Sarah Miriam Pritz | Literaturessay |

Emotionales Dynamit

Literaturessay zu „Explosive Moderne“ von Eva Illouz

Eva Illouz:
Explosive Moderne
aus dem Englischen von Michael Adrian
Deutschland
Berlin 2024: Suhrkamp
S. 447, 32 EUR
ISBN 978-3-518-43206-8

Neben vielen anderen Dingen ist die Moderne auch die Epoche, in der die Explosion kontrollierbar wurde: Kaum etwas steht so sehr für die moderne Vorstellung von der Domestizierbarkeit der Natur wie die Erfindung eines handhabungssichereren Detonationssprengstoffes durch Alfred Nobel im Jahr 1866, die dem Bau von Straßen, Tunneln und Eisenbahntrassen, kurz: der Industrialisierung, mit einem lauten Knall den Weg ebnete. Auch als soziale Formation birgt die Moderne explosives Potenzial: Sie gilt als die Epoche der Befreiung von Individuen aus traditionalen Bindungen, der kapitalistischen Entfesselung des freien Marktes sowie der Demokratisierung und Liberalisierung der Politik. Keine Detonation allerdings – egal ob im buchstäblichen oder übertragenen Sinn – kommt ohne Verwüstungen und Verwerfungen aus. Auf gesellschaftlicher Ebene zeigen sich diese gestern wie heute in Phänomenen wie sozialer Ungleichheit, politischen Konflikten und individuellem Leid. Über diese Janusköpfigkeit von Modernisierungsprozessen, die zugleich neue Chancen wie neue Risiken hervorbringen, wurde seit den Anfängen der Soziologie viel geschrieben. Die Moderne als zutiefst widersprüchliche Gesellschaftsordnung ist in gewisser Weise das Kernthema der Soziologie schlechthin, dem sich Eva Illouz als eine der einflussreichsten Soziologinnen der Gegenwart nun aus dem Blickwinkel der Gefühle widmet.

Ihr neues Buch trägt den Titel Explosive Moderne. Es analysiert die sozialen und kulturellen Figurationen der westlichen Moderne hinsichtlich der mit ihnen einhergehenden emotionalen Dynamiken. Nun ist die Moderne in der soziologischen Klassik bekanntlich gerade als jene Sozialordnung beschrieben worden, die sich allen voran durch eine weitreichende Rationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auszeichne. Demgegenüber liefert Eva Illouz den überzeugenden Nachweis, dass die Moderne ohne die Berücksichtigung ihrer emotionalen Verfasstheit nicht angemessen verstanden werden könne. Sie untersucht die Moderne hinsichtlich ihrer spezifischen Gefühlskonstellationen, die die institutionellen Arrangements der Moderne gleichzeitig stabilisieren wie ins Wanken bringen, indem sie ihre inneren Widersprüche und Konflikte buchstäblich ‚spürbar‘ machen. Eva Illouz schreibt sich damit in die anhaltende gesellschaftstheoretische Debatte über die Paradoxien westlicher Gegenwartsgesellschaften[1] ein und verknüpft diese mit den einander widerstreitenden emotionalen Kräften, die die Moderne seit ihren Anfängen unter Hochspannung setzen. Im Geiste dessen, was man eine Kritische Theorie der Emotionen nennen könnte, misst Illouz (spät-)moderne Gesellschaften an ihren eigenen Ansprüchen, blickt auf nicht-intendierte Nebenfolgen von Modernisierungsprozessen und fordert nachdrücklich dazu auf, Gefühle systematisch in die soziologische Gesellschaftstheorie einzubeziehen.

Dieses Anliegen der Autorin ist nicht neu, rückt sie doch seit bereits gut zwanzig Jahren Gefühle unter das Brennglas der Gesellschaftsanalyse. Explosive Moderne kann mit seiner emotionssoziologischen Grundsatzbefragung der Moderne dabei durchaus als Zusammenschau ihrer bisherigen Arbeiten gelesen werden, die sich allesamt dem Studium von scheinbar subjektiven Gefühlen und ihren Wechselwirkungen mit der kapitalistischen Konsum- und Wettbewerbsgesellschaft widmen. Eva Illouz hat sich eingehend mit den Verwicklungen von ökonomischen Logiken und intimen Beziehungen auseinandergesetzt, hat Leser:innen auf der ganzen Welt aus soziologischer Perspektive erklärt, warum Liebe weh tut und warum sie endet.[2] Auch die therapeutische Kultur und moderne Glücksindustrie hat sie einer umfassenden soziologischen Kritik unterzogen[3] und nachgezeichnet, wie Gefühle in der postindustriellen Ökonomie selbst zu Waren geworden sind.[4] Zuletzt galt ihr Interesse den emotionalen Grundlagen des Populismus am Beispiel ihres Heimatlandes Israel.[5] All diese Perspektiven und Analysefelder finden sich in zusammengeführter und weiterentwickelter Form in Explosive Moderne.

In dieser Stoßrichtung, gleichermaßen die soziale Prägung von Gefühlen wie die emotionalen Grundlagen der sozialen Wirklichkeit offenzulegen, schließt Illouz insgesamt an die allgemeine Perspektive der sozial- wie kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung[6] an, zu deren prominentesten Vertreter:innen sie gehört. Eva Illouz‘ Arbeiten stehen dabei insbesondere für einen kultursoziologischen Zugang zu Gefühlsphänomenen, welcher das Verständnis von Emotionen als grundlegende Modi der Selbst- und Welterfahrung mit dem kultursoziologischen Interesse für die kulturelle Konstituiertheit und symbolische Ordnung der sozialen Welt verbindet.[7] Illouz‘ Arbeiten können allerdings auch als Beispiel für eine gelungene Anwendung verschiedener theoretischer Perspektiven auf Emotionen gelten. Ihr Werk ist zwar genuin kultursoziologisch grundiert, ihr Blick auf Emotionen aber ebenso umfassend von stärker strukturalistisch ausgerichteten oder phänomenologisch orientierten Emotionstheorien informiert. Überdies können gerade vor dem Hintergrund der immer stärkeren Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Emotionsforschung, monografische Arbeiten mit einem allgemein gesellschaftstheoretischen Anspruch, wie er von Eva Illouz in Explosive Moderne vertreten wird, wichtige synthetisierende Perspektiven liefern und zur Selbstreflexion des interdisziplinären Fachgebiets anregen.

Wie werden Gefühle aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive aber überhaupt verstanden? Diese Frage greift Illouz in der Einleitung ihres Buches auf. Soziologisch betrachtet, sind emotionale Phänomene keineswegs isolierte individuelle Erfahrungen, sondern tief in soziale Relationen, institutionelle Arrangements und kulturelle Sinnzusammenhänge eingebettet. Sie überwältigten uns, wie Illouz schreibt, deswegen häufig in „gebieterische[r] Selbstverständlichkeit und Dringlichkeit“ (S. 15), weil sie „in verdichteter Form soziale Strukturen, Gruppenidentitäten und moralische Kodes beinhalten“ (ebd.). Die Körper- und Leiblichkeit von Gefühlen steht aus Sicht der Emotionssoziologie also gerade nicht im Widerspruch zu ihrer Kulturalität. Emotionen sind für Illouz zugleich ein Teil der Biologie und Psychologie des Menschen wie auch ein Ausdruck seiner Sozialität. Dieser grundsätzlichen emotionssoziologischen Erkenntnis stehe allerdings ein wirkmächtiges Phantasma der modernen Kultur entgegen: Der moderne Individualismus, so Illouz, lasse uns im Gefolge der Psychologisierung der Alltagswelt und einer zunehmenden Kommerzialisierung des menschlichen Gefühlslebens leicht vergessen, „wie wenig unsere intime Erfahrung nur unsere eigene ist“ (S. 16). Illouz‘ auf den ersten Blick womöglich abstrakt anmutende emotions- und modernisierungstheoretischen Ausführungen sind somit auch eine ganz konkrete Aufforderung an alle Leser:innen, die eigene Gefühlswelt nicht nur psychologisch, sondern auch soziologisch zu reflektieren.

Die Widersprüchlichkeit der modernen Gesellschaft

Die zentrale Frage, der Eva Illouz in Explosive Moderne nachgeht, ist die nach der Art und Weise, wie sich die Moderne in unserem Gefühlsleben entfaltet hat. Sie beschränkt sich dabei auf die westliche Moderne, die sie nicht ausschließlich als Epoche versteht, sondern als „historische Dynamik […], die sich seit der Renaissance entfaltet und in der Aufklärung ihren intellektuellen Höhepunkt gefunden hat“ (S. 21). Illouz blickt auf die Moderne als einen Prozess der Modernisierung, welcher selbst wiederum unterschiedliche Prozesse umfasst (etwa Enttraditionalisierung, Pluralisierung, Ökonomisierung). Ihre Grundthese lautet, dass die modernen Dilemmata immer auch zugleich emotionale Dilemmata seien, und das Verständnis der modernen Gefühlskonstellationen daher umgekehrt zu einem Verständnis grundlegender gesellschaftlicher Konfliktlagen beitragen könne. Ein besonderes Augenmerk legt die Autorin auf die Entwicklung seit dem Beginn der 1980er-Jahre, also der in der Soziologie bisweilen auch als Spätmoderne bezeichneten Periode. Illouz scheint aber kaum an einer Differenzierung der Moderne in verschiedene Phasen interessiert und verzichtet bis auf wenige Ausnahmen auf diesen Begriff. Der historische Zeitraum zu Beginn der letzten zwanzig Jahre des 20. Jahrhunderts sei deswegen besonders relevant, weil er für die Verschiebung des in der Moderne immer schon umkämpften Gefüges von Ökonomie und Politik zugunsten der Ökonomie stehe. Für Illouz sind es nicht zuletzt die „Krise der Demokratie und die Vermehrung der psychischen Störungen“ (S. 24), auf welche die Soziologie eine Antwort finden müsse. Es geht ihr – in direkter Referenz auf Sigmund Freuds berühmte Abhandlung – darum, das „Unbehagen in der Gefühlskultur“ zu ergründen.

Was aber ist nun das „Explosive“ an der Moderne, dem Illouz‘ neues Buch seinen Titel verdankt? Kurzgefasst ist es die Widersprüchlichkeit der modernen Gesellschaft, die für ‚emotionales Dynamit‘ sorgt. Die Moderne ist, folgt man Illouz, gerade deswegen eine explosive Gesellschaftsform, weil ihre wesentlichen institutionellen Strukturen häufig in Konflikt miteinander treten und dadurch starke innere Spannungen in den Individuen auslösen. Die Explosivität der Moderne habe, so Illouz, allerdings auch noch einen anderen Ursprung, nämlich den veränderten Stellenwert, der Gefühlen im Prozess gesellschaftlicher Subjektivierung zukommt.[8] Die Verantwortung für ein gelingendes Leben habe sich unter modernen Bedingungen (vermeintlich) freier Wähl- und Gestaltbarkeit von Lebensoptionen stark individualisiert und emotionalisiert. Insofern Individuen vor dem Hintergrund des Strebens nach subjektiver Authentizität, beruflichem Erfolg und erfüllender Intimität immer mehr um und auch wegen ihrer Gefühle – mit sich selbst und anderen – rängen, befänden sie sich „auf einem reflexiven Rückzug in sich selbst“ (S. 26). Gefühle avancierten so gewissermaßen selbst zur „umkämpften Realität“ (S. 27). Gleichzeitig würden sie auch zu wiederkehrenden Anlässen der intra- und intersubjektiven Auseinandersetzung und zu Gegenständen von Steuerungsversuchen der unterschiedlichsten Art.

In drei Kapiteln legt Illouz so etwas wie eine emotionale Phänomenologie der Widersprüche, Konflikte und Paradoxien der (spät-)modernen Gesellschaft vor. Ihre ‚Methode‘ ist dabei eine dreifache: Sie entwickelt und plausibilisiert ihre Argumente, 1) anhand der Interpretation kanonischer Werke der (westlichen) Literaturgeschichte, 2) anhand der Diskussion von ikonischen Momenten des historischen Zeitgeschehens und schließlich 3) in der Zusammenschau von Studien und Analysen zum jeweiligen Thema. Jedes der drei Kapitel dreht sich um eine Reihe verschiedener Emotionen (von Hoffnung über Zorn bis Scham und viele andere mehr), die in ihrer Verbindung mit spezifischen sozialen und kulturellen Arrangements der Moderne betrachtet werden. Illouz begibt sich gewissermaßen in den emotionalen ‚Maschinenraum‘ der Moderne und analysiert auf Basis einer ansprechenden Vielfalt an Quellen aus Literatur, Geschichte und Soziologie deren ‚Betriebstemperatur‘. Dass diese Betriebstemperatur immer wieder gefährlich hoch zu kochen droht und die Gefühlsstruktur der Moderne selbst ebenso widersprüchlich wie prekär ist, wird anhand der Themen, wie sie in soziologischen Studien und den politischen Feuilletons der Gegenwart rauf und runter diskutiert werden und wie sie auch Eva Illouz in ihrem Buch aufgreift, unmittelbar einsichtig. Die Krise der liberalen Demokratie und das Bröckeln des modernen Fortschritts-, Wohlstands- und Sicherheitsversprechens, der weltweite Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und ihre Politiken der Furcht oder auch die Komplexitätszunahme intimer Beziehungen – all dies sind Fragen und Problemstellungen, die Eva Illouz in ihrem Buch aus der Perspektive einer Soziologie der Gefühle untersucht. Explosive Moderne ist damit an ein sehr breites Spektrum aktueller Debatten anschlussfähig. Egal ob es um Triggerpunkte[9] in der öffentlichen Debattenkultur Deutschlands, das Gefühl von Stolen Pride[10] in Teilen der amerikanischen Bevölkerung oder den Zusammenhang von Moderne und Verlust[11] geht – in ihrem Zusammenschluss von Emotionssoziologie und Modernetheorie versprechen Illouz‘ Ausführungen interessante Impulse für eine ganze Reihe von brisanten gesellschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Diskussionen.

Der amerikanische Traum als Sinnbild der emotionalen Dystopie 

Wie entwickelt Eva Illouz nun ihre emotionale Gesellschaftstheorie der Moderne? Den Anfang macht ein Kapitel mit dem Titel Der amerikanische Traum: eine emotionale Dystopie? In Illouz‘ Lesart der Moderne war es die – ursprünglich im Religiösen wurzelnde und nunmehr säkularisierte – Hoffnung, welche die Erwartungen der Menschen an ein gutes Leben steigerte und die Überzeugung tief im Alltagsbewusstsein verankerte, dass ein besseres Leben durch menschliches Handeln und gesellschaftliche Institutionen erreichbar sei. Die sich im Geiste der Aufklärung formierenden Nationalstaaten bezeichnet Illouz als „Hoffnungsgemeinschaften“ (S. 50) im Geiste eines – wie man hinzufügen könnte – sentimental state-building[12], die sich sowohl an den politischen Freiheits- und Gleichheitslehren der Demokratie wie marktwirtschaftlichen Wachstumsvorstellungen orientierten. Der von Illouz treffend gewählte Begriff der „emotionale[n] Dystopie“ (S. 36 ff.) zur Charakterisierung des amerikanischen Traums steht dabei übergreifend für das mannigfaltige Leiden an den unerfüllten Versprechen der Moderne und schlägt in dieselbe Kerbe wie populäre Vorstellungen eines American Nightmare oder das Konzept des Cruel Optimism[13]. Der amerikanische Traum – der nicht nur dem kulturellen Imaginären der Vereinigten Staaten zugrunde läge, sondern, so Illouz, die gesamte westliche Moderne strukturiere – sei deswegen potenziell emotional dystopisch, weil sich die daran geknüpften Hoffnungen und Sehnsüchte eben nicht für alle gleichermaßen erfüllten. Nicht nur blieben Frauen und People of Color von den Versprechen auf Gleichbehandlung, Selbstbestimmung und politische Teilhabe lange ausgeschlossen, auch die kapitalistische Wettbewerbsökonomie schuf Macht- und Ungleichheitsverhältnisse, die bis heute Sand im Getriebe des amerikanischen Traums sind. Enttäuschung sei daher die unvermeidliche emotionale Kehrseite des laut Illouz für die Moderne konstitutiven Gefühls der Hoffnung. Das moderne Subjekt, schreibt sie, schwanke „zwischen dem Gefühl endloser Möglichkeiten und dem Eindruck hartnäckiger Beschränktheit, zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen Ermächtigung und Selbstbezichtigung“ (S. 100 f.).

Die moderne Gefühlskultur des amerikanischen Traums oszilliere aber nicht nur zwischen hoffnungsvoller Sehnsucht und bitterer Enttäuschung, sondern bringe auch potenziell hochexplosive Spiralen von Neid und Missgunst hervor. Neid sei zwar einerseits ein mehr oder weniger harmloser Bestandteil des sozialen Distinktionsstrebens, welches von der kapitalistischen Konsumkultur maßgeblich befördert werde. Überdies könne sich Neid bisweilen tatsächlich gegen als illegitim und ungerecht wahrgenommene Ungleichheiten richten. Verwandelt er sich allerdings in eine „Politik des Ressentiments“ (S. 131), berge er die Gefahr, den von ihm unterstellten Anspruch auf Gleichheit auszuhöhlen und zu zerstören. Illouz nennt hier insbesondere das populistische Ressentiment gegenüber Expert:innen[14] sowie gegenüber Minderheiten[15], welche gegenwärtig die politisch brisantesten Formen annähmen.

Einfallstore in die politische Arena: Zur Neuausrichtung von Zorn, Furcht und Nostalgie 

Das zweite mit Der Nationalismus, die Demokratie und ihre Gefühle überschriebene Kapitel beschäftigt sich mit einer Neuausrichtung von Zorn, Furcht und Nostalgie in der modernen Gesellschaft. Ebenso wie schon der Neid ist auch der Zorn für Illouz eine zutiefst ambivalente Emotion. Zwar seien die Möglichkeiten, offen wütend sein zu dürfen, gesellschaftlich ungleich verteilt (nämlich immer noch vordergründig zugunsten von weißen, mächtigen Männern), weshalb auf diese Art häufig lediglich der eigene soziale Status verteidigt werde. Gleichzeitig könne Zorn auch eine Reaktion auf wahrgenommene Ungerechtigkeit sein und somit den emotionalen Anstoß zur Verteidigung einer verletzten moralischen Ordnung geben. Insofern Zorn und Empörung zudem nicht nur einzelne Personen, sondern bei geteilten Gerechtigkeitsvorstellungen auch viele mobilisieren könnten, seien sie zutiefst demokratische Emotionen und fänden sich als Movens auf allen Seiten des politischen Spektrums. Ein Schlüsselgefühl der Moderne sei der Zorn aber deswegen, weil ihre Werteordnung entlang der Ideenlehren von Gleichheit und Gerechtigkeit die soziale Bewertung von Zornesäußerungen als legitim insgesamt wahrscheinlicher mache. Deshalb gehört Zorn für Illouz neben Hoffnung, Enttäuschung und Neid zu den wichtigsten Emotionen, die die moderne Leistungsgesellschaft auslöst.[16]

Furcht hingegen analysiert Illouz als das paradoxale Ergebnis einer liberalen „Politik der Verletzlichkeit“ (S. 192). Angst fungiere seit Hobbes als eine Art „negativer moralischer Grundlage der Gesellschaft“ (S. 200) und ihre Eindämmung sei eine der wesentlichen Leistungen des modernen Staates. Ihre Paradoxie gewinne diese spezifisch moderne Furchtkonstellation daraus, dass sich die einzuhegenden Risiken, Bedrohungen und Ängste vor dem Hintergrund diverser Schutzansprüche der modernen Gesellschaften geradezu vervielfachten. Wo Gefahr ist, wächst also nicht etwa das Rettende auch, wie Friedrich Hölderlin in seiner Hymne Patmos einst dichtete. Folgt man Illouz ist es genau umgekehrt: Eine Zunahme des Rettenden korrespondiert mit einer direkten Zunahme von – wahrgenommenen, imaginierten und antizipierten – Gefahren in der modernen Gesellschaft. Furcht war und ist insofern einer der zentralen (emotionalen) Dreh- und Angelpunkte der Kontrolle der politischen Arena. Insbesondere die Politiken der Furcht, wie sie weltweit im rechten bis rechtsradikalen Lager zu beobachten sind, haben für Illouz dabei gegenwärtig das explosivste politische Potenzial, das der modernen Gesellschaftsordnung des Liberalismus selbst gefährlich werden könnte.[17]

Schließlich erörtert Illouz im Zusammenhang mit dem Nationalismus der Moderne noch die Gefühle der Nostalgie und Heimatlosigkeit, die infolge sozialer und kultureller Entwurzelungen immer schon zu den emotionalen Nebengeräuschen von Modernisierungsprozessen zählten, aber insbesondere in der globalen Moderne zu nahezu alltäglichen Erfahrungen geworden seien. Nostalgie treibe, so Illouz, Individuen und Gemeinschaften an ihren „imaginären Kern“ (S. 264) und berge, sofern sie ein häufiger Bestandteil restaurativer Politiken wäre, die Gefahr, „statt der Gegenwart oder der Zukunft die Vergangenheit zum einzigen Stil der Politik zu machen“ (ebd.).[18]

Das implosive Potenzial moderner Intimität

Der modernen Intimität attestiert Illouz im dritten Kapitel ihres Buches nicht so sehr explosives, sondern vielmehr implosives Potenzial. Diese – wie es auch in der Kapitelüberschrift heißt – implosive Intimität deutet Illouz übergreifend als eine direkte Konsequenz der modernen Komplexitätssteigerung intimer Sozialbeziehungen.

Dass unsere Selbstwahrnehmung stets sozial vermittelt ist – wir uns buchstäblich immer auch in und durch die Augen anderer erleben und definieren –, lassen uns die beiden Emotionen Stolz und Scham, mit denen Illouz ihre Abhandlung implosiver Intimität beginnt, mal mehr, mal weniger angenehm spüren. Beide bezeugen die körperleibliche Präsenz von Norm- und Wertvorstellungen ‚unter unserer Haut‘. Scham ist für Illouz aus mehreren Gründen ein Schlüsselgefühl zum Verständnis der inneren Widersprüche der Moderne. So erzeugten etwa die Möglichkeiten sozialer Aufwärtsmobilität, die die moderne Gesellschaft verspricht, eine neue Form der Klassenscham und ein Gefühl der habituellen Fremdheit, wie sie insbesondere die französische und von Bourdieu-Lektüren soziologisch informierte autofiktionale Literatur von Annie Ernaux oder Didier Eribon minutiös seziert. Auch lasse sich in der modernen Konsumkultur eine umfassende Kommerzialisierung der Scham beobachten (etwa in Form von Diätpillen, Kosmetika oder Schönheitsoperationen). Nicht zuletzt sensibilisiere der soziologische Blick auf die Scham, der diese immer auch als Ergebnis von Praktiken der Beschämung begreift, dafür, dass diese mitnichten nur ein Signum traditionaler Gesellschaften seien. Vielmehr erlebten diese Praktiken der Beschämung in den modernen Arenen der digitalen Öffentlichkeit ein trauriges Revival, etwa in Form von Cybermobbing, Shitstorms sowie der allgemeinen Ausweitung von moralischen Reizthemen. Die Zurückweisung dieser Praktiken und das öffentliche Bekenntnis zum Stolz beispielsweise auf die eigene sexuelle oder ethnische Identität, beschreibt Illouz zwar treffend als zentrale Merkmale der einflussreichen sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Allerdings gibt sie zugleich zu bedenken, dass diese emotionale Dynamik als politische Ressource keineswegs nur im progressiv-liberalen Spektrum der Politik zu finden sei. Auch der moderne Nationalismus sei in hochexplosiver Weise mit der Emotion des Stolzes verknüpft. Denn Geschichte[19] wie Gegenwart[20] zeigten, dass das politische Versprechen, aus Scham Stolz werden zu lassen, nicht selten in Gewalt gegenüber denjenigen Gruppen münde, die zu Verantwortlichen für die empfundene Scham erklärt werden.

Um Intimbeziehungen im engeren Sinn, konkret um Liebe und Eifersucht, geht es in den nächsten beiden Abschnitten des Kapitels. Letztere erörtert Illouz unter anderem vor dem Hintergrund der patriarchalischen Machtverhältnisse, die bis heute in Beziehungen zwischen Männern und Frauen nachwirkten, und immer noch für eine viel zu große Zahl an Gewaltverbrechen gegen Frauen mitverantwortlich seien. Neben der zerstörerischen Eifersucht unterhalte, so Illouz, auch die viel gerühmte Liebe ein ambivalentes Verhältnis zur Moderne. Keine andere Epoche sei kulturell derart stark mit der romantischen Liebe verwoben wie die Moderne, nur in ihr finde sich die vollständige Einheit von Sexualität, Liebe und Ehe (S. 328). In ihrem Potenzial der Emanzipation von traditionalen Bindungen sowie ihrer Privilegierung der individuellen Liebesentscheidung gegenüber Autoritäten trägt die romantische Liebe gewissermaßen selbst einen genuin modernen Anstrich. Aber auch wenn die Liebe bisweilen außerhalb jedweder ökonomischer Interessen und sozialer Einflüsse zu stehen scheint und der Mythos des love conquers all ebenso medienwirksam wie der amerikanische Traum immer wieder aufs Neue beschworen wird, dürfe man die Rechnung nicht ohne den modernen Kapitalismus machen. Die kapitalistischen Klassenverhältnisse formten romantische Beziehungen nämlich ebenso sehr wie die moderne Konsumkultur.[21] Insbesondere die Vorstellung der romantischen Liebe als einer „unverwechselbaren Begegnung zweier Individuen“ (S. 348) erhöhe dabei das Komplexitätsniveau moderner Intimbeziehungen in der Praxis, da, wie Illouz es ausdrückt, „zwei Singularitäten die komplexe Arbeit des gegenseitigen Abgleichs ihrer psychologischen Innerlichkeit und kulturellen Geschmäcker bewerkstelligen müssen“ (S. 354).

In einem kurzen Abschnitt thematisiert Illouz abschließend die komplexe Dynamik der Verleugnung von Gefühlen, welche soziologisch bisweilen auch als Folge einer zu weitgehenden sozialen Kolonisierung der Gefühlswelt von Subjekten (S. 361) gedeutet werden könne. Ihr Interesse gilt vor allem jenen Momenten, in denen Gefühle über ideologische Hindernisse und internalisierte gesellschaftliche Grenzen hinweg ihren Weg ins individuelle Bewusstsein finden, ja, gewissermaßen durch die ‚Ritzen‘ der Sozialisation dringen und so eine eigene Macht entfalten können. Sich der sozialen Prägungen des eigenen Gefühlslebens bewusst zu werden und diese kritisch zu hinterfragen, hat also, folgt man Illouz in ihren Schlussbemerkungen, durchaus selbst explosives Potenzial.

Explosive Moderne bietet einen emotionssoziologischen Schlüssel zum Verständnis der Widersprüche, Konflikte und Paradoxien der modernen Gesellschaft. Nach der Lektüre versteht man, dass nicht nur die Ideen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Fortschritt das Fundament der Moderne bilden. Sie fußt mindestens ebenso sehr auf Gefühlen: auf der Hoffnung auf ein besseres Leben und dem Streben nach Glück, der Sehnsucht nach (nationaler) Zugehörigkeit und Anerkennung sowie nicht zuletzt auf dem großen modernen Mythos der romantischen Liebe. Gleichzeitig übertragen sich auch die Bruchlinien der modernen Gesellschaft unmittelbar auf das emotionale Erleben und manifestieren sich etwa als Enttäuschung über nicht erfüllte Hoffnungen und uneingelöste Versprechen oder Zorn über illegitime Ungerechtigkeiten. Illouz‘ Analysen von Schlüsselgefühlen der Moderne lassen sich dabei über weite Strecken auch einzeln als aufschlussreiche soziologische Betrachtungen spezifischer Gefühle lesen. Wer also etwas über Furcht, Nostalgie, Eifersucht oder viele andere Emotionen mehr lernen möchte, tut gut daran, das Buch aufzuschlagen.[22]

Zur Methode: Quellen aus Literatur, Geschichte und Soziologie

Freilich sind nicht alle präsentierten Einsichten gänzlich neu. Explosive Moderne lässt sich vielmehr als kluge argumentative Synthese einer Vielzahl an sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten rund um Fragen der modernen Gesellschaft und der Emotionskultur der Gegenwart lesen. Zu etwas Neuem werden sie allerdings gewissermaßen durch Illouz‘ ‚Methode‘: In einer eigenen Form der sociological imagination[23] verwebt sie Forschungsliteratur mit historischen sowie zeitgeschichtlichen Betrachtungen und der Welt der Literatur entstammenden Einblicken in das menschliche Gefühlsleben. Anhand von Gustave Flauberts Roman Madame Bovary lernen Leser:innen beispielsweise etwas über die Enttäuschungsanfälligkeit moderner Verheißungen (etwa von Schönheit durch Konsum oder Erfüllung durch Liebe). Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas nutzt Illouz, um uns die Verbindung von Wut mit Gerechtigkeitsvorstellungen und deren politisches Mobilisierungspotenzial vor Augen zu führen und zu zeigen, wie langanhaltender Zorn zu Radikalisierung führen und den Zornigen selbst mitverschlingen kann. Was vom Tage übrig blieb von Kazuo Ishiguro gilt Illouz schließlich als ein literarisches Portrait emotionaler Entfremdung infolge einer Überidentifikation mit der eigenen sozialen Rolle, die zu einer Verfehlung gegen die eigenen Gefühle, ja, gegen das eigene Leben als Ganzes führen könne. Mit dieser zentralen Rolle, die Eva Illouz Werken der (vorwiegend) westlichen Literaturgeschichte in ihrem Buch einräumt, würdigt sie die soziologisch ‚aufschließende‘ Kraft literarischer Erzählungen und bedient sich einer Vorgehensweise, wie sie etwa in literatursoziologischen Arbeiten[24] oder dem interdisziplinären Feld der cultural studies schon lange üblich ist. Sie hätte ihre Soziologie der explosiven Moderne auch anhand anderer ästhetischer Formen wie der Bildenden Kunst, dem Theater oder dem Kino schreiben können. Doch gerade die Erzählliteratur sei in der Moderne von Beginn an ein zentraler „Ort zum Erlernen von Gefühlen“ (S. 28) gewesen, weshalb sie sich in besonderer Weise dafür eigne, die Zerrissenheiten des modernen Gefühls- und Soziallebens nachzuvollziehen. Insbesondere der Roman als genuin moderne Erzählform liefere ein Zeugnis der „neue[n] Fluidität der individuellen und sozialen Beziehungen“, der „Spannungen zwischen emotionalen Vorhaben und sozioökonomischen Zwängen“ sowie der „Verschränkung der individuellen Psychologie mit den sozialen Strukturen“ (S. 28). Handlungen und Figuren würden gewissermaßen erst durch eine in literarischen Werken enthaltene „Grammatik der Gefühle“ (S. 29) verständlich. In anderen Worten: Gefühle erfahren in der Literatur stets eine soziale Einbettung, sie sind essenzieller Bestandteil von Geschichten und werden durch sie begreifbar. Diesen soziologischen Erkenntnisgehalt literarischer Ästhetisierungen von Gefühlen und von Gesellschaft macht sich Eva Illouz in ihrem Buch mit bemerkenswerter Souveränität zu nutze. Sie versteht es, die literarische Sprache der Literatur gekonnt in die analytischen Begriffe der Gesellschaftsanalyse zu übersetzen und für diese fruchtbar zu machen. Ihr Fokus auf weithin bekannte Werke des westlichen Literaturkanons mag Einschränkungen mit sich bringen und wird mancherorten auf Kritik stoßen. Illouz geht es allerdings explizit um ein Verständnis der Moderne in ihrer hegemonialen Rolle europäischer und nordamerikanischer Couleur sowie darum, die imaginären Dimensionen der westlichen Kultur und Gesellschaft gerade vor dem Hintergrund der weitreichenden Präsenz bekannter und/oder kanonisierter Texte zu erschließen. Die Verengung ihrer Perspektive ergibt sich also letztlich aus dem Erkenntnisinteresse ihres Buches. Gerade weil die Verbindung literarischer Beschreibungen mit soziologischer Analyse so erhellende Einsichten in die emotionalen Dilemmata der Moderne zu erbringen vermag, hätte man sich als Leser:in doch gewünscht, etwas mehr über Illouz‘ methodisches Vorgehen zu erfahren, das nur vage beschrieben wird.

Kritische Reflexionen

Das Explosive der Moderne liegt für Illouz in ihren Widersprüchen, ihren immanenten Konflikten oder kurz: in der Ambivalenz ihrer sozialen und kulturellen Konfigurationen. Daher ist es verwunderlich, dass nicht nur die Werke des womöglich größten Gesellschaftstheoretikers der Ambivalenz, Zygmunt Bauman,[25] in ihrem Buch keine Rolle spielen. Auch Ulrich Becks und Elisabeth Beck-Gernsheims[26] berühmte Arbeiten oder Anthony Giddens[27] einflussreiche Analysen zur Ambivalenz von Individualisierungsprozessen bleiben unerwähnt. Darüber hinaus hätte die Explosion als zentrale Metapher des Buches durchaus mehr systematische Aufmerksamkeit verdient. Die Autorin scheint sie nämlich für zweierlei zu nutzen: zur Beschreibung des ‚Explosionspotenzials‘ der modernen Sozialkonstellationen einerseits und der sich daraus ergebenden Gefühlskonstellationen der Moderne anderseits. Letztere machen überhaupt erst den Neuigkeitswert der Illouz‘schen modernetheoretischen Ausführungen aus und bezeichnen das ‚emotionale Dynamit‘, also jene emotionalen Zustände, die fester Bestandteil der modernen institutionellen Arrangements sind und diese ebenso stützen wie unter Spannung setzen und zum Explodieren bringen könn(t)en. Wie ist es aber beispielsweise um das Verhältnis von Explosion und Implosion bestellt, das Illouz insbesondere im dritten Kapitel zwar andeutet, aber dessen genauere Bestimmung sie letztlich schuldig bleibt? Wann kann man von Explosion, wann von einer Implosion der Moderne sprechen und in welchem Verhältnis steht die Explosivität der Moderne eigentlich zu ihr vorangegangenen Gesellschaftsformationen? Überdies wohnt der Metapher der Explosion eine gewisse Schlagseite in dem Sinne inne, dass Gefühle der Moderne vor allem gefährlich werden könnten. Gerade weil Illouz‘ Analysen selbst (etwa ihre Ausführungen zur Hoffnung als emotionaler Grundkategorie der Moderne) bisweilen in eine andere Richtung weisen, hätte diese Schieflage des zentralen Begriffs der Explosion zumindest mitreflektiert werden sollen, um nicht versehentlich einer unangemessenen Diskreditierung von Emotionen im politischen Feld per se das Wort zu reden. [28]

Zudem stellt sich beim Lesen der anregenden Erläuterungen zum Zusammenhang moderner Gefühls- und Sozialkonstellationen auch die Frage, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, stärker zwischen verschiedenen Phasen von Modernisierungsprozessen zu differenzieren (und eben vielleicht doch den ein oder anderen Seitenblick auf Multiple Modernities[29] miteinzubeziehen).

Schließlich fällt bei allem Verständnis für die Notwendigkeit zur Beschränkung die weitgehende Absenz zweier Themen auf, die aktuell vielleicht sogar zu den explosivsten moderner Gesellschaften zu rechnen sind, nämlich Klimawandel und (Post-)Kolonialismus. Beiden lässt Illouz bis auf einige wenige verstreute Bemerkungen kaum Aufmerksamkeit zuteilwerden, obwohl sie doch geradezu idealtypische ‚hausgemachte‘ Probleme der Moderne sind: Beide sind nahezu untrennbar mit ihren Ursprüngen verknüpft und offenbaren ihre tiefe Widersprüchlichkeit.

So kann etwa der Klimawandel als direktes Ergebnis jenes zentralen Motors der westlichen Moderne gesehen werden, dem die durch Alfred Nobels Erfindung ermöglichten Sprengungen einst buchstäblich den Weg geebnet haben: der Verbrennung fossiler Energieträger in Verkehr und Industrie. Als Konsequenz gerät im Klimawandel nicht nur das kapitalistische Wachstumsversprechen selbst an seine Grenzen. Das Explosive dieser Entwicklung manifestiert sich auf emotionaler Ebene ebenso in Ängsten vor der Vernichtung der eigenen Lebensgrundlage wie in der Unwilligkeit zum Verzicht oder der Sorge um sozialen Abstieg oder auch der Hoffnung auf eine erfolgreiche ökologische Transformation unter Aufrechterhaltung des modernen Konsumversprechens. Gerade weil sich am Klimawandel – etwa hinsichtlich der Maßnahmen zu seiner Bekämpfung, bisweilen gar hinsichtlich der Anerkennung seiner Existenz oder Menschengemachtheit – die Konfliktlinien der gegenwärtigen politischen Polarisierung zeigen, ist die Frage nach seiner emotionalen und gesellschaftlichen Explosivität von kaum zu überbietender Brisanz.[30]

Der Kolonialismus wiederum enttarnt viele hehre Ansprüche der Moderne (etwa auf Gleichheit oder Humanität) als bigott, sofern er sich historisch parallel zu den westlichen Liberalisierungs- und Demokratisierungsbestrebungen entwickelt hat. Er hat globale Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse sowie rassistische Ideologien erschaffen, die bis heute nachwirken und immer wieder neuen Zündstoff für politische Konflikte oder gar kriegerische Auseinandersetzungen liefern. Wie diese widersprüchliche Verbindung von kolonialem Machtstreben und liberaler Moderne durch Gefühle gleichermaßen gestützt wie letztlich herausgefordert wurde (und wird), wäre eine Frage, die für die kritisch-reflexive soziologische Perspektive von Eva Illouz geradezu prädestiniert scheint.[31]

Was Explosive Moderne – wie schon frühere Werke der Autorin – so lesenswert macht, sind nicht nur die brillanten Gesellschaftsanalysen durch die Brille der Emotionssoziologie. Es sind nicht zuletzt auch die Einladung und Befähigung zur soziologisch informierten Reflexion über gesellschaftliche Probleme und Widersprüche sowie die Erkenntnis, dass – wie Charles Wright Mills dies ausdrückte – unsere vermeintlichen personal troubles nur allzu oft mit public issues zusammenhängen.[32]

Am Ende der Lektüre bleibt die Einsicht: Explosiv ist die Moderne vor allem für sich selbst. Sie hat das (emotionale) Dynamit geschaffen, das zwar einerseits den Pfad in eine liberale, kapitalistische und individualistische Zukunft freigesprengt hat. Gleichzeitig aber kranken moderne Gesellschaften und die darin lebenden Individuen gestern wie heute an den alten und neuen sozialen Verwerfungen und inneren Spannungen, die diese modernen Explosionen hervorgebracht haben – und aller Voraussicht nach weiter hervorbringen werden. Um diese Prozesse sowohl im ‚Großen‘ sozialer Strukturen wie im ‚Kleinen‘ subjektiver Gefühlswelten zu verstehen und damit der kollektiven wie individuellen Selbstverständigung über drängende Probleme der Gegenwart den Weg zu bereiten (von der sozialökologischen Transformation der westlichen Wirtschafts- und Arbeitsweise über den Strukturwandel der Öffentlichkeit bis hin zur Krise der liberalen Demokratie), scheint der emotionssoziologische Blick auf Gesellschaft, wie ihn Illouz‘ neues Buch in paradigmatischer Weise vorführt, daher gebotener denn je.

  1. Siehe etwa Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, aus dem Französischen von Michael Tillmann, Konstanz 2003; Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019; Axel Honneth et al. (Hg.), Normative Paradoxien. Verkehrungen des gesellschaftlichen Fortschritts, Frankfurt am Main 2022.
  2. Eva Illouz, Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn, Frankfurt am Main 2003; Eva Illouz, Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung, aus dem Englischen von Michael Adrian, Berlin 2011; Eva Illouz, Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen, aus dem Englischen von Michael Adrian, Berlin 2018.
  3. Eva Illouz, Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, aus dem Englischen von Michael Adrian, Frankfurt am Main 2009; Edgar Cabanas / Eva Illouz, Das Glücksdiktat. Und wie es unser Leben beherrscht, aus dem Französischen von Michael Adrian, Berlin 2019.
  4. Eva Illouz (Hg.), Wa(h)re Gefühle. Authentizität im Konsumkapitalismus, aus dem Englischen von Michael Adrian, Berlin 2018; Eva Illouz, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, Adorno-Vorlesungen 2004, aus dem Englischen von Martin Hartmann, Frankfurt am Main 2006.
  5. Eva Illouz, Undemokratische Emotionen, aus dem Englischen von Michael Adrian, Berlin 2023.
  6. Für einen aktuellen Überblick über die sozial- und kulturwissenschaftliche Emotions- und Affektforschung siehe Herrmann Kappelhoff / Jan-Hendrik Bakels / Hauke Lehmann (Hg.), Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2019; Aletta Diefenbach / Veronika Zink (Hg.), Emotions- und Affektsoziologie. Eine Einführung, Berlin 2024.
  7. Für einen Überblick und eine konzeptionelle Synthese einer Kultursoziologie der Gefühle siehe Kapitel 2 in: Sarah Miriam Pritz, Gefühlstechniken. Eine Soziologie emotionaler Selbstvermessung, Wiesbaden 2024.
  8. Für einen Überblick über den Zusammenhang von Emotion und Subjekt und spätmoderne Formen der Subjektivierung siehe: Sarah Miriam Pritz, Emotion und Subjekt. Emotionale Subjektivierung in der Spätmoderne, in: Aletta Diefenbach / Veronika Zink (Hg.), Emotions- und Affektsoziologie. Eine Einführung, Berlin 2024, S. 173–190.
  9. Steffen Mau / Thomas Lux / Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023.
  10. Arlie Russell Hochschild, Stolen Pride. Loss, Shame, and the Rise of the Right, New York 2024.
  11. Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, Berlin 2024.
  12. Siehe hierfür Heike Paul / Sarah Miriam Pritz, Sentimental State(s). Sentimental Politics of Order and Belonging, Bielefeld 2025 (im Erscheinen); siehe auch: Heike Paul, Amerikanischer Staatsbürgersentimentalismus. Zur Lage der politischen Kultur der USA, Göttingen 2021.
  13. Lauren Gail Berlant, Cruel Optimism, Durham 2011.
  14. Siehe auch Sebastian M. Büttner / Thomas Laux (Hg.), Umstrittene Expertise. Zur Wissensproblematik der Politik, Baden-Baden 2021; William Davies, Nervöse Zeiten. Wie Emotionen Argumente ablösen, aus dem Englischen von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann, München 2019; Sven Reichardt (Hg.), Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“. Die Corona-Proteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive, Frankfurt am Main 2021.
  15. Siehe auch Eva Illouz, Undemokratische Emotionen, Berlin 2023; Arlie Russell Hochschild, Strangers in Their Own Land. Anger and Mourning on the American Right, New York 2016.
  16. Siehe auch Sighard Neckel, Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt am Main 2008.
  17. Siehe auch Mikko Salmela / Christian von Scheve, Emotional Roots of Right-Wing Political Populism, in: Social Science Information 56 (2017), 4, S. 567–595; Guillem Rico / Marc Guinjoan / Eva Anduiza, The Emotional Underpinnings of Populism. How Anger and Fear Affect Populist Attitudes, in: Swiss Polital Science Revue 23 (2017), 4, S. 444–461; Christoph Nguyen / Mikko Salmela, From Specific Worries to Generalized Anger. The Emotional Dynamics of Right-Wing Political Populism, in: Michael Oswald (Hg.), The Palgrave Handbook of Populism, Cham 2022, S. 145–160; Eva Illouz, Undemokratische Emotionen, Berlin 2023.
  18. Siehe auch Tobias Becker, Yesterday. A New History of Nostalgia, Cambridge, MA 2023; Dennis Henneböhl, 'Taking Back Control’ of the Nation and Its History? Contemporary Fiction’s Engagement with Nostalgia in Brexit Britain, München 2023; Tobias Becker / Dylan Trigg (Hg.), The Routledge Handbook of Nostalgia, Abingdon 2025 (forthcoming).
  19. Siehe hierfür insbesondere die beinahe schon klassischen emotionssoziologischen Arbeiten von Thomas Scheff: Thomas Scheff, Bloody Revenge. Emotions, Nationalism, and War, Boulder 1992; Thomas Scheff / Susanne M. Retzinger, Emotions and Violence. Shame and Rage in Destructive Conflicts, Lexington 1991.
  20. Siehe hierfür insbesondere die neueren Arbeiten von Arlie R. Hochschild: Arlie Russell Hochschild, Strangers in Their Own Land. Anger and Mourning on the American Right, New York 2016; Arlie Russell Hochschild, Stolen Pride. Loss, Shame, and the Rise of the Right, New York 2024.
  21. Siehe hierfür auch bereits frühere Arbeiten von Eva Illouz: Eva Illouz, Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2003; Eva Illouz, Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung, Berlin 2011; Eva Illouz, Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen, Berlin 2018.
  22. Für einen Überblick über spezifische Emotionen siehe auch Herrmann Kappelhoff / Jan-Hendrik Bakels / Hauke Lehmann (Hg.), Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2019; Michael Hviid Jacobsen (Hg.), Emotions in Culture and Everyday Life. Conceptual, Theoretical and Empirical Explorations, New York 2023; Aletta Diefenbach / Veronika Zink (Hg.), Emotions- und Affektsoziologie. Eine Einführung, Berlin 2024.
  23. Charles Wright Mills, The Sociological Imagination, Oxford 1959.
  24. Siehe Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Frankfurt am Main 2006; Sina Farzin, Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose, in: Heiner Hastedt / Hanno Depner / Antje Maaser (Hg.), Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2019, S. 137–148; Jan Váňa, Theorizing the Social Through Literary Fiction. For a New Sociology of Literature, in: Cultural Sociology 14 (2020), 2, S. 180–200.
  25. Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence, in: Theory, Culture & Society 7 (1990), 2/3, S. 143–169; Zygmunt Bauman, Liquid Modernity, Cambridge, MA 2000.
  26. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986; Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1994.
  27. Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Stanford, CA 1990; Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in Late Modern Age, Cambridge, MA 1991.
  28. Siehe beispielsweise die Diskussion um emotionalisierte gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen in Triggerpunkte: Steffen Mau / Thomas Lux / Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin 2023, S. 320–350.
  29. Siehe Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 129 (2000), S. 1–29.
  30. Für weiterführende Lektüren diesbezüglich siehe etwa Sighard Neckel et al., Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit. Umrisse eines Forschungsprogramms, Bielefeld 2018; Tobias Brosch / Disa Sauter, Emotions and the Climate Crisis. A Research Agenda for an Affective Sustainability Science, in: Emotion Review 15 (2023), 4, S. 253–257.
  31. Für weiterführende Lektüren diesbezüglich siehe beispielsweise Henrike Kohpeiß, Bürgerliche Kälte, Frankfurt am Main 2022; Alfred Archer / Benjamin Matheson, Emotional Imperialism, in: Philosophical Topics 51 (2023), 1, S. 7–25.
  32. Charles Wright Mills, The Sociological Imagination, Oxford 1959.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Affekte / Emotionen Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Moderne / Postmoderne

Sarah Miriam Pritz

Sarah Miriam Pritz ist Kultursoziologin mit einem Schwerpunkt auf emotionssoziologische und subjektivierungstheoretische Fragestellungen. Sie hat neben Mood Tracking und digitalen Kulturen u.a. zu Nachhaltigkeit, Selbstoptimierung und soziologischer Zeitdiagnostik gearbeitet. Aktuell ist sie Postdoktorandin im interdisziplinären DFG-Graduiertenkolleg 2726 „Das Sentimentale in Literatur, Kultur und Politik“ an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

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