Raphael Deindl, Johanna Grubner | Rezension |

Ein wirkmächtiges Gegennarrativ zum neoliberalen Kapitalismus

Rezension zu „Care and Capitalism. Why Affective Equality Matters for Social Justice“ von Kathleen Lynch

Abbildung Buchcover Care and Capitalism von Lynch

Kathleen Lynch:
Care and Capitalism
Großbritannien
Cambridge 2021: Polity
248 S., 62,20 EUR
ISBN 978-1-509-54383-0

In ihrem aktuellen Buch Care and Capitalism. Why Affective Equality Matters for Social Justice beschäftigt sich die irische Soziologin Kathleen Lynch mit der Frage, wie und auf welche Weise im neoliberalen Kapitalismus gesellschaftlich notwendige Care-Tätigkeiten wie auch damit verbundene affektive Beziehungen politisch-institutionell ausgelagert, in der neoliberalen Ideologie abgelehnt und dadurch den Maßgaben des Kapitalismus untergeordnet werden. Den Ausgangspunkt ihrer Analyse bilden feministische Debatten, die in der Denktradition der ethics of care stehen, wie auch Lynchs eigene, jahrzehntelange wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Care und social justice.

Lynch untersucht in ihrem Buch „the complex relationship between liberalism, individualism and neoliberalism at an intellectual and cultural level“ (S. 7). Im Anschluss an ihre Diagnose der grundsätzlichen „carelessness of capitalism“ (S. 12) konzentriert sie sich auf jene Aspekte des neoliberalen Kapitalismus, die in vielen Analysen unberücksichtigt bleiben: „the primacy of affective care relations in social life“ (S. 8). Hierbei begreift sie den neoliberalen Kapitalismus nicht nur als rein politökonomisches System, sondern als einen normativ-institutionellen Rahmen mit enormer ideologischer Wirkmacht. Er präformiert Lynch zufolge das wechselseitige Beziehungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft sowohl politisch als auch kulturell: „[…] neoliberalism provides not only an analytical but also a normative framework for understanding the world, explaining it and prescribing how it should be, it has an ideological power that is deeply embedded culturally and politically.“ (S. 3)

Auch wenn in erster Linie Märkte wie auch der Staat die Entwicklungsdynamik kapitalistischer Ökonomien bestimmen, dürfe das Kapital(-verhältnis) nicht zum Gradmesser aller zwischenmenschlichen Beziehungen wie auch damit verbundenen Sinnstiftungen erhoben werden. Vielmehr sei es notwendig, so die Autorin, den analytischen Blick auf das ideologische Fundament des Neoliberalismus zu richten.

Vor ebendiesem Hintergrund plädiert Lynch in ihrem Buch für eine care-zentrierte Betrachtungsweise des Gegenwartskapitalismus, die den Menschen – statt als ein marktgängiges Subjekt (homo oeconomicus) – anhand affektiver Care-Beziehungen (homo curans) in den Blick nimmt. Dies ermögliche es, die Widersprüche und Grenzen auszuloten, die zwischen den gesellschaftlichen Diskursen um Care und der Logik des Neoliberalismus bestehen und die neue Formen sozialer und affektiver Ungleichheit und Ungerechtigkeit hervorrufen (können). Damit knüpft Lynch an feministische wie auch kapitalismuskritische Debatten an, wie sie in den vergangenen Jahr(zehnt)en von Autorinnen wie etwa Joan Tronto, Nancy Folbre oder Nancy Fraser geführt wurden. Im Rekurs auf diese Analysen hebt Lynch die besondere Schlagkraft und Bedeutung des Care-Ansatzes hervor, da dieser ein Gegennarrativ zum neoliberalen Kapitalismus bilde und so auch eine Grundlage sowohl für Fragen nach sozialer Gerechtigkeit als auch für neue Formen widerständiger Politik bieten könne.

Die Bedeutung affektiver Care-Beziehungen

Um ihre Perspektive zu entfalten, geht Lynch in einem ersten Schritt (Part I) auf die zentrale Bedeutung von Care im Sinne vielfältiger Tätigkeits- und Beziehungsformen und eben nicht als einheitliches Ganzes – für kapitalistische Gesellschaften ein. Lynch unterscheidet hier drei Dimensionen: love labour, care labour und solidarity work.

„Much of the scholarship on care treats it as a singular phenomenon. The danger in treating care as an unitary entity is that this potentially invisibilizes the aspects of care labour that cannot be commodified, especially the love labour dimension. While love is part of care, not all care is loving.“ (S. 73)

Obwohl die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus, wie Lynch konstatiert, wesentlich von Care-Arbeiten abhänge, würden die mit Care verbundenen Tätigkeiten gegenüber rein ökonomischen Zwecken in den Hintergrund treten. „As caring focused on producing use value, it is defined in opposition to abstract surplus-value-producing labour, and thereby defined as unproductive and valueless, especially when its unpaid.“ (S. 56) Ebendiese Unterordnung von Care-Arbeit, die Lynch zufolge mit einer geschlechtshierarchischen, klassenspezifischen und migrationsbasierten Arbeitsteilung einhergehe, gilt demzufolge als Ausdruck für die von ihr identifizierte grundlegende Ablehnung (abjection) von Care (S. 52). Wie Lynch betont, hat die unter neoliberalen Vorzeichen vorangetriebene Ökonomisierung, Flexibilisierung, Digitalisierung und Beschleunigung von Arbeit und Leben erheblich dazu beigetragen, dass gegenwärtig die notwendigen Kapazitäten und zeitlichen Ressourcen für love, care und solidarity stetig abnehmen vor allem dann, wenn diese in unbezahlter Form erbracht werden. „Care is made abject by being reduced to a ‚package‘ or marketable, measureable products, in which time for relational work is neither named nor granted.“ (S. 88)

Im Anschluss daran wendet sich Lynch in einem zweiten Schritt (Part II) den Herausforderungen zu, die sich unter der gegenwärtigen Ausformung des neoliberalen Kapitalismus für die von ihr herausgearbeiteten affective care relations ergeben. Sie zeichnet in einer historischen Rückschau nach, wie die Vorstellung vom rational handelnden, autonomen Subjekt sowie die damit einhergehende Zurückweisung und Vernachlässigung von Relationalität und Interdependenz aus dem liberalen Denken hervorgegangen sind und inwiefern wir Care seitdem vorwiegend als ein ethisches, nicht aber als ein Gerechtigkeitsproblem wahrnehmen. Die „perspective of the individual separated person“ (S. 101) sei unter neoliberalen Bedingungen hegemonial und trete in veränderter Form in Erscheinung. Diesbezüglich richtet sich Lynchs analytischer Fokus auf die Frage, „how neoliberalism modified the understanding of individualism in traditional liberal thinking, promoting the ideal of the entrepreneurial self, especially the idea of the individual as a bundle of human capitals“ (S. 115). Entscheidende ideologische Versatzstücke bilden Prinzipien wie competitivenes, equalitiy of opportunity oder meritocracy, welche abermals die von Lynch konstatierten affective care relations in Abrede stellen und in zunehmenden Maße gefährden.

Die Kehrseite von Care

In einem dritten thematischen Abschnitt (Part III) fokussiert Lynch jene Dimensionen des Lebens und zwischenmenschlicher Beziehungen, die die Kehrseite und Gegenspieler von Care darstellen – von Vernachlässigung und Liebesentzug über Hass bis Gewalt. Als regimes of violence (S. 177) fasst Lynch unterschiedliche Ebenen, Kontexte, Mechanismen und Akteurskonstellationen von Gewalt, die kapitalistischen Organisationen systematisch inhärent sind. Sie zeigen sich zum einen explizit in der militärischen oder polizeilichen Gewaltausübung und sind zum anderen strukturell und institutionell durch „foundational violence“ (S. 178), also Gesetze und Politiken, abgesichert. Letztere drücken sich vielfach in Armut, Obdachlosigkeit, Hunger, Demütigung und Exklusion aus. „At times it [violence] is material and symbolic, organized and incidental, legal and illegal, visible and invisible, and both collective and individual […]; it has no clear boundaries; it varies greatly in terms of scope, scale, agency, time and place.“ (S. 177)

Ihr Verständnis von Gewalt erläutert Lynch dabei anhand der Beziehung zwischen Menschen und Tieren. Die grundlegende Abwertung von Tieren als nicht empfindsame respektive fühlende Wesen legitimiere die an ihnen ausgeübte Gewalt, ein Umstand, der sich letztlich auch auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirke. Mit ihrem weiten Gewaltbegriff analysiert Lynch infolge jene strukturellen Gewaltformen, die von staatlichen und kapitalistischen Funktionsweisen ausgehen. Gesetzlich abgesicherte Gewaltausübung in hochkapitalisierten Gesellschaften begreift Lynch demnach nicht im Sinne aktiver oder bewusst gesetzter Handlungen, sondern als Resultat einer Gesellschaftsorganisation, die den Tod von Menschen grundsätzlich in Kauf nimmt. Nicht nur Luftverschmutzung und Umweltzerstörung, die lebensbedrohliche Krankheiten, Hunger und Armut zur Folge haben (können), werden so als Gewaltformen fassbar. Lynch zufolge zeigt sich die strukturelle Gewaltförmigkeit auch in der Kriminalisierung von Armut, welche in Kombination mit rassistischen Strukturen zu einer hohen Inhaftierungsrate armer, überwiegend nichtweißer Menschen führt.

Darüber hinaus geht Lynch auch auf die geschlechtsspezifischen Dimensionen von Gewalt in kapitalistischen Gesellschaften ein, die sie zum einen in den konkreten Gewalttaten erkennt, denen Frauen täglich ausgesetzt sind, zum anderen in der Abwertung von Reproduktions- und Care-Arbeit, wie sie vorrangig Frauen – teils schlecht bezahlt, teils gratis – verrichten. Die dadurch entstehende und aufrechterhaltene finanzielle Abhängigkeit erschwert es vielen Frauen, sich aus beruflichen oder partnerschaftlichen Gewaltverhältnissen zu befreien.

Das Buch schließt mit einer Conclusio (Part IV), die zur intellektuellen, politischen, kulturellen und bildungspolitischen Widerständigkeit gegen die vorherrschende Ideologie des neoliberalen Kapitalismus aufruft.

Die Überwindung des Kapitalismus

Kathleen Lynch legt mit ihrem Buch eine detaillierte Analyse dessen vor, was klassische kapitalismustheoretische Perspektiven häufig aussparen oder als zweitrangig betrachten: die konkreten affektiven Beziehungen zwischen Menschen, ihre gegenseitige Abhängigkeit und Bezogenheit, die sich nicht alleine aus den herrschenden Produktionsverhältnissen ableiten lassen, sondern die ebenso aus den ideologischen, sprachlichen und bedeutungsgenerierenden Funktionsweisen des neoliberalen Kapitalismus erwachsen. Auf diese Weise gelingt es Lynch, die kulturell-ideologischen Aspekte des Kapitalismus wie auch deren Wirkungsweisen in Bezug auf soziale Gerechtigkeit und bestehende Diskurse zu care relations, care ethics und love labour analytisch miteinander zu verbinden.

Weil die Autorin ihren Fokus primär auf die ideologische Beschaffenheit des Gegenwartskapitalismus richtet, bleibt demgegenüber die theoretische Verortung des Kapitalismus als Gesellschaftsformation, die auf einer spezifischen Akkumulations- und (wohlfahrts-)staatlichen Regulationsweise beruht, durch das gesamte Buch hindurch vage. Dadurch bleibt letztlich auch der Aufruf zum Widerstand gegen eine rein kapitalismuszentrierte Ideologie am Ende des Buches uneindeutig:

„[…] the logics of care are antithetical to capitalist logic, in order to learn to know them there is a need to step outside the capitalocentric world of thinking as to what matters politically, economically and socially. It is not possible to generate a new care and social justice language and politics within capitalism's toolbox.“ (S. 213)

An diesem Punkt weist Lynchs Argumentation unweigerlich über care-zentrierte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen hinaus, ohne jedoch konkret zu werden. Vielmehr bedürfe es auch einer spezifischen (nichtkapitalistischen) Produktionsweise, die nicht auf Profitmaximierung und Mehrwerterzeugung sowie der Ausbeutung und Unterordnung reproduktiver Care-Tätigkeit beruhe. Dies sei aber nicht nur eine Frage der Ideologie, sondern auch eine Frage politischer Macht und Herrschaft (Stichwort Hegemonie). Ob und wie Widerstand auf ideologisch-symbolischer Ebene das kapitalistische System verdrängen und überwinden kann, lässt das Buch letzten Endes offen. Ungeachtet dessen bietet die Lektüre für jene LeserInnen, die im Feld der Care-Forschung tätig sind, eine fundierte Verortung und Analyse von Care als potenziell wirkmächtiges Gegennarrativ zum vorherrschenden neoliberalen Credo.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Affekte / Emotionen Care Gewalt Kapitalismus / Postkapitalismus

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Raphael Deindl

Raphael Deindl ist Mitarbeiter am Institut für Soziologie in der Abteilung für Gesellschaftstheorie und Sozialanalysen an der Johannes Kepler Universität Linz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Gesellschafts- und Kapitalismustheorien, Politische Soziologie und Wohlfahrtsstaatsforschung.

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Johanna Grubner

Johanna Grubner, M.A., ist Mitarbeiterin an der Abteilung für Gesellschaftstheorie und Sozialanalysen am Institut für Soziologie der Johannes Kepler Universität Linz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesellschafts- und Kapitalismustheorie sowie Geschlechter-, Arbeits- und Hochschulforschung.

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