsspezifische Kompetenzzuschreibungen[2] tragen zu diesen unbewussten Verzerrungen bei. Medizinerinnen etwa erhalten nachweislich weniger Preise[3] als ihre Kollegen, obwohl sie Gleichwertiges leisten. Ebenso ist nachgewiesen, dass sie seltener als Expertinnen in den Medien zu Wort kommen und weniger häufig in Fachzeitschriften zitiert[4] werden, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Verstärkend kommen Effekte durch homosoziale Netzwerke hinzu, in denen männlich gelesene Wissenschaftler unter sich sind, eher andere Männer auf dem Schirm haben, wenn es um den Besuch von Vorträgen bei Konferenzen,[5] um internationale wissenschaftliche Kooperationen[6] oder um Zitationen geht.
Lena Weber: Für weiblich gelesene Personen und Frauen ergeben sich weitere Herausforderungen und Widersprüche, sobald sie eine Familie gründen möchten. Der wissenschaftliche Lebensstil und die Lebensarrangements in der Wissenschaft sind nicht darauf ausgelegt, dass man sich neben der Karriere auch um Kinder kümmert. Vielmehr wird erwartet, dass man international mobil und stets allzeitlich der Erkenntnissuche verpflichtet ist. Gesellschaftliche Erwartungshaltungen an Frauen und Mütter stehen im starken Kontrast zu den Ansprüchen der wissenschaftlichen Arbeit. Diese Widersprüche müssen von den Individuen größtenteils noch in Eigenregie bewältigt werden und setzen zahlreiche, teils auch unkonventionelle Lösungen voraus, wie etwa Babysitter auf Konferenzreisen oder die Übernahme von Verantwortung im Alltag durch Väter, was bislang immer noch nicht selbstverständlich ist. Neben der organisatorischen Bearbeitung kommt das häufige Gefühl hinzu, gegen „Windmühlen“ ankämpfen zu müssen, das kostet zusätzlich Kraft und Energie. Immerhin ist in Bezug auf derlei Aspekte vermehrt ein Bewusstsein für einen nötigen Wandel auch von struktureller und politischer Seite aus erkennbar,[7] beispielsweise werden an einigen Universitäten Kinderbetreuungsangebote ausgebaut oder Aspekte wie Gleichstellung und Familienfreundlichkeit in die Forschungsförderung aufgenommen.
Nicht zu unterschätzen ist der Umstand, dass auch kinderlose Wissenschaftlerinnen sich mit solchen Widersprüchen konfrontiert sehen, da ihnen unterstellt wird, sie könnten wegen einer etwaigen Familienpause in absehbarer Zukunft ausfallen.
Nina Steinweg: Es wird auch zunehmend anerkannt und thematisiert, dass nicht-binäre beziehungsweise nicht den klassischen Genderstereotypen entsprechende Menschen in der Wissenschaft aufgrund ihrer Geschlechtsidentität besonders häufig Diskriminierung beziehungsweise Mikro-Aggressionen ausgesetzt sind. Solche Diskriminierungen zeigen sich etwa in transfeindlichen Kommentaren, bewusstem Misgendering oder unangemessenen Fragen zu Aussehen, Namen oder Pronomen. Bürokratische Hürden beispielsweise bei der Namensänderung oder dem Eintrag von Pronomen in IT-Systemen tragen außerdem zu einem Othering bei. Problematisch ist hierbei insbesondere, dass es an Policies, Strukturen sowie Beratungsangeboten respektive Beschwerdestellen fehlt.[8] Antidiskriminierungs- oder Diversity-Beauftragte sind nur in wenigen Bundesländern überhaupt im Hochschulgesetz verankert.[9]
Durch den erstarkenden Einfluss rechter und rechtspopulistischer Akteure sowie deren Forderungen stehen Diversity-Aktivitäten und damit auch Beauftragte zunehmend stark unter Beschuss. Auch unter dem Vorwand der Entbürokratisierung werden diese Akteure und ihre Arbeit in Frage gestellt, obwohl der Schutz vor Diskriminierung im Grundgesetz verankert ist.
Gibt es in Bezug auf Geschlechterungleichheiten zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen Unterschiede? Wenn ja, welche und was bedingt sie?
Andrea Löther: Die wissenschaftlichen Disziplinen unterscheiden sich deutlich hinsichtlich der Beteiligung von Frauen, differenziertere Daten zur Geschlechtervielfalt, etwa zu sich als divers oder nicht-binär identifizierenden Menschen, liegen in der amtlichen Statistik der Hochschulen bislang nicht vor. Wenn wir die Frauenanteile anschauen, sind in der Germanistik und den Erziehungswissenschaften etwas über die Hälfte (55 Prozent) der Professuren weiblich besetzt, in der Physik und Informatik sind es dagegen nur 15 Prozent. Aus diesen Zahlen wird häufig geschlossen, dass Gleichstellungsmaßnahmen nur in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern notwendig seien. Nimmt man jedoch den Anteil an Studentinnen und das damit verbundene Potenzial in den Blick, ändert sich das Bild: Sichtbar werden auf diese Weise jeweils fächerspezifische Ausschlussmechanismen an verschiedenen Stellen der wissenschaftlichen Qualifikation. Fast 80 Prozent der Studierenden in der Germanistik und den Erziehungswissenschaften sind Frauen, das heißt, der Frauenanteil fällt folglich bis zur Professur um bis zu 25 Prozentpunkte. Dagegen liegt der Studentinnenanteil in Physik und Informatik bei 29 beziehungsweise 23 Prozent. Auch in diesen Fächern steigen mehr Frauen als Männer aus einer wissenschaftlichen Hochschulkarriere aus, doch ist der Rückgang des Frauenanteils bei Weitem nicht so dramatisch hoch wie in den genannten Beispielen der Germanistik oder den Erziehungswissenschaften. Die Muster zeigen sich übrigens auch, wenn Veränderungen im Studentinnenanteil im Längsschnitt untersucht werden.[10]
In MINT-Fächern wie Physik und Informatik ist die wesentliche Hürde für Frauen folglich schon der Studieneinstieg,[11] unter anderem bedingt durch Geschlechterstereotype, die Technik mit Männlichkeit assoziieren. Dagegen sind Studentinnen in den meisten geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern sowie in lebenswissenschaftlichen Disziplinen wie Biologie, Pharmazie oder Medizin zwar im Studium paritätisch vertreten, geschlechterspezifische Ausschlüsse ergeben sich dann jedoch im weiteren Verlauf der Karriere, vor allem beim Übergang von der Promotion in die wissenschaftliche Weiterqualifikation.[12] Aus unserer Sicht ist es daher wichtig, dass gleichstellungspolitische Maßnahmen die jeweilige Fächerkultur sowie die disziplinspezifischen Ausschlussmechanismen und Karrierebedingungen berücksichtigen.
Welche Entwicklungen zeichnen sich in puncto Gleichstellung und Diversity Management ab? Werden heutzutage andere Schwerpunkte gesetzt als noch vor 20 Jahren? Welche Probleme tun sich bei der Umsetzung von Richtlinien in die Praxis auf?
Nina Steinweg: In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich im Bereich Gleichstellung und Diversity Management einiges verändert – sowohl inhaltlich als auch strukturell. Schlaglichtartig sei hier nur auf die folgenden Entwicklungen hingewiesen: Ein wichtiger Ansatz in beiden Bereichen ist die Entwicklung einer intersektionalen Perspektive auf Ungleichheiten. Das bedeutet, dass nicht nur einzelne Diskriminierungsdimensionen wie etwa Sexismus, Klassismus und Rassismus in den Blick genommen werden. Vielmehr sollen das Zusammenwirken und die Interdependenzen mehrerer Ungleichheitsdimensionen anerkannt und adressiert werden. So banal es klingt, aber ein erster Schritt ist es oftmals schon, sich überhaupt darüber klar zu werden, dass Frauen keine homogene Gruppe sind, sondern individuell von mehreren verschiedenen Ungleichheiten betroffen sein können, je nach Statusgruppe, Gesundheitszustand, sozialer Herkunft und so weiter.
Auch die zentralen Ziele von Gleichstellung im Speziellen haben sich stark verändert: Stand früher unter dem Motto „fixing the women“ die Förderung von Frauen und deren „Anpassung“ an ein männlich geprägtes System im Vordergrund, setzt sich mittlerweile immer stärker die Erkenntnis durch, dass das System und das Wissen der einzelnen Akteur:innen darin verändert werden müssen – „fixing the system“ und „fixing the knowledge“.[13] Dies setzt sowohl eine Umgestaltung der Strukturen und Arbeitsbedingungen als auch einen Kulturwandel und die Erweiterung von Wissensbeständen voraus.
Gleichzeitig herrscht mittlerweile weitestgehend Einigkeit darüber, dass die strukturelle Privilegierung bestimmter Gruppen, die zugleich eine Unterrepräsentanz von Frauen zur Folge hat, durch sogenannte „positive Maßnahmen“ kompensiert werden muss. Ein Beispiel sind hier Mentoringprogramme für Wissenschaftlerinnen, die eingesetzt werden, um den in der Wissenschaft häufig immer noch männlich geprägten Netzwerken und der stärkeren Förderung von Männern etwas entgegen zu setzen.
Diversity Management hingegen hat sich im Feld der Wissenschaft von einem neoliberalen Unternehmenskonzept für die Förderung von „Vielfalt“ zu einem eher schwammigen Überbegriff für Strategien und Maßnahmen mit unterschiedlichen Anliegen wie Vielfalt, Diversität, Chancengerechtigkeit und Antidiskriminierung entwickelt. Hier besteht eine große Herausforderung darin, einerseits Strukturen, die Ressourcenausstattung, flächendeckende Beratungsangebote und Beschwerdestellen zu schaffen und andererseits einem Diversity Data Gap entgegenzuwirken.
Die rechtliche Verankerung von Gleichstellung und Diversity weist starke Unterschiede auf. Während Ende der 1990er-Jahre flächendeckend Landesgleichstellungsgesetze implementiert wurden und die Hochschulgesetze nach und nach verbindlichere Regelungen sowohl für die Arbeit der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten als auch zu Zielquoten, Parität in Gremien und dem Gleichstellungsauftrag etabliert haben, sind Regelungen zu Diversität, Vielfalt und Antidiskriminierung nach wie vor nicht in allen Bundesländern gleichermaßen in den Landeshochschulgesetzen verankert.[14]
Die Gesetze enthalten unterschiedliche Regelungen zu Vielfalt, Diversität und Antidiskriminierung, die sowohl die Aufgaben der Hochschulen als auch die Zuständigkeiten spezifischer Akteure betreffen.[15] Dabei zeigt sich eine erhebliche Bandbreite hinsichtlich Regelungsdichte und inhaltlicher Ausprägung.[16] Einige Bundesländer verfassen konkrete Anforderungen – etwa die Verpflichtung, Konzepte zu Antidiskriminierung und Diversität zu entwickeln und umzusetzen (vgl. § 5b Berliner Hochschulgesetz – BerlHG). Andere formulieren hingegen allgemeine Appelle, Vielfalt zu berücksichtigen und Diskriminierung zu vermeiden. Diese Unterschiede spiegeln zum Teil die Wahrung der Hochschulautonomie wider, teils aber auch einen Mangel an Verbindlichkeit. Wie die gesetzlichen Vorgaben praktisch umgesetzt werden, steht auf einem anderen Blatt. Eine systematische Analyse von Diversity-Konzepten an Hochschulen und zu der Frage, welche Ungleichheiten wie durch welche Maßnahmen und Instrumente adressiert werden, aber auch dazu, wie gesetzliche Grundlagen in den Hochschul- und Landesgleichstellungsgesetzen neben dem AGG verankert sind, steht noch aus.
Im Bereich der universitären Gremienarbeit haben Quotenregelungen in Gremien zu einer höheren Anzahl, zugleich aber auch zu einer strukturellen Überlastung von Frauen* geführt, die sich neben mehr Mitgestaltung auch nachteilig für sie auswirkt, weil Gremienarbeit in Zeitkonkurrenz zu Forschung und Lehre steht.[17] Nun gibt es Bestrebungen von Universitäten, dieser Mehrbelastung etwa durch eine Reduktion des Lehrdeputats entgegenzuwirken, was Wissenschaftler:innen wiederum von ihrer eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit, die zu einem bedeutenden Anteil aus Lehrtätigkeit besteht, abhält. Warum fällt es den Hochschulen so schwer, weitsichtige strukturelle Veränderungen vorzunehmen?
Andrea Löther: Quotenregelungen für Hochschulgremien zielen auf eine gleichberechtigte Teilhabe an Entscheidungen, Gestaltungsmöglichkeiten und damit auf eine Gleichverteilung von Macht. Solche Quoten sind sinnvoll und erfolgreich, wie beispielsweise der – wenn auch langsame – Anstieg des Frauenanteils in Hochschulräten von 20 Prozent im Jahr 2003 auf aktuell 40 Prozent zeigt, der teils auch das Ergebnis gesetzlicher Regelungen ist.[18] Gleichzeitig kann die Mitwirkung an der akademischen Selbstverwaltung – darauf zielt die Frage ja ab – für Wissenschaftlerinnen eine hohe Belastung sein, da der Professorinnenanteil bundesweit bei 29 Prozent liegt und Frauen damit verhältnismäßig deutlich weniger in Gremien vertreten sind als Männer, zugleich aber häufiger als ihre Kollegen in Gremien arbeiten.
Ein struktureller Ansatz kann eine strategische Auswahl der wichtigsten Gremien sein, also solche mit hoher Entscheidungsmacht und vielen Gestaltungsmöglichkeiten, die eine Quotenregelung erhalten, so dass vor allem bei diesen entscheidenden Gremien gewährleistet ist, dass eine höhere Beteiligung von Frauen erreicht wird.
Nina Steinweg: Aber auch Maßnahmen zur Entlastung können vor dem genannten Hintergrund sinnvoll sein. Das umfasst sowohl Lehrdeputatsreduzierungen als auch eine (vermehrte) Zuweisung von Hilfskraftstellen. Da Wissenschaftlerinnen ohnehin mehr Zeit in Lehre investieren als ihre Kollegen und diese Tätigkeit im Hinblick auf die wissenschaftliche Karriere nur eine untergeordnete Rolle spielt, überwiegen die Vorteile dieser Maßnahme. Die in der eingangs gestellten Frage aufgeworfene These, Frauen würde im Bereich der Lehrqualifikation durch eine Entlastung in der Lehre ein Nachteil entstehen, teilen wir nicht. Vielmehr handelt es sich aus unserer Sicht um einen hilfreichen Ansatz.
Eine weitergehende Maßnahme könnte beispielsweise die Öffnung der Berufungskommissionen für Professorinnen anderer Fakultäten oder Fachbereiche sein, um die Arbeitsbelastung auf die Schultern einer größeren Anzahl von Frauen zu verteilen.
Unabhängig von dem Ziel, die Gremienbeteiligung von Frauen zu erhöhen, sollte generell eine Gendersensibilisierung angestrebt werden, die ein Bewusstsein für Geschlechterrollen, -stereotype und -diskriminierung schaffen und Verhaltensänderungen hin zu mehr Gleichstellung fördern kann. Dies wird von vielen Hochschulen durch Angebote wie etwa sogenannte Unconscious Bias Trainings, also Schulungen zur Sichtbarmachung unbewusster Denkverzerrungen und Vorurteile, adressiert.
Sexuelle Belästigung und Übergriffe machen auch vor Universitäten nicht Halt. Haben jüngere Fälle, etwa in Berlin, Göttingen oder München, die medial größere Aufmerksamkeit erlangt haben, einen Wandel im Umgang mit solchen Vorfällen in Gang gesetzt?
Anke Lipinsky: Sexuelle Belästigung und psychische Gewalt in akademischen Einrichtungen sind keine singulären Vorfälle,[19] sondern ein systemisches und wiederkehrendes Phänomen. Etwa jede dritte Person erlebt an ihrer Hochschule selbst sexuelle Belästigung. Unter Frauen und nicht-binären Menschen, Personen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung sowie Menschen, die sich zur LGBQ-Community zählen, sind es jeweils sogar mehr als vier von zehn Personen, die solche Erfahrungen machen.[20] Das haben wir in einer großen europaweiten Umfragestudie, im Rahmen des EU-geförderten Forschungsprojekts UniSAFE[21], herausgefunden. Neben den medial aufbereiteten Fällen von sexueller Belästigung, die immer noch fälschlicherweise als Einzelfälle dargestellt werden, hat insbesondere der aktuelle und umfassende Forschungsbefund aus 46 Hochschulen und Forschungseinrichtungen dazu beigetragen, sexualisierte Übergriffe und Belästigung aus der Tabuzone zu holen.
Eine umfassende Aufarbeitung von Fällen sexueller Belästigung durch die Hochschulen[22] stellt nach wie vor die Ausnahme dar. Vielmehr bestehen übliche Reaktionen der Hochschulen darin, zu prüfen, inwiefern das Geschehene rechtlich greifbar ist und sanktioniert werden könnte. Kulturverändernde Maßnahmen, wie wiederholte und zielgruppenorientierte Sensibilisierungskampagnen, campusweite Prävalenzerhebungen oder verpflichtende Fortbildungen für Personen mit besonderer Verantwortung gegenüber Beschäftigten und Studierenden, werden nur selten ergriffen.
Die Auswirkungen von psychischer Gewalterfahrung und sexueller Belästigung werden nach wie vor unterschätzt. Unabhängig vom Geschlecht erleben Beschäftigte mit Gewalterfahrung eine verminderte Arbeitsmotivation und -produktivität, sie sind generell mit ihrer Arbeit unzufrieden. Zudem ziehen sie sich sozial von den Kolleg:innen zurück, versuchen stattdessen das Team oder gar die Hochschule zu wechseln.[23] Die Gründe dafür, erlebte Übergriffe nicht zu melden, sind vielfältig, sie reichen von der Unkenntnis über Meldestellen bis hin zur Normalisierung gewaltvoller Verhaltensweisen und Sprache im Umfeld der Betroffenen.[24]
Um den Umgang der Hochschulen mit psychischer Gewalt und sexueller Belästigung zu verbessern, sollte insbesondere die Perspektive der gewaltbetroffenen Personen berücksichtigt und anerkannt werden. Da unterschiedliche Gewaltformen mehrfach und oft kombiniert miteinander auftreten, sollten rechtliche und kulturverändernde Maßnahmen in den Bereichen Prävention und Intervention ineinandergreifen. Bestehende Möglichkeiten zum Schutz als auch zur Sanktionierung von Täter:innen werden von den Hochschulen oft nicht ausgeschöpft. Beispielsweise gibt es keine konkreten Vorgaben oder Anleitungen dafür, wie ein anonymes Meldeverfahren funktionieren kann; daher wird es nur an einigen Standorten praktiziert.[25] Die Einführung eines solchen Verfahrens ist wichtig, um Betroffenen die Möglichkeit zu geben, auf Vorfälle aufmerksam zu machen, sich aber gleichzeitig vor möglichen nachteiligen Auswirkungen aufgrund einer namentlichen Beschwerde zu schützen.
Nina Steinweg: Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die sich über geeignete Maßnahmen in der deutschen Wissenschaft informieren wollen, sei neben unserer Forschungsfeldseite[26] auch unsere Datenbank INKA[27] empfohlen.
Fußnoten
- CEWS bei GESIS, Gender Bias in der Wissenschaft, abgerufen am 8.10.2025.
- Corinne A. Moss-Racusin / John F. Dovidio / Victoria L. Brescoll / Mark J. Graham / Jo Handelsman, Science faculty's subtle gender biases favor male students, in: PNAS 109 (2012), 41, S. 16474–16479.
- Thorsten Halling / Viola Mambrey / Jessica Marie Steinert / Roland Seifert / Annegret Dreher / Chantal Marazia / Adrian Loerbroks / Nils Hansson, The Gender Award Gap in German medical societies 2000-2023: the Fritz-Külz-Award as an example, in: Naunyn-Schmiedeberg's Arch Pharmacol 398 (2025), S. 1–10.
- Metavorhaben Innovative Frauen im Fokus, Gender Citation Gap. Ausmaß und Ursachen des Gender Citation Gap und wie man es verringern könnte, abgerufen am 8.10.2025.
- Philipp Aufenvenne / Christian Haase / Franziska Meixner / Malte Steinbrink, Participation and communication behaviour at academic conferences – An empirical gender study at the German Congress of Geography 2019, in: Geoforum 126 (2001), S. 192–204.
- Andrea Löther / Frederike Freund, Gender-Based Homophily in International Research Collaborations, in: Social Sciences 13 (2024), 10, S. 549.
- CEWS bei GESIS, Familienfreundliche Wissenschaft, abgerufen am 8.10.2025.
- vgl. hierzu die Empfehlungen der bukoF: Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (bukof), Geschlechtervielfalt an Hochschulen, abgerufen am 8.10.2025.
- Nina Steinweg / Kristin Poggenburg, Dynamiken der rechtlichen Regelungen von Diversity an Hochschulen, in: Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW 50 (2022), S. 63–67.
- Inken Lind / Andrea Löther, Chancen für Frauen in der Wissenschaft – eine Frage der Fachkultur? Retrospektive Verlaufsanalysen und aktuelle Forschungsergebnisse, in: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 29 (2007), 2, S. 249–271.
- Yves Jeanrenaud, MINT. Warum nicht? Zur Unterrepräsentation von Frauen in MINT, speziell IKT, deren Ursachen, Wirksamkeit bestehender Maßnahmen und Handlungsempfehlungen. Expertise für den Dritten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, hrsg. von der Geschäftsstelle Dritter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, Berlin 2020 sowie Becky Francis / Louise Archer / Julie Moote / Jen DeWitt / Emily MacLeod / Lucy Yeomans, The Construction of Physics as a Quintessentially Masculine Subject. Young People’s Perceptions of Gender Issues in Access to Physics, in: Sex Roles: A Journal of Research 76 (2017), S. 156–174; Anna Erika Hägglund / Markus Lörz, Warum wählen Männer und Frauen unterschiedliche Studienfächer?, in: Zeitschrift für Soziologie 49 (2020), 1, S. 66–86.
- Svea Korff / Inga Truschkat, Übergänge in Wissenschaftskarrieren. Ereignisse – Prozesse – Strategien, Wiesbaden 2022.
- Gendered Innovations in Science, Health & Medicine, Engineering, and Environment, What is Gendered Innovations?, abgerufen am 8.10.2025.
- Nina Steinweg / Kristin Poggenburg, Dynamiken der rechtlichen Regelungen von Diversity an Hochschulen, in: Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW 50 (2022), S. 63–67.
- Vgl. hierzu die Datenbank des CEWS, Gleichstellungsrecht in der Wissenschaft, abgerufen am 8.10.2025.
- Nina Steinweg, Vielfältige Verantwortungen. Anforderungen an diskriminierungssensible Organisationen am Beispiel der Hochschule, in: Supervision. Mensch, Arbeit, Organisation, 40 (2022), 1, S. 19–26.
- Siehe etwa Universität Bielefeld, Commitment für Gleichstellung, abgerufen am 8.10.2025.
- Andrea Löther, Geschlechterspezifische Daten zur Besetzung von Hochschulräten und ähnlichen Gremien, 2023, Datenereport, hrsg. von GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Köln 2024.
- CEWS bei GESIS, Geschlechtsbezogene und sexualisierte Gewalt in der Wissenschaft, abgerufen am 8.10.2025.
- Anke Lipinsky, Expertise zu sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt in der Wissenschaft unter besonderer Berücksichtigung von Vielfalt und Intersektionalität, hrsg. von GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, CEWS/publik 32 (2024).
- CEWS bei GESIS, UniSAFE. Gender-based violence and institutional responses: Building a knowledge base and operational tools to make universities and research organizations safe, abgerufen am 8.10.2025.
- UniSAFE. Ending Gender-based violence in Research and Academia, Home - UniSAFE Toolkit, abgerufen am 8.10.2025.
- Anke Lipinsky, Expertise zu sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt in der Wissenschaft unter besonderer Berücksichtigung von Vielfalt und Intersektionalität, hrsg. von GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, CEWS/publik 32 (2024), S. 21.
- Siehe dazu den Forschungsüberblick CEWS bei GESIS, Geschlechtsbezogene und sexualisierte Gewalt in der Wissenschaft. Forschungsüberblick, abgerufen am 8.10.2025.
- Eine Zusammenstellung von Ressourcen zu Prävention und Intervention findet sich auf der Webseite von CEWS bei GESIS.
- Siehe CEWS bei GESIS, Geschlechtsbezogene und sexualisierte Gewalt in der Wissenschaft, abgerufen am 8.10.2025.
- CEWS bei GESIS, INKA – Datenbank zu Gleichstellungsmaßnahmen in der Wissenschaft, abgerufen am 8.10.2025.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nicole Holzhauser, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Diversity Familie / Jugend / Alter Gender Universität Wissenschaft
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