Benjamin Möckel | Rezension |

Eine andere Geschichte des modernen Liberalismus

Rezension zu „The Age of Choice. A History of Freedom in Modern Life“ von Sophia Rosenfeld

Sophia Rosenfeld:
The Age of Choice. A History of Freedom in Modern Life
USA
Princeton, CA 2025: Princeton University Press
VII, 462 S., 37,00 $
ISBN 978-0-691-16471-7

Das Schreibprogramm, mit dem diese Rezension verfasst wurde, bietet eine Auswahl von 336 verschiedenen Schriftarten. Manche sind für das Verfassen einer Rezension wenig geeignet, andere lassen sich nur mit Mühe voneinander unterscheiden, für einige weitere kann man in Ratgebern nachlesen, warum man sie in Bewerbungen und anderen offiziellen Texten keinesfalls verwenden sollte. Genutzt habe ich aus der verfügbaren Liste bislang vermutlich drei.

Sophia Rosenfeld, Historikerin an der University of Pennsylvania, schreibt nicht über Computerschriftarten, doch sie nutzt immer wieder ähnlich kleine Beispiele, um eine große Frage zu entwickeln: Seit wann und auf welche Weise wurde die Vorstellung von Wahlfreiheit – „Choice“ – zum Inbegriff individueller Freiheit, und wie hat diese Engführung die Deutungen politischer, ökonomischer und privater Freiheit in der Moderne beeinflusst? Die Autorin legt damit eine äußerst inspirierende Interpretation vor, die sich indirekt als eine andere Geschichte des modernen Liberalismus lesen lässt und gleich für mehrere geschichtswissenschaftliche Forschungsfelder interessant ist: etwa für die politische Ideengeschichte, die Demokratiegeschichte, die Konsumgeschichte, die Geschlechtergeschichte sowie die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte.

Am Anfang steht eine doppelte Herleitung des Themenfeldes: Auf der einen Seite steht die Vorstellung, dass individuelle Freiheit vor allem darin ihren Ausdruck finde, zwischen mehreren Optionen selbstständig wählen zu können; auf der anderen Seite die hierzu komplementäre Idee, dass es gerade diese Fähigkeit zur eigenständigen, selbstverantwortlichen Wahl sei, die den Kern echter Individualität und persönlicher Autonomie ausmache. Beide Ideen, so Rosenfelds zentrales Argument, seien keine anthropologischen Konstanten, sondern eng verbunden mit einer spezifisch modernen Vorstellung von Autonomie, Individualität und Freiheit, wie sie vor allem ab dem 17. und 18. Jahrhundert in Europa und Nordamerika an Bedeutung gewann. Die Genese solcher Ideen herzuleiten, ist das zentrale Anliegen des Buches. Die empirischen Kapitel zeichnen diese Entwicklung für vier Felder nach: für den Bereich des Konsums (Kapitel 1), für das Feld der Ideen und Meinungen (Kapitel 2), für Ehe und private Partnerschaften (Kapitel 3) sowie für die (Aus-)Wahl politischer Amtsträger:innen (Kapitel 4).

Am Anfang steht – wenig überraschend – der Konsum. Hier kamen Vorstellungen individueller Wahlfreiheit am direktesten zum Ausdruck und konnten auch im Alltag eingeübt werden. In frühen Auktionshäusern und deren Katalogen, in den opulenter werdenden Schaufenstern europäischer Städte und in den verblüffend ausufernden Speisekarten Pariser Restaurants um 1800 zeigt sich auf unterschiedliche Weise die von Rosenfeld skizzierte Grundkonstellation eines von außen vorgegebenen Spektrums an Möglichkeiten, aus der Konsumierende dann frei wählen konnten – und diese Wahl sukzessive auch als Ausdruck ihrer eigenen Individualität zu verstehen begannen. Die Grenzen der hiermit gewährten Freiheit benennt Rosenfeld deutlich: Obwohl die neuen Konsumorte dadurch gekennzeichnet waren, dass sie meist keine expliziten Zugangskriterien kannten, blieben soziale Hierarchien jederzeit wichtig und unmittelbar präsent, sowohl in den unterschiedlichen ökonomischen Möglichkeiten als auch im Hinblick auf die den jeweiligen Gruppen zugewiesenen Verhaltenserwartungen. Das galt nicht zuletzt für Frauen, die im Kontext dieser Konsumrevolution des 17. und 18. Jahrhunderts einerseits als die eigentlichen „experts-in-choosing“ erschienen, zugleich aber auch als jene Personen, die am stärksten den vermeintlichen Gefahren der neuen Konsumfreiheiten ausgesetzt seien – und daher in besonderer Weise beobachtet und reglementiert werden müssten.

Das zweite Kapitel behandelt den Bereich politischer und religiöser Ideen. Rosenfeld argumentiert nicht, dass die Logik des Konsums von der Auswahl von Stoffmustern oder Porzellan einfach auf die Ebene politischer Ideen übertragen worden sei – wenngleich dies schon ein Argument der zeitgenössischen Kritik war. Stattdessen entwirft sie eine zeitlich zum Teil parallel verlaufende Genealogie, in der Vorstellungen individueller Wahlfreiheit auch auf dem – bereits zeitgenössisch so bezeichneten – „marketplace of ideas“ an Bedeutung gewannen. Den Ausgangspunkt hierfür sieht Rosenfeld in der Zeit der Reformation. Nun war Martin Luther sicher kein Verfechter einer solchen (Wahl-)„Freiheit eines Christenmenschen“. Doch nach Rosenfelds Interpretation lag eine der langfristigen Folgen der Reformation in einer schrittweisen Öffnung und Pluralisierung religiöser Anschauungen, die dann sukzessive auch auf die Ebene der intellektuellen und politischen Ideen übertragen wurden – wobei vor allem die expandierende Buchkultur (nicht zuletzt durch die zahlreichen bürgerlichen Leserinnen) eine zentrale Bedeutung besaß.

Die beiden weiteren Kapitel untersuchen Bereiche, die dadurch gekennzeichnet sind, dass keine Dinge oder Ideen ausgewählt werden, sondern Menschen. Die Wahl muss hier also auf Gegenseitigkeit beruhen – oder zumindest auf der Einwilligung des jeweils anderen Parts. Das Beispiel der Partnerwahl und der Ehe verdeutlicht dabei eindrucksvoll, wie stark die vermeintlich freie Wahl durch zahlreiche implizite und explizite Regeln und Konventionen gekennzeichnet war – von der Frage, wer auf einem Ball mit wem tanzen darf, bis zu den komplexen Strukturen der Anbahnung einer Ehe. Die Geschlechterunterschiede dieser reziproken Wahl sind evident. Für viele Frauen lag in neuen Prozeduren und Normen zwar ein gewisses Maß an Autonomiegewinn, doch blieb die Vorstellung dessen, was hier als weibliche „Wahlfreiheit“ firmierte, lange Zeit denkbar eng.

Das letzte Beispiel betrifft die Wahl im politischen Raum. Rosenfeld ist hier weniger an der Entstehung moderner Demokratien im Zeitalter der atlantischen Revolutionen interessiert. Sie setzt stattdessen gut 100 Jahre später ein und konzentriert sich auf die Einführung der geheimen Wahl als neues Mittel der politischen Willensbildung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Waren Wahlen zuvor mit der öffentlichen Artikulation der eigenen politischen Meinung verbunden gewesen, setzte sich die Form der „geheimen Wahl“ nun als Ausdruck individueller Entscheidungskraft durch, in der der Stimmzettel eine ähnliche Funktion erfüllte wie die Speisekarte eines Pariser Restaurants um 1800 – als Darstellung der verfügbaren Optionen, aus denen man mit seinem Kreuz in der Wahlkabine seine Auswahl traf. Erst diese „Zivilisierung“ der Wahl, so das auch an anderen Stellen schon entwickelte Argument, habe dabei den Weg zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts eröffnet.

Das fünfte Kapitel wechselt dann die Perspektive: Hier werden unter der Überschrift „The Sciences of Choice“ jene Wissensfelder durchschritten, die vor allem ab dem späten 19. Jahrhundert begannen, individuelle Entscheidungen und deren gesellschaftliche Auswirkungen wissenschaftlich zu vermessen: von der Psychologie und Psychoanalyse über die Soziologie und den Behaviorismus bis zur Verhaltensökonomie. Die hiermit verbundenen Debatten sind relativ bekannt (und in letzter Zeit auch geschichtswissenschaftlich detailliert untersucht worden[1]); so erreicht das Buch in diesen Abschnitten nicht dasselbe Maß an Originalität wie in den anderen Kapiteln. Das zentrale Argument überzeugt dennoch: Genau in der Zeit, als das Primat der individuellen Entscheidungsfreiheit zur politischen Leitlinie aufstieg, wurde die reale Möglichkeit individuell autonomer Entscheidungsfähigkeit von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen radikal in Frage gestellt. Zugleich entstanden in den Anwendungsfeldern dieser Wissensbereiche – etwa im Marketing, in der Demoskopie oder in neueren Ansätzen des „Nudging“ – immer subtilere Versuche, das konkrete Handeln von Menschen durch Werbebotschaften, politische Propaganda oder spezifische „Choice Architectures“ zu beeinflussen.

Hiermit sind schon die gegenwartsnäheren politischen Perspektiven angesprochen, die vor allem im ausführlichen Epilog des Buches aufgegriffen werden. Rosenfeld hat das Buch unverkennbar im Schatten des geschlechterpolitischen Rollbacks in den USA und der Zurücknahme des durch den Fall Roe vs. Wade (1973) garantierten Rechts auf einen legalen Schwangerschaftsabbruch geschrieben.[2] Sie zeichnet dabei nach, wie sich die US-amerikanische Frauenbewegung in den 1970er-Jahren bewusst der Terminologie des „Right to Choose“ bediente, um diese Rechte zu verteidigen. Die jüngsten Entwicklungen belegen auf denkbar radikale Weise, welchen Verlust fundamentaler Rechte die Zurücknahme bestimmter Wahlfreiheiten bedeuten kann. Für Rosenfeld zeigt dies aber auch, dass sich die Rhetorik des „Choice Feminism“ als nicht hinreichend erwiesen habe, um gleiche Rechte für alle in der Gesellschaft der USA durchzusetzen. Und so endet das Buch mit einem Plädoyer dafür, Formen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für die Gegenwart auch jenseits der Rhetorik von „Choice“ und dem Kontext von „market-based consumer culture and democratic governance“ (S. 260) neu zu denken.

Diese Debatte steht vermutlich erst am Anfang, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die ökologischen Fragen der Gegenwart und Zukunft. Jenseits hiervon ist Sophia Rosenfelds Buch aber vor allen Dingen ein inspirierendes Stück Geschichtsschreibung. Man muss dem Titel nicht unbedingt folgen und die gesamte Moderne als „Age of Choice“ beschreiben. Zudem lässt das Buch an vielen Stellen lose Enden, die eine genauere Analyse verdient gehabt hätten – besonders für das 20. Jahrhundert, das im Buch meist nur mit relativ impressionistischen Analogiebildungen behandelt wird. Hier wäre sicher noch einmal substanzieller zu fragen, ob die Entwicklungen seit dem späten 19. Jahrhundert allein in einer durch die Massenkonsumgesellschaft befeuerten Steigerungslogik aufgehen. Dennoch gelingt es der Autorin überzeugend, mit dem Fokus auf Wahlfreiheit als Signum moderner Gesellschaften eine andere Geschichte der Moderne, des Liberalismus und der Individualität zu schreiben, die für viele neuere Forschungen anschlussfähig ist. So leistet Rosenfeld, was gute kulturgeschichtliche Studien leisten sollten: Sie nimmt ein Konzept, das gemeinhin als selbstverständlich angesehen wird, folgt diesem in zahlreiche überraschende Richtungen, bis einem an der Gleichsetzung von Freiheit und Wahlfreiheit kaum noch etwas selbstverständlich erscheint – nicht einmal mehr Times New Roman.

  1. Rüdiger Graf, Vorhersagen und Kontrollieren. Verhaltenswissen und Verhaltenspolitik in der Zeitgeschichte, Göttingen 2024, https://doi.org/10.46500/83535603 (07.08.2025); Sophia Gräfe / Georg Toepfer (Hrsg.), Wissensgeschichte des Verhaltens. Interdisziplinäre Perspektiven, Berlin 2025, https://doi.org/10.1515/9783110740813 (07.08.2025).
  2. Siehe etwa Katharina van Elten, Abbruch. Der Fall von Roe v. Wade, in: Geschichte der Gegenwart, 02.10.2022.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jan-Holger Kirsch.

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Benjamin Möckel

PD Dr. Benjamin Möckel vertritt aktuell die Professur für Europäische Zeit- und Kulturgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Er forscht zur Demokratiegeschichte, der Geschichte der Menschenrechte und zum Verhältnis von Konsum und Moral im 20. Jahrhundert.

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