Andreas Arndt | Rezension | 11.04.2024
Eine dialektische Überwindung des Kant’schen Vorbilds?
Rezension zu „Prekäres Glück. Adorno und die Quellen der Normativität“ von Peter E. Gordon

Wie ist Kritik in einer Welt möglich, die sich als universeller Verblendungszusammenhang darstellt, und in der das Ganze, nach dem bekannten Diktum Adornos, das Unwahre geworden ist? Mit der Feststellung der Unwahrheit des Bestehenden beruft sich Adorno nicht auf ein normatives Ideal, schon gar nicht auf ein rational begründetes, denn die Vernunft selbst ist „durch den [...] Prozess der gesellschaftlichen Rationalisierung kompromittiert worden“ (S. 15). Sie steht, so wird es vor allem in der Negativen Dialektik ausgeführt, unter dem Zwang zur Identität, durch den sich die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst als eine fugenlose Identität darstellt, die keine immanente Kritik mehr zulässt. Adornos Werk, so Gordon in seinem Buch „Prekäres Glück. Adorno und die Quellen der Normativität“, sei jedoch „nicht das eines ‚Negativisten‘ [...], der glaubte, dass die Welt so viel im Falschen stecke, als dass er nicht in der Lage wäre, eine philosophische Exposition jener normativen Festlegungen vorzunehmen, die seinen eigenen kritischen Bemühungen zugrunde liegen“ (S. 16). Die Behauptung, Adorno habe nur „eine rein negative Geschichte zu erzählen“, sei „irreführend[]“ (S. 18), vielmehr sei sein Werk „von einem normativen Bekenntnis zum Glück oder zum menschlichen Gedeihen motiviert“ (S. 16), wobei – in einer beschädigten Welt – „unsere Glückserfahrung ebenfalls eine prekäre und partielle bleiben“ müsse (S. 17). Mit seiner Orientierung am Glück „in einem wirklich umfassenden Sinne“ begebe sich Adorno in die Nähe zum „griechischen Konzept der [...] Eudämonie“ (S. 20).
Gegen alle negativistischen Interpretationen, die ihn als Denker eines geschlossenen Verblendungszusammenhangs verstehen, macht Gordon wiederholt geltend, dass Adorno sehr wohl auf die Möglichkeit setze, dass alles besser werden könne. Ohne Hoffnung, so wird er zitiert, „würde das Verruchte des Weltlaufs erst recht im Gedanken verewigt und die Schöpfung selber unaufhaltsam zum Werk eines gnostischen Dämons“ (S. 105). Die „Einleitung“ (S. 25–110), die sich kritisch mit dem gegenwärtigen Stand der Adorno-Rezeption auseinandersetzt, ist daher auch mit „Gegen Gnosis“ überschrieben. Dieser Titel greift Adornos eigenen Sprachgebrauch auf, wenn er etwa über Samuel Beckett sagt: „Gnostisch ist ihm die geschaffene Welt die radikal böse und ihre Verneinung die Möglichkeit einer anderen, noch nicht seienden“ (S. 106). Diese Möglichkeit – und hier greift Gordon meines Erachtens zu kurz – widerspricht – anders als es das „Gegen Gnosis“ nahelegt – dem gnostischen Denken jedoch nicht, denn der Gnosis fehlt ja keineswegs eine Konzeption von Erlösung, auch wenn diese weniger durch innerweltliches Handeln zu befördern ist als vielmehr durch Wissen. Michael Pauen hat dazu meines Erachtens nicht zu Unrecht eine Entsprechung im Attentismus des späten Adorno gesehen (S. 36).[1]
Die „Einleitung“ setzt sich exemplarisch mit drei „spezifische[n] Varianten“ der „negativistischen Interpretation“ (S. 36) Adornos auseinander und widmet sich Habermas (S. 37–45), Axel Honneth (S. 46–55) und Fabian Freyenhagen (S. 55–61). Habermas und Freyenhagen kämen darin überein, dass Adorno sich mit seinem Negativismus die Möglichkeit zu einer immanenten Kritik am Bestehenden genommen habe (vgl. S. 60 f.). Für eine solche könne jedoch Honneths Konzept der Anerkennung fruchtbar gemacht werden, sofern man Anerkennung als Beschreibung einer „vorangehenden affektiven Bindung“ verstehe (S. 53). Gordon selbst plädiert dafür, Adorno nicht als „totalisierende[r] Skeptiker“ zu lesen, sondern als Theoretiker, der auf die „immanenten Widersprüche“ des Bestehenden hinweise, die „insofern einen normativen und antizipatorischen Status“ besäßen, „als sie über die bestehende Ordnung hinaus auf eine bessere verweisen“ (S. 77). Dabei gesteht er zu, dass es bei Adorno „eine offensichtliche Antinomie [...] zwischen totalem Negativismus einerseits und dialektischer Immanenz andererseits“ gebe, die aber dadurch aufzulösen sei, dass wir „diejenigen seiner Aussagen, die dem ersterem zuzuordnen wären, als Übertreibungen [...] interpretieren“ (S. 85), denn Adorno habe das rhetorische Mittel der Übertreibung grundsätzlich affirmiert und selbst vielfach angewandt (S. 81 f.). Ebenso wie Marx’ ziele auch Adornos kritische Methode darauf, im Bestehenden aufgrund seiner inneren Widersprüche das „Sollen“ aufzuzeigen (vgl. S. 92). Es komme daher im Begreifen der Realität auf ein „Gespür für Differenz“ an „zwischen dem, wie die Welt ist, und dem, wie sie sein sollte“ (S. 103). Diese Differenz sei jedoch nur erkennbar, wenn man, wie Adorno, die Welt „nicht als ein fugenloses Ganzes betrachtet, sondern als eine mit Widersprüchen durchsetzte Landschaft“ (S. 109).
Damit sind die interpretatorischen Maximen von Gordons Untersuchung umrissen, die sodann in sechs Kapiteln und einem Schlusswort („Gesellschaftskritik heute“) entfaltet werden. Das erste Kapitel (S. 111–166) befasst sich grundlegend mit dem Konzept der immanenten Kritik. Gordon übernimmt hierbei die Prämissen der Negativen Dialektik, deren Hegel-Kritik er weitgehend zustimmend referiert (vgl. z.B. S. 14 f., 121). Das erwähnte Gespür für Differenz verlange einen „mikrologischen Blick“ (S. 118 ff.) auf das Nichtidentische am und im Ganzen, um „einzelne Fragmente der Hoffnung inmitten einer generalisierten Hoffnungslosigkeit zu finden“ (S. 121). Dieses Nichtidentische sei – so die bewusst paradoxe Formel – „derjenige Begriff [...], der sich dem begrifflichen Netz entzieht“ (S. 125), womit implizit das angeblich geschlossene System Hegels kritisiert wird. Das Konzept des Nichtidentischen sei daher auch nicht bei Hegel, sondern bei Kant, genauer: „in Kants Idee des Dinges an sich“ (S. 126) zu verorten. Tatsächlich, so wird noch zu zeigen sein, stellt Gordon Adorno im Folgenden konsequent in einen Kantischen Horizont: „genau so, wie der Begriff des Dings an sich der eines unbestimmten Gegenstands jenseits der Sphäre der Erscheinungen ist, so ist auch der Begriff des Nichtidentischen der Begriff dessen, was sich selbst nicht in die Sphäre der Identität einfügt“ (S. 128). Die Parallelisierung des bestimmungslosen Dinges an sich mit dem Nichtidentischen nötigt zu der Frage, ob solche Unbestimmtheit materialistisch einholbar ist: Verlangt nicht der angemahnte mikrologische Blick gerade die Bestimmung des Einzelnen gegenüber dem Ganzen? Der Vergleich mit Kant stößt für Gordon allerdings an Grenzen, denn das Ding an sich sei eben kein Gegenstand der Erfahrung und unterliege nicht deren Bedingungen, während das Nichtidentische für Adorno „in den Raum der sozialen Erscheinungen eintritt“ (S. 130), womit es zugleich „die Beschädigungen seiner Umwelt“ manifestiere (S. 131).
Die Parallele zum Ding führt hier offenkundig nicht weiter. Als Begriff, der sich den begrifflichen Bestimmungen entzieht, ist das Nichtidentische unbestimmt, während es im Bereich der Erscheinungen beziehungsweise in der Erfahrung Adorno zufolge ebenfalls im Bann der Identität steht und insoweit bestimmt ist. Soweit das Nichtidentische Phänomen ist, das sich dem mikrologischen Blick zeigt, ist es, wie Adorno sagt, „der schale Rest, der übrigbleibt, nachdem die Identifizierung ihr Stück sich weggeschnitten hat“, ein Rest, dem die „Macht des identifizierenden Prinzips eingeprägt“ bleibt (S. 131). Das sind keine sehr klaren Aussagen. Der Widerspruch zwischen dem Bestimmten und dem Unbestimmten, der Identität und der Nichtidentität, wird in den „schalen Rest“ verschoben, womit das Nichtidentische nicht greifbarer wird als zuvor. Die Nichtidentität selbst als Bestimmtheit zu denken und damit den Widerspruch begrifflich zu fassen, verbiete Adorno sich, weil er damit in den Sog Hegels geraten würde, bei dem angeblich „Negativität schon immer ihre Aufhebung und Versöhnung impliziere“ (S. 133). Was resultiere, sei eine Nichtentsprechung von Sache und Begriff (wie diese Nichtentsprechung anders als begrifflich sollte festgestellt werden können, bleibt unklar), die nun aber auch normativ in Anspruch genommen wird: es bleibe die Sehnsucht danach, „dass es keinen Widerspruch geben solle“ (S. 135). Dies sei, so Gordon, „ein lehrreiches Beispiel für eine immanente Kritik“ (ebd.). Daran lassen sich freilich Zweifel anmelden, denn ebenso unklar wie das Verhältnis von Nichtidentität und Identität ist hier der Begriff der Identität selbst. Er steht einerseits für identifizierendes Denken als Herrschaft des Begriffs über die Sache und andererseits für eine Identität, die – was immer das sein mag – „wahr wäre“ (S. 135) und nun als Sollen erscheint. Damit dies Sollen immanent begründet werden kann, müsste freilich gezeigt werden, dass und wie die „wahre“ Identität im Verhältnis der herrschenden Identität zur Nichtidentität schon vorhanden ist. Begrifflich einsichtig wird dies meines Erachtens auch durch die folgenden Ausführungen zur immanenten Kritik und immanenten Transzendenz nicht, obschon die immerhin „fragmentarische Instanziierungen des Guten“ oder „antizipatorische Zeichen“ (S. 154) voraussetzen. Die sind mit dem begrifflichen Raster von Identität und Nichtidentität nicht zu bestimmen, da das Nichtidentische sich immer wieder vom Begriff zurückzieht beziehungsweise von ihm als „schaler Rest“ ausgespuckt wird.
Es scheint, als habe Adorno die auf der theoretisch-begrifflichen Ebene nicht gelöste Problematik in die Praxis verschoben, womit er implizit wiederum Kant folgt, der die im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft (das ist: der theoretischen Vernunft) nicht aufzulösenden Probleme der Metaphysik in die praktische Vernunft verlagert hatte. Dass diese Verlagerung auch Gordons Rekonstruktion der Normativität bei Adorno anleitet, wird deutlich, wenn er attestiert, dass Adorno kindliche Spiele als „bewußtlose Übungen zum richtigen Leben“ (S. 140) dechiffrieren will. Das zweite Kapitel („Menschliches Gedeihen“, S. 167–235) nimmt diesen Faden auf. Die „antizipatorische Vorausschau“ auf das menschliche Gedeihen entstehe durch „materielle Evidenzen“ – die Gordon „ungefähre[] Evidenzen“ nennt (eigentlich eine contradictio in adiecto) – und die Adorno als „Übung“, „Allegorie“ oder „promesse du bonheur“ bezeichnet (S. 170). Es seien auf Erfüllung zielende Erfahrungen menschlichen Glücks in der sinnlichen Welt, an welcher der Begriff des Glücks – trotz der Deformationen jedes Glückszustandes in der Gegenwart – sich ausrichten könne.
Dem menschlichen Gedeihen, das auf Erfüllung des Glücks ziele, liege daher ein „emphatischer“ Begriff des Menschen zugrunde, an dem die bestehende Realität gemessen werde (vgl. S. 175). Hier kommt Hegels Begriff des Widerspruchs ins Spiel, denn die Differenz zwischen der Realität und dem Begriff besteht darin, dass erstere mit sich nicht identisch ist. Daraus folge für Hegel wie für Adorno, dass der Begriff – auch als „emphatischer“ – „an den Istzustand der Welt zurückgebunden“ sein müsse (S. 178). Hegels Fassung des dialektischen Widerspruchs sei jedoch für Materialisten inakzeptabel, denn nach Adorno „glaubt der Idealist, dass die Gleichzeitigkeit von Einheit und Entzweiung ihre Auflösung bereits in einer höheren Identität gefunden habe“ (S. 181), während diese Auflösung für Adorno noch ausstehe. Ungeachtet seines materialistischen Vorbehalts halte Adorno mit Hegels Kritik des Sollens an dem Gedanken einer „Wahrheitsimmanenz“ fest, die jedoch nicht aus dem Begriff entspringe, sondern „vom praktischen Standpunkt aus betrachtet“ in der Praxis der Kritik „vorausgesetzt“ sei; diese Art Wahrheit ähnele, so Gordon, „einem kantischen Postulat“ (S. 184) und müsse „in unserer materiellen Erfahrung“ beziehungsweise – in Adornos Worten – „in dem Leben der Phänomene selber“ gefunden werden (S. 185). Dahinter steht offenbar die Vorstellung, dass ein „emphatischer“ Begriff in dem Sinne normativ sei, „dass er von dem, was sich uns in unserer Erfahrung zeigt, verlangt, dass es besagtem höheren Maßstab gerecht wird“ (S. 190). Ihrer Struktur nach sind diese Begriffe widersprüchlich: „Ein emphatischer Begriff ist und ist zugleich nicht identisch mit seiner empirischen Manifestation“ (S. 196). Woher kommt aber dann sein normativer Gehalt, der ein Sollen in kritischer Distanz zur Realität begründet? Unter Rückgriff auf „einige der tieferliegenden Affinitäten zwischen Adorno und Nietzsche“ (S. 206) beantwortet Gordon diese Frage damit, dass die Geltung der Begriffe aus ihrer Genese, ihrer sozialen Konstitution (S. 208), entstehe: „Unsere Begriffe sind genau aus der Welt heraus geboren, auf die sie reagieren“ (S. 210) Sie können insofern Geltung über ihre Genesis hinaus beanspruchen, als sie – wie zum Beispiel das Konzept der bürgerlichen Freiheit – mehr sind als Ideologie, nämlich zugleich Ideologiekritik (S. 203), sofern ihnen ein Überschuss zu eigen ist, der über die Rechtfertigung des Gegebenen hinaus reicht.
Es ist hier nicht der Ort, auf Adornos Hegelkritik (die Gordon über weite Strecken unkritisch übernimmt) näher einzugehen.[2] Anzumerken ist jedoch, dass Hegel keineswegs am „Ende eines gegebenen Zeitalters“ die Aufgabe der Kritik suspendieren und die Philosophie „auf das bloße Wissen um das Vorhandene beschränken“ will (S. 197 f.). Vielmehr ist das Begreifen der Realität für Hegel zugleich Kritik an ihr (im Wortsinne von κρινειν, auf Deutsch: unterscheiden), indem er zwischen der vernünftigen Wirklichkeit und dem bloß Existierenden unterscheidet. Dass mit der absoluten Idee das Bewusstsein der Freiheit als deren Begriff vollendet wurde, heißt keineswegs, dass, wie eben zitiert, die „Gleichzeitigkeit von Einheit und Entzweiung ihre Auflösung bereits in einer höheren Identität gefunden habe“ (S. 181). Stattdessen kehrt sich der als Idee vollendete Begriff als normative Instanz kritisch gegen die Realität, weil das Vernünftige gelten soll.[3] Adorno (und mit ihm Gordon) verbaut sich den Zugang zu einer solchen dialektisch-kritischen Theorie, die über immanente normative Ressourcen verfügt, indem er sie pauschal mit dem Verdacht überzieht, sie habe die Widersprüche in der Realität schon immer versöhnend aufgehoben. Diese Abwehr bringt Folgeprobleme mit sich, die dann vielfach durch Anleihen bei Kant gelöst werden sollen, der, da er ja Moralität rein in der intelligiblen Welt und nicht in der sinnlichen begründet, wiederum materialistisch übersetzt werden muss. Eine solche Symbiose von Marxismus und Kantianismus ist nicht neu – man denke nur an den Austromarxismus und jüngst an Frank Kuhnes Versuch, die normativen Grundlagen Marx’ bei Kant zu verorten[4] –, allerdings findet sich von beidem keine Spur in Gordons Buch.
Emphatische Begriffe, so Gordon, „ähneln stark den Kant’schen Ideen, insofern sie uns auch dann eine Orientierung im Denken verschaffen, wenn nichts, was uns in unserer empirischen Erfahrung aktuell gegeben ist, uns eine ihnen entsprechende Anschauung bieten kann“ (S. 211). Das mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen, jedoch ist außerhalb des kantischen Theorierahmens die Annahme völlig haltlos, dass Begriffe nur dann Realitätsgehalt haben, wenn sie mit einer Anschauung zusammengehen. Die, wie Marx es nennt, geistige Reproduktion des Konkreten durch Begriffe vermag vielmehr erst zu erklären, was an der empirischen Realität der Anschauung verborgen bleibt. Mit der „Orientierung im Denken“ wird jedoch weniger auf das Begreifen als vielmehr auf eine „immanent-kritische Praxis auf einen unverwirklichten Begriff des menschlichen Gedeihens hin“ (S. 216) abgezielt. In diesem Sinne ähnelt der Glücksbegriff, für Gordon „ein emphatischer Begriff höchster Ordnung“ (S. 218), in dem sich Adornos normatives Konzept konzentriere, „einem kantischen Postulat: Er dient als Anleitung für die Praxis der Kritik und referiert nicht auf einen Gegenstand möglicher [gemeint ist wohl: objektiv gültiger; A.A.] Erkenntnis“ (S. 219). Wie schon beim Rekurs auf das kantische Ding an sich hat auch diese Parallelisierung ihre Grenzen. Während Kant die Begriffe Glück beziehungsweise Glückseligkeit für partikular und damit unzureichend für die Begründung von Moralität hält (vgl. S. 225 f.), stellt Adorno „sich Glück nicht in einem restringierten Sinne als besondere Befriedigung individueller Bedürfnisse oder Wünsche“ vor, sondern „als breit angelegtes Ideal menschlichen Gedeihens unter den Bedingungen sozialer Freiheit“ (S. 226). Der Hauptgrund für Kants Kritik des Begriffs der Glückseligkeit liegt indessen darin, dass sein starker Begriff von Autonomie und Freiheit (den Hegel mit seiner Konzeption sozialer Freiheit kritisiert) nur dann aufrecht erhalten werden kann, wenn das Sittengesetz frei von jeder Heteronomie – und das heißt: von jeder sinnlichen Beimischung – bleibt und intelligible und sinnliche Welt strikt getrennt werden. Adorno kritisiert das, auch wenn er bei Kant eine gewisse Ambivalenz auszumachen meint (vgl. S. 232), aber man fragt sich doch, ob sich die Anleihen bei der Postulatenlehre vor diesem Hintergrund noch rechtfertigen lassen.
Das dritte Kapitel („Materialismus und Natur“, S. 236–276) expliziert in einem Zwischenschritt Adornos Auffassung von „Materialismus“, die auch Marx gegenüber kritisch sei, da dessen Lehre „in einen reinen Determinismus abzukippen drohe“ (S. 242). Um die deterministische Tendenz zu vermeiden, spreche Adorno vorsichtiger vom „Vorrang des Objekts“, das bestimmbar und daher mehr als das „Kantische Ding an sich“ sein müsse (S. 249). Adornos Philosophie sei daher „eine dialektische Überwindung ihres Kant’schen Vorbilds“ (S. 254), indem „das Nichtidentische nicht jenseits aller möglichen Erfahrung als ein unbekanntes und unerkennbares Ding an sich liegt, sondern sich als ein Moment des Widerstands oder des Andersseins offenbart, das für die Welterfahrung selbst konstitutiv ist“ (S. 255). Zu unterscheiden sei dabei zwischen emphatischen, „normativ reichhaltigen“ Erfahrungen einerseits und konventionellen, „normativ verarmten“ Erfahrungen andererseits (S. 257). Erstere eröffneten „einen Blick auf das Nichtidentische“ (S. 259), da die Menschen durch sie „mit der Möglichkeit des Leidens wie auch des Glücks konfrontiert“ werden (S. 262). Da diese Erfahrung eine sinnliche Grundlage habe, bedeute sie zugleich auch das in der Dialektik der Aufklärung proklamierte „Eingedenken der Natur im Subjekt“, das abschließend illustriert wird.
Den Weg „[v]on der Metaphysik zur Moral“ beschreitet das vierte Kapitel (S. 277–310). Erklärt werden soll, was Gordon „Adornos materialistische Moralkonzeption“ nennt (S. 278). Ausgangspunkt ist die von Adorno seit der Negativen Dialektik als „metaphysisch“ bezeichnete Erfahrung (S. 292). Es seien Momente der Erfüllung, einer „komplette[n] Identifikation mit dem Nichtidentischen, die der Identität von Subjekt und Objekt und damit dem (Hegel‘schen) „Begriff des Begriffs“ entspreche (S. 295). Der Status dieser Erfahrung in Adornos Philosophie bleibe jedoch letztlich unklar (S. 296). Diese Unbestimmtheit scheint mir nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es sich hier um eine klassische Unmittelbarkeitsfigur handelt (wie die bereits erwähnten „materiellen Evidenzen“, die nur „ungefähr“ sind, das heißt vielfältig gedeutet werden können). Adorno, so Gordon, wolle „unsere philosophische Aufmerksamkeit auf das Nichtidentische als dasjenige [...] lenken, was die Vermögen des kognitiven Subjekts stets übersteigt“ (S. 297), was wohl meint: was sich dem Begriff entzieht. Damit treten wir wieder in Auseinandersetzung mit Kant, denn die mit der metaphysischen Erfahrung verbundenen „metaphysischen Ideen überdauern nicht als Verweise auf ein jenseitiges oder übersinnliches Reich, sondern nur in der Sphäre unseres moralischen Denkens, wo sie als Postulate für eine diesseitige kritische Praxis eine wichtige Rolle spielen“ (S. 300). Postulate im Kantischen Verständnis sind unmittelbar gewiss und nicht ableitbar; auch materialistisch gewendet behalten sie in Gordons Interpretation diesen Status der Unmittelbarkeit und ersetzen das, was in der Hegel‘schen und Marx‘schen Tradition durch die Arbeit des Begriffs Resultat kritischer Reflexion auf das Bestehende ist. Was Adorno zu dieser Auffassung nötigen könnte, ist meines Erachtens jedoch nicht der Versuch, einen Ausweg aus dem vermeintlichen gnostischen Verhängnis, der durchgängigen Negativität des Bestehenden, zu finden, sondern die Widersprüchlichkeit seines Konzepts von Nichtidentität, das zugleich Begriff und Flucht in die Nichtbegrifflichkeit ist und daher nur Halt an einem vermeintlich Unmittelbaren finden kann.
Es folgen zwei Kapitel über ästhetische Theorie und ästhetische Erfahrung, in denen detailliert und in sehr luziden Interpretationen aufgezeigt wird, wie nach Adorno, vor allem auf dem Feld der Musik, Erfahrungen im emphatischen Sinne, auch metaphysischer Art, möglich sind. Ich gehe hierauf nicht weiter ein, weil die umrissene Grundkonzeption davon unberührt bleibt. Ein „Schluss. Gesellschaftskritik heute“ (S. 405–455) stellt weniger eine Aktualisierung der in der Interpretation Adornos gewonnenen Konzeption dar als vielmehr deren prägnante Zusammenfassung dar. Betont wird unter Verweis auf Marx noch einmal die Rolle der immanenten Kritik (S. 410), in der das normative Ideal (wie etwa in der Arbeiterklasse) nur „beschädigt“ verkörpert sei (S. 411). Hieraus folge ein „Antifundamentalismus“ (S. 412), der das Beschädigte in den Mittelpunkt rücke und in einer „Ethik der Vulnerabilität“ (S. 413) münde. Das moralische Subjekt sei bereit, sich dieser Vulnerabilität zu stellen, während der autoritäre Charakter, der zum Faschismus neige, Härte fetischisiere und sich damit von der (emphatischen) Erfahrung der Verletzlichkeit abschneide (S. 420). Indem Adorno kein starkes autonomes Subjekt hypostasiere, sondern Freiheit mit Hegel als soziale Freiheit denke, sei er auch gegen den Antihumanismus der Postmoderne immun (S. 431 ff.). Statt des Ganzen – so wird anhand Adornos Proust-Interpretation gezeigt (S. 440 ff.) – könnten immer nur „Fragmente“ des Glücks erfahren werden, was jede theologische Erlösungsvorstellung ausschließe, die nur in einer radikal säkularisierten und depotenzierten Gestalt Bestand haben könne.
Peter Gordon hat ein faszinierendes Buch vorgelegt, das auch – und das ist mit Blick auf die Komplexität des Themas besonders hervorzuheben – glänzend geschrieben und übersetzt ist. Seine Interpretation ist für das Verständnis Adornos erhellend, auch wenn man ihm nicht überall zu folgen bereit ist. Sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen zieht Gordons Interpretation daraus, dass sie Adornos Werk im Blick auf das Problem der Normativität eine starke systematische Grundlage gibt. Gordon legt Adorno auf eine Normativität fest, für die Kant geradezu als „Vorbild“ fungiert. Unstrittig spielt Kant im Denken Adornos eine kaum zu überschätzende Rolle, jedoch liegt in der Unterstellung eines Vorbildcharakters Kants – den Gordon bis hin zu Anleihen bei Kants Postulatenlehre ausdehnt – ein systematisches Problem. Hegels Konzeption der Sittlichkeit, die das auch von Gordon stark gemachte Konzept sozialer Freiheit begründet, erwächst ja aus der Auseinandersetzung mit und der Kritik an der Moralphilosophie Kants. Die systematische Begründung und Bedeutung dieser Kritik, die von Marx und im Marxismus weitgehend übernommen wird, geht jedoch in Gordons systematische Rekonstruktion nicht ein, obwohl sich vor ihrem Hintergrund meines Erachtens erst überprüfen ließe, ob Adornos Positionierung gegenüber Kant und Hegel stimmig ist. Gordon zitiert hierzu Stellen aus Adornos Essay Marginalien zu Theorie und Praxis, denen zufolge Hegel und Kant sich quasi wechselseitig korrigieren: Hegel kritisiere die individualistische Moral Kants, löse dabei jedoch den Begriff der Moral auf, indem er ihn ins Politische erweitere (S. 415).[5] Diese Behauptung sollte indes ebenso wenig einfach hingenommen werden wie Adornos Auffassung von Negativität als Nichtidentität und die damit verbundene Hegel-Kritik. Letztere scheint mir vielmehr dafür verantwortlich zu sein, dass Adorno zu Unmittelbarkeitsfiguren getrieben wird, die ihn in die Nähe von Kant rücken. Um eine „dialektische Überwindung“ des „Kant’schen Vorbilds“ (S. 254) handelt es sich dabei aber nicht.
Fußnoten
- In Adornos Marginalien zu Theorie und Praxis heißt es: „Das nicht Bornierte wird von Theorie vertreten. Trotz all ihrer Unfreiheit ist sie im Unfreien Statthalter der Freiheit.“ (Theodor W. Adorno, Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt am Main 1969, S. 173). – Gordon verzeichnet m.E. Pauens Position (und die der Gnostik), indem er unterstellt, Pauen lese Adorno als Gnostiker ohne Erlösungsgedanken.
- Vgl. meine Rezension zu Theodor W. Adorno, Fragen der Dialektik, https://www.soziopolis.de/die-logik-der-sache-und-die-sache-der-logik.html (10.04.3034).
- Vgl. Andreas Arndt, Begreifen als Kritik: Anmerkungen zu Hegel und Marx, in: Hegel-Studien 53/54, Hamburg 2020, S. 209–224.
- Frank Kuhne, Marx und Kant. Die normativen Grundlagen des „Kapitals“, Weilerswist 2022.
- Vgl. Theodor W. Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt am Main 1969, S. 175: „Kants Moral- und Hegels Rechtsphilosophie repräsentieren zwei dialektische Stufen des bürgerlichen Selbstbewußtseins von Praxis. Beide sind, gespalten nach den Polen des Besonderen und des Allgemeinen, die jenes Bewußtsein auseinanderreißt, auch falsch; beide behalten so lange gegeneinander recht, wie nicht in der Realität eine mögliche höhere Gestalt von Praxis sich enthüllt.“
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Gesellschaft Kritische Theorie Philosophie Zeit / Zukunft
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