Daniel Schulz | Rezension |

Eine Wissenschaft für sich

Ein neuer Sammelband widmet sich Alexis de Tocqueville als Analytiker der Demokratie

Harald Bluhm / Skadi Krause (Hrsg.):
Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie
Deutschland
Paderborn 2016: Wilhelm Fink
341 S., EUR 49,90
ISBN 9783770559541

Es ist eine hermeneutische Binsenweisheit, dass Bücher von unterschiedlichen Leser_innen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich interpretiert werden. Sie an dieser Stelle gleichwohl noch einmal in Erinnerung zu rufen, scheint angesichts einer sowohl in der politischen Theorie als auch in der modernen Demokratietheorie immer noch einflussreichen Neigung zu universalen und weitgehend kontextfrei entworfenen Großtheorien jedoch alles andere als überflüssig. Mit dem von Harald Bluhm und Skadi Krause herausgegebenen Sammelband Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie liegt jetzt ein Buch vor, das es sich zum Ziel gesetzt hat, die moderne Demokratietheorie anhand eines ihrer klassischen Autoren an die grundlegende Bedeutung zu erinnern, die Fragen der Kontextualisierung in ihrem Rahmen zukommt. Das Werk des großen Franzosen ist für ein derartiges Unterfangen insofern besonders geeignet, als die von Tocqueville in Anbetracht der tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Transformationen seiner Zeit geforderte „neue politische Wissenschaft“ in folgenreicher Weise mit dem althergebrachten Verständnis der klassischen politischen Philosophie ebenso bricht wie mit dem auf methodische Reinheit fixierten Wissenschaftsideal der Moderne. Ihm zufolge lässt sich die neue, demokratische Gesellschaftsform nur dann angemessen erfassen, wenn die zu ihrer Beschreibung verwendeten Begriffe und Kategorien nicht systematisch geschlossen sind, sondern erfahrungsoffen bleiben. Damit unterscheidet sich die von Tocqueville entwickelte Form der Demokratietheorie nicht nur vom politikwissenschaftlichen Mainstream der Gegenwart, sondern auch von neueren Ansätzen, wie sie im Anschluss an eine neohegelianische Sozialphilosophie mit ihrem Primat normativer Grundbegriffe gegenwärtig etwa in Frankfurt gepflegt werden.

Tocquevilles Hauptwerk Über die Demokratie in Amerika ist nicht nur ein Schlüsselwerk zum Verständnis moderner Demokratien, sondern zugleich ein Text, der selbst zum Gegenstand einer komplexen und verzweigten Rezeptionsgeschichte geworden ist. Während das zweibändige Werk seit seinem Erscheinen in den USA bis heute als Klassiker gilt, ist seine europäische Rezeptionsgeschichte durch eher wechselhafte Konjunkturen gekennzeichnet. So galt das Werk in Frankreich lange Zeit nur wenig und wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam wiederentdeckt. Im deutschsprachigen Raum hat es sogar noch länger gedauert, bis Tocqueville endlich in den erlesenen Kanon der Vordenker und Theoretiker des demokratischen Verfassungsstaats aufgenommen wurde. Noch 1954 etwa suchte Siegfried Landshut in seiner Einleitung zu ausgewählten Schriften Tocquevilles diese eigenartige Interesselosigkeit mit dem Hinweis auf „eine Art geistiger Erblindung gegenüber dem ganzen Bereich des Politischen in Deutschland nach der Mitte des 19. Jahrhunderts“ zu erklären.[1] Während schließlich Ernst Fraenkel und Ralf Dahrendorf Tocqueville zum Gewährsmann ihrer jeweiligen Theorien einer pluralistischen, durch Konflikte und Interessengegensätze geprägten liberalen Gesellschaft erhoben, galten seine Ideen nicht zuletzt den Vertretern der Kritischen Theorie immer noch als unvereinbar mit den Vorstellungen einer echten, materiellen Demokratie.[2]

Harald Bluhm und Skadi Krause unternehmen mit dem vorliegenden, im Anschluss an eine von ihnen organisierte internationale Fachtagung entstandenen Band nun einen neuerlichen Anlauf, der bis heute anhaltenden Vernachlässigung Tocquevilles in Deutschland ein Ende zu bereiten. Nachdem beide bereits durch eine 2006 erschienene sorgfältige Edition kleiner politischer Schriften Tocquevilles die Aufmerksamkeit der deutschsprachigen politischen Theorie neu geweckt hatten,[3] präsentieren sie nun einen klug konzipierten Forschungsband, der neben führenden Vertreter_innen der internationalen Tocqueville-Forschung aus den USA und aus Frankreich auch ausgewählte deutschsprachige Interpret_innen versammelt. Im Mittelpunkt des Bandes steht dabei die Frage nach dem systematischen Gehalt und den historischen Bezügen jener „neuen politischen Wissenschaft“, die Tocqueville sowohl im Vorwort zu seiner Amerikastudie als auch in einem Vortrag vor der Académie des sciences so prominent gefordert und der er die Aufgabe zugewiesen hatte, sich den Herausforderungen durch die neue demokratische Ordnung zu stellen. Wenngleich sich die einzelnen Beiträge mal mehr, mal weniger stark an dieser Leitfrage orientieren, so ist es den Herausgebern doch insgesamt gelungen, den Band mit mehr als nur einem roten Faden zusammenzuhalten: Die Frage nach der genuin politikwissenschaftlichen Analyse der Demokratie erweist sich als hervorragend geeigneter Schlüssel, um das Werk Tocquevilles aus dem ideengeschichtlichen Archiv zu befreien und es in das Arsenal der gegenwärtigen Diskussionen zu überführen.

Während im ersten Teil das Konzept der „neuen politischen Wissenschaft“ auf den Prüfstand gestellt wird, werden im zweiten und dritten Teil die historischen Kontexte und das Aktualisierungspotential von Tocquevilles Theorie der Demokratie ausgelotet. So entsteht ein dichtes Bezugsgewebe, in dem verwandte Fragestellungen aus unterschiedlichen methodischen und theoretischen Perspektiven in den Blick genommen und verschiedene Interpretationsansätze durchgespielt werden. Dem deutschsprachigen Publikum wird auf diese Weise ein breiter Überblick über den Stand und die Deutungsvielfalt der zeitgenössischen Tocqueville-Forschung eröffnet. So führt der Band eindrucksvoll vor, wie ein ideengeschichtlich informiertes und politiktheoretisch reflektiertes Verständnis demokratischer Ordnung heute aussehen kann.

Zu den bemerkenswerten Eigenheiten von Tocquevilles politischer Wissenschaft zählen Krause und Bluhm in ihrer Einleitung die „Pointierung von Paradoxien, Ambivalenzen und nicht-intendierten Handlungsfolgen“ (S. 22). Für die Analyse der modernen Demokratie biete sich ein solcher Ansatz gerade deshalb an, weil er nicht auf systematische Theoriebildung ziele, sondern auf vergleichende empirische Strukturanalysen, in denen sich normative und deskriptive Motive auf ebenso eigentümliche wie erhellende Weise miteinander verschränkten. Dass eine solche Perspektive quer steht zu jüngeren Versuchen, Tocqueville in die Ahnenreihe der modernen empirischen Sozialwissenschaften aufzunehmen, macht Aurelian Craiutu in seiner Kritik an einer entsprechenden Interpretation Jon Elsters deutlich (S. 33–52).[4] Craiutu verweist auf die vielfältigen Schichten in Tocquevilles Werk, die sich gegen eine Assimilierung an das Wissenschaftsverständnis und die positivistische Methodik der political science sperren. Statt eines klar formalisierbaren Ansatzes zeichnet sich Tocquevilles Werk Craiutu zufolge wie kaum ein anderes durch seine besondere methodische Raffinesse aus: Nicht nur die Kombination von induktiven und deduktiven Verfahren und die vergleichende Vorgehensweise, sondern auch der besondere Schreibstil und die rhetorischen Strategien seiner Arbeiten wiesen Nähen zur Tradition der französischen Moralisten auf, ohne dass damit zugleich ein antimoderner, traditionalistischer Impuls verbunden wäre. Im Gegenteil: Wie Craiutu zeigt, ging es Tocqueville nicht zuletzt darum, mit seinen stilistischen Mitteln den besonderen Charakter der Demokratie als einer neuen, sämtliche gesellschaftliche Bereiche durchdringenden Lebensform erst sichtbar zu machen. Für diese Einblicke in die Komplexität einer neuen sozialen Ordnung sei aber gerade eine begriffliche Offenheit notwendig, wie sie in Elsters um Exaktheit und definitorische Präzision bemühter Methodik verloren gehe. In eine ähnliche Richtung weist auch der Beitrag von Walter Reese-Schäfer, der Tocquevilles Schreibstil in den Kontext des damaligen Journalismus und der Pariser Salonkultur stellt (S. 83–90).

Wenn Demokratie mit Tocqueville nicht allein als institutionelle Regierungsform, sondern auch als Lebensform begriffen wird, dann gewinnt die Frage nach der realen alltagspraktischen Erfahrbarkeit ihrer zentralen Leitideen der Freiheit und Gleichheit entscheidende Bedeutung. Als das leitende Thema seiner „neuen politischen Wissenschaft“ identifizieren Bluhm und Krause in ihrem Beitrag über „Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Analyse der Demokratie“ (S. 53–82) denn auch die Suche nach den institutionellen Voraussetzungen, die geeignet sind, genuin demokratische Erfahrungen des gemeinsamen Handelns von Freien und Gleichen zu ermöglichen. Genau aus diesem Grund besäßen die Beschreibungen der kommunalen Selbstverwaltung, des gesellschaftlichen Assoziationswesens und auch des Jurysystems der Judikative für Tocqueville einen so zentralen Stellenwert: Die genannten Einrichtungen eröffneten eben diejenigen Räume, die die Bürger zur Habitualisierung demokratischer Teilhabeerfahrungen befähigten und so langfristig zur Ausbildung und zum Erhalt ihrer politischer Urteilskraft beitrügen.

Wie sehr sich damit Tocquevilles Ansatz von einer an naturwissenschaftlichen Methoden und Fragestellungen ausgerichteten Sozialwissenschaft unterscheidet, weist mittels einer ideengeschichtlichen Kontrastierung zu den seinerzeit wichtigen Gruppen der idéologues und der doctrinaires auch der kenntnisreiche Beitrag von Michael Drolet nach (S. 91–112). Explizit abgegrenzt zum positivistischen Wissenschaftsverständnis der französischen Aufklärung wird Tocquevilles Position aber vor allem von Cheryl Welch, die seinen Ansatz als Reaktion auf einen analytisch als defizitär empfundenen rationalistischen Liberalismus deutet (S. 113–136). Auch wenn Tocqueville etliche Fragestellungen und politische Herausforderungen von Vorgängern wie Condorcet oder Bentham übernommen habe, so unterscheide er sich von diesen doch sowohl durch die Wahl der Kategorien als auch durch die methodisch-theoretischen Antworten. Damit stehe Tocqueville einem politischen Denken näher, das nicht nur die politische Praxis mit all ihren Kontingenzproblemen ernst nehme, sondern auch den Fragen der politischen Urteilskraft und der Erfahrung mit einem feinen Gespür für die Eigenheiten historischer und politischer Kontexte begegne.

Welche Vorteile eine solche Vorgehensweise gegenüber einer von normativ aufgeladenen Evolutionsvorstellungen ausgehenden „rekonstruktiven politischen Theorie“ bietet, verdeutlicht der Beitrag von Hubertus Buchstein und Siri Hummel (S. 225–259), der die methodischen Unterschiede zwischen den Demokratietheorien Tocquevilles und John Stuart Mills herausarbeitet. Dass Tocquevilles „neue politische Wissenschaft“ aber nicht nur in methodischer, sondern auch in sachlicher Hinsicht nach wie vor über Aktualisierungspotential verfügt, zeigt schließlich Oliver Hidalgo, der „Tocqueville im Spiegel aktueller (Post-)Demokratietheorien“ liest (S. 323–341) und dabei vorführt, inwiefern dessen pessimistische Passagen über die Zukunft demokratischer Gesellschaften auch heute noch zu einem besseren Verständnis der Ambivalenz, Agonalität und Antinomien politischer Ordnungen beitragen können. Jenseits der detaillierten Einblicke in das Werk Tocquevilles, die die kenntnisreichen Einzelanalysen vermitteln, hält der Band somit auch noch eine allgemeine Einsicht parat: Er führt vor Augen, dass Demokratisierung eben kein linearer Prozess, sondern eine hochgradig prekäre und voraussetzungsreiche Angelegenheit ist. Wenn sich also die heutige Politikwissenschaft nicht in der Rolle des Notars wiederfinden möchte, der für die Nachwelt lediglich das Ableben moderner demokratischer Ordnungen festhält, dann tut sie gut daran, mit Tocqueville jenen Autor zu konsultieren, der bereits zu Beginn der modernen demokratischen Ära den Möglichkeitsraum der Demokratie mit seinen Entwicklungs- und Verfallspotentialen in seiner ganzen Komplexität zur Anschauung gebracht hat. Die dafür notwendigen Lesehilfen findet sie in diesem Band.

  1. Siegfried Landshut, Einleitung, in: Alexis de Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, hrsg., eingel. u. übers. v. Siegfried Landshut, Stuttgart 1954, S. ix-xxxii, hier S. xii.
  2. Vgl. beispielsweise Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1973, S. 169f.
  3. Alexis de Tocqueville, Kleine politische Schriften, hrsg. v. Harald Bluhm u. Mitw. v. Skadi Krause, übers. v. Skadi Krause u. Joachim Wilke, Berlin 2006.
  4. Vgl. Jon Elster, Alexis de Tocqueville. The First Social Scientist, Cambridge u.a. 2009.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Politische Theorie und Ideengeschichte Politik Philosophie Geschichte der Sozialwissenschaften

Daniel Schulz

Dr. Daniel Schulz ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der TU Dresden und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie des Geschwister-Scholl-Instituts der LMU München. Seine Forschungen beschäftigen sich mit Fragen der Demokratietheorie und des Republikanismus.

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