Sebastian Huhnholz | Interview |

„Theorien können per se nicht richtig sein“

Welche ist Ihre Lieblingstheorie?

Max Webers „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. Aus ziemlich simplen Gründen. Ich hadere immer mit dem Terminus „Theorie“; über den wird sich keine Einigkeit erzielen lassen. Theorien können ja per se nicht richtig sein. Sie sind Deutungsangebote, bieten einen Zugang zu Antworten auf eine für klärungsbedürftig gehaltene Frage. Max Webers Evergreen am Beginn der modernen Sozialwissenschaften finde ich dahingehend aufschlussreich. Denn erstaunlich vieles daran ist unklar. Wenn ich das nicht ganz verkehrt sehe, handelt es sich nur um eine kausale Hypothese über diese empirische Korrelation: gefühlte Ungewissheit führt zu unermüdlichem Selbstzwang. Der Witz daran: Als Weber das formulierte, war das ein alter Hut. Und weil das so war, musste sich seither die halbe Welt immer wieder einen eigenen Reim darauf machen, was Weber eigentlich sagen wollte. Man hat ihn in je eigene Theorien übersetzt, arbeitet sich bis heute global daran ab, alle können mittun. Tolle Sache.

Welchen einer Theorie entstammenden Begriff wenden Sie oft, aber vielleicht nicht immer ganz richtig an?

Demokratie.

Welchen Begriff würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

Aus Fachverbundenheit muss ich kalauern: „Naturzustand“. Aber das hört auf der Insel ja eh niemand. Vielleicht verstehe ich die Frage aber auch nicht ganz. Wenn die Insel eine Arche meinen sollte, würde ich antworten: „Sattelzeit“. Diese missliche Wortschöpfung Reinhart Kosellecks hat einen theoretischen Untergrund, der meines Erachtens interdisziplinär unverzichtbar ist. Im Vorwort zu den Geschichtlichen Grundbegriffen meint „Sattelzeit“, dass sich eine gesellschaftliche Kultur über versprachlichte Vereinheitlichungsimaginationen entwickelt. Gesellschaft wird also in Begriffswandel ‚lesbar‘, denn Leitbegriffe sind „Indikator“ und „Faktor“ dessen, was wir zu sein glauben oder zu werden hoffen. Historische Rekonstruktion und normative Dekonstruktion finden hier zusammen. Das ist ein Schlüssel zu jeder selbstkritischen Gesellschaftstheorie, finde ich. Am Anfang war das Wort. Koselleck selbst nannte übrigens auf die Frage, welche drei Bücher er auf die Insel mitnehmen würde, auch die Bibel.

Welcher Begriff wird so inflationär benutzt, dass er seine Bedeutung eingebüßt hat?

Da kommen etliche in Frage. Evidenz, Polykrise, Populismus, Singularitäten; Sattelzeit ebenso… Das ist aber in Ordnung, mir jedenfalls lieber als das Gegenteil. Keynes, Luhmann und andere haben ja bemerkt, dass jeder öffentliche Gedanke irgendwie auf Theorie zurückgeht. Wir kennen halt keine Ideen oder Begriffe, die geschichts- und vorbildlos wären. Bei einer Begriffsinflation vollziehen Sprechende modische Deutungsangebote mit und ahnen, dass sie dadurch den Bedeutungsraum beeinflussen. Wenn also wenigstens dieses kleine Bewusstsein vorhanden ist, erscheint mir das angenehmer als aus dem (vermeintlichen) Elfenbeinturm der Theorie besserwisserische Zensuren über öffentlichen Sprachgebrauch zu verteilen.

Um die interessante Frage aber nicht abzubügeln: Ein ganz heißer Kandidat ist derzeit „Identität“. Der lange rechtskonservativ besetzte Kampfbegriff ist ein diskursives Konkurrenzkonzept geworden. Die vielbehauptete jüngere Aufladung zu einem bloß, mit Verlaub, „woken“ Klassenbegriff in milieuspezifischen Bubbles ist soziologisch enorm interessant. Denn bisweilen werden ja tatsächlich – nicht selten im Gestus der Solidarität, Emanzipation und Empörung – advokatorische Wohlgefühle Privilegierter vertuscht, auf die ein beispielsweise xeno- und homophobes Lager dann billig reagieren kann und umgekehrt. Aktuell kann sich in den Identitätsbegriff offenbar jede noch so abwegige Paranoia geradezu einnisten. Gefälliges Elitenbashing, Demokratie- und Parteienskepsis einer sich abgehängt wähnenden Mitte in der „Abstiegsgesellschaft“ und verschwörungstheoretische Wissenschaftsfeindlichkeit im Namen der Meinungsfreiheit finden aber gefährlich zusammen, wenn sich unter dem Label der Identitätsbehauptung alle in bedrohten Minderheitenpositionen inszenieren und wahlweise militante Selbstradikalisierung oder biedermeierlichen Rückzug als rationalsten Ausweg empfinden.

Mit welcher Theorie würden Sie versuchen, ein Date zu beeindrucken?

Gute Frage, so praktisch. Der begrenzte Zeitrahmen legt etwas Kurzes nahe und das muss zur vielleicht schüchternen Atmosphäre passen? Also, ich lege dann zwei Büchlein auf den Tisch oder Tresen oder was auch immer. Dann lesen wir das irgendwie still und müssen das auch glaubhaft verstehen können in so kurzer Zeit. Der Stoff darf nicht schwadronieren, aktualistisch oder ewig wirken oder plump durch die Blume. Und dann ist das ja auch noch ein Test – wer steht wo und so. Echt schwierig. Ich würde sagen, vieles spricht für Adolf Loos’ Ornament und Verbrechen und für Carl Schmitts Theorie des Partisanen, je nachdem, wohin das alles noch führen soll.

Wer hat das schönste Theoriedesign?

Ästhetisch besehen? Charles Darwin, Sigmund Freud und erwähnter Reinhart Koselleck nach Antritt seiner Professuren. Der Stil, mit dem diese Schriftsteller, ja: Schriftsteller, ihr Forschungsdenken in bestechende Formulierungen kleideten, fasziniert mich. Das weiche Tasten, das bestimmte und doch offene Anbieten von Deutungsmustern, die von konkreten Problemstellungen auf verallgemeinerbare Fragen höherer Relevanz verweisen… Diese, pathetisch gesagt, Menschlichkeit beim Schreiben hat etwas Melancholisches. Es erinnert daran, was Wissenschaft einmal sein wollte und sein durfte. Ich mag diese Art jedenfalls sehr, weil die Genannten einerseits ganz erkennbar darauf zielten, dass ich mitdenken soll. Andererseits geben sie auf einer sehr angenehmen Ebene zu erkennen, dass sie auf Augenhöhe mitteilen und einfach verstanden werden wollen. Das haut mich bei jedem Lesen immer wieder um. Rein methodisch besehen dagegen würde ich einfach sagen: Thomas Hobbes. Sein Leviathan, der die vorangegangenen Suchbewegungen rigoros perfektioniert, ist aus meiner Sicht die einflussreichste Grundlage ‚westlicher‘ Zivilisation, ein Platon der Neuzeit. Ohne Hobbes kein Liberalismus, kein Kant, kein Marx, kein Grundgesetz.

Stellen Sie sich vor, Sie könnten nicht die Theorie der sozialen Welt, sondern die Welt der Theorie anpassen. Für welche würden Sie sich entscheiden?

Da man wenigstens bei den politischen Großtheorien gewöhnlich Gesellschaftstheorie und Sozialphilosophie mitkaufen muss, würde ich dazu neigen zu antworten: keine. Das schließt nebenbei schon mal Entscheidungstheorien aus, Schmitt, Weber, Habermas etc. In einem Staat von Aristoteles, Schumpeter, Arendt usf. würde ich auch nicht freiwillig leben wollen – mit denen gern. Eine möglichst einfache, kluge, soziale, einfühlsame, nachsichtige, demütige, höfliche, schöne und neugierige Theorie sollte es aber schon sein. Mitbewohnt auch von den Metawesen der Disziplin wie dem durch unsere Texte geisternden „Gesellschaf“, der „Repräsentante“ und der „Kompoente“. Darunter geht’s nicht.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Demokratie Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaft Gesellschaftstheorie Philosophie Politische Theorie und Ideengeschichte Wissenschaft

Sebastian Huhnholz

Sebastian Huhnholz ist Politikwissenschaftler im Bereich der Politischen Theorie und Ideengeschichte und forscht zu Fragen demokratischer Staatsfinanzierung. Er ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe „Monetäre Souveränität“ am Hamburger Institut für Sozialforschung und gibt mit Aaron Sahr und Eva Weiler den „Leviathan“-Sonderband 2025 über „Politische Theorien öffentlicher Finanzen“ heraus.

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