Frank Sowa | Essay | 08.05.2024
Fragile Behausungen als soziales Problem
Behausungen in Form von Wohnungen oder Wohnhäusern schützen Menschen nicht nur vor der sie umgebenden Natur oder Umwelteinflüssen wie Nässe, Kälte, Wind und Sonneneinstrahlung. Die technischen Mittel der Dach-Mauern-Konstruktionen schaffen einen geschlossenen, privaten Raum, der es Menschen erlaubt, einer gesellschaftlichen Erwartung gerecht zu werden, nämlich die meisten leiblichen Vitalfunktionen zu verhäuslichen und sie damit zu verbergen: In der Regel können wir in unserer Wohnung auf die Toilette gehen, unseren Körper pflegen, ihn be- und entkleiden, wir können Freunde einladen und feiern, aber auch schlafen und Sex haben.[1] In der eigenen Wohnung können wir also einfach nur sein,[2] wir müssen keine gesellschaftlich erwartete Rolle spielen oder mit anderen Menschen interagieren. Menschen eignen sich ihren eigenen, dauerhaft verfügbaren Wohnraum an, sie gestalten, kultivieren und erleben ihn.[3] Wir hängen Bilder an die Wand, dekorieren Tische, stellen Familienfotos auf und suchen Vorhänge für die Fenster aus. Dadurch dass wir die Gegenstände in der Wohnung gebrauchen oder ästhetisch betrachten, gehen wir eine körperliche und geistige Wechselwirkung zu ihnen ein und schreiben ihnen Bedeutungen zu. Der Wohnraum ist leiblich spürbar und die Bewohnenden fühlen sich mit ihm sinnlich-emotional verbunden.
Im Prozess des Einwohnens[4] machen sich Menschen ansässig, sie beheimaten und verwurzeln sich, dadurch dass sie Routinen und Sicherheiten im Umgang mit den vertrauter werdenden Räumen und Dingen der Wohnung entwickeln. Darüber hinaus gehen sie Beziehungen zur Nachbarschaft und dem Quartier ein,[5] aus verschieden gearteten Interaktionen zwischen Menschen, die sich im Small Talk über das Wetter vertiefen oder mit einer Erkrankung der Nachbarin mitfühlen, entsteht ein Stadtviertel. Das Behaustsein in Form eines eigenen, in der Regel mietrechtlich abgesicherten oder sich im Eigentum befindlichen Wohnraums ist die Basis von allem: Die Wohnung trägt zum physischen, psychischen und sozialen Wohlbefinden von Menschen bei, fungiert als Voraussetzung von sozialer, kultureller, politischer und digitaler Teilhabe und lässt vielfältige soziale Praktiken alltäglicher Lebensführung zu. Auf diese Weise identifizieren sich die Personen mit einem Ort, sie entwickeln und behaupten ihre Identität. Der eigene Wohnraum stellt ein menschliches Grundbedürfnis dar und ist daher schützenswert sowie als Grund- und Menschenrecht artikuliert.[6]
Formen von fragilen Behausungen
Dass der Schutz der Behausung für immer mehr Menschen nicht gewährleistet ist, dafür sorgen derzeit multiple Krisen, allen voran die Krise auf dem Wohnungsmarkt beziehungsweise genauer: der Mangel an leistbarem Wohnraum in Städten, der Abbau von Sozialwohnungen, die Inflation mit steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten bis hin zur COVID-19-Pandemie, Kriegsereignissen, wie dem Syrien- und aktuell dem Ukrainekrieg, und dem Klimawandel.[7] Immer mehr Menschen befinden sich daher in fragilen Behausungen.
Fragile Behausungen als gesellschaftlich hergestelltes Phänomen sind erstens als Formen prekärer Wohnverhältnisse zu verstehen: Obwohl eine Mietwohnung vorhanden ist, bietet sie keinen Schutz und kein Zuhause, da sie beengt ist, dort häusliche Gewalt erlebt wird oder von einem baldigen Wohnungsverlust auszugehen ist. Letzteres Phänomen ist unter anderem den Prozessen der residenziellen Segregation, Gentrifizierung, Deregulierung, Neoliberalisierung und Finanzialisierung der Wohnungsmärkte geschuldet und führt zu einer Entsicherung des Wohnens: Aufseiten der Mieter:innen entstehen subjektive Unsicherheiten und Ängste, ob sie die hohe Mietbelastung dauerhaft tragen können, ob Mietpreissteigerungen drohen oder Entmietungen durch Modernisierungsmaßnahmen stattfinden.
Fragile Behausungen beziehen sich zweitens auf Formen der ordnungsrechtlichen Unterbringung für wohnungslose Menschen in Not-, Gemeinschafts- oder Sammelunterkünften. Die Behausungen bieten mit Mehrbettzimmern und Schlafsälen ein (tages-)zeitlich begrenztes Obdach ohne Privatsphäre, die Wohnverhältnisse genügen vielfach nicht den mindesten Wohn- und Versorgungsstandards und werden häufig als menschenunwürdig wahrgenommen. Darüber hinaus gibt es auch ambulante und stationäre Wohnangebote in Wohnheimen, Wohngruppen oder Übergangswohnungen, deren Ausstattung mit Einzelzimmern viel besser ist, jedoch bleiben es Zimmer ohne Mietvertrag.
Mit fragilen Behausungen ist drittens die Inanspruchnahme informeller Unterstützungsnetzwerke für die Übernachtung gemeint, wenn bei Freund:innen, Verwandten oder Bekannten im Sinne eines Couchsurfings oder Sofa-Hoppings genächtigt wird. Die Betroffenen gehen häufig Zwangs- oder Zweckbeziehungen ein, die von hoher Abhängigkeit geprägt sind und zu Konflikten, psychischen Belastungen und sexueller Ausbeutung führen können.
Viertens implizieren fragile Behausungen auch Formen der Obdachlosigkeit. Kennzeichnend hierfür ist, dass die Menschen wohlfahrtsstaatliche Hilfeangebote nur geringfügig oder gar nicht nutzen und stattdessen versuchen, die Wohnungsnotfallsituation in Körperbehausungen[8] wie Schlafsäcken oder Kartons zu bewältigen, indem sie ‚Platte machen‘. Sie übernachten ‚auf der Straße‘, in Abbruchhäusern, Gartenlauben, Zelten oder Kellern, unter Brücken oder in einem wie auch immer beschaffenen Unterschlupf.
Was passiert, wenn Behausungen fragil werden?
In einem Raum zu leben, der zwar physischen, dafür aber keinen psychischen Schutz bietet oder keinen Rückzugsort darstellt, heißt: sich in fragilen Behausungen zu befinden. Die Fragilität von Behausungen verweist aber auch auf die unzureichende Materialität, sobald Menschen im öffentlichen Raum übernachten. Hier fehlt dann sowohl der psychische als auch der physische Schutz. Wenn Behausungen fragil werden, können Menschen in einen folgenreichen Ausgrenzungsprozess geraten, der sie vereinsamen lässt.
Im freien Fall
In unseren qualitativen Interviews, die wir seit dem Jahr 2018 an der Technischen Hochschule Nürnberg in verschiedenen Forschungsprojekten[9] erhoben haben, fiel immer wieder der Satz, dass der Verlust des Wohnraums einem „den Boden unter den Füßen weggerissen“ habe: Junge Menschen müssen aus der elterlichen Wohnung flüchten oder Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe verlassen, Mieterhöhungen sind nicht mehr leistbar, die Wohnung wird wegen Eigenbedarf gekündigt oder zwangsgeräumt. Das Wort „weggerissen“ meint eine Aktivität, die nicht von uns selbst ausgeht, eine andere Person reißt den Boden weg. Wir befinden uns im freien Fall, ohne Halt, ohne Chance, sich irgendwohin zu retten. Das Bild vermittelt uns also eine Bedrohung der Existenz.
Identität
Viele wollen sich selbst helfen, indem sie sich informelle Hilfe in ihrem Bekannten- und Freundeskreis oder in ihrer Familie suchen. Sie kommen für Tage, Wochen oder Monate bei anderen unter und schlafen auf dem Sofa. Eine Mutter mit ihrem Kind erzählt, was diese Zeit mit ihr gemacht hat:
„Wirklich schlimm, also es ist echt, man muss sich vorstellen, du lebst bei jemanden, der verlangt, dass du die Hälfte von allem machst und bezahlst, aber das ist trotzdem nicht dein Haus, das ist ihr Haus. […] Wir waren wie wir waren nicht mehr unser eigener Herr. Irgendwie waren wir nur noch (...) ich weiß gar nicht wie ich das beschreiben soll. Ja du bist einfach nicht mehr du selber du, das Gespräch habe ich dann auch mit ihr geführt, ich habe zu ihr gesagt, ich bin gar nicht mehr ich, ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin hier bei dir. Weil äh ich konnte gar nicht mehr ich sein. Ich konnte nicht kochen, was ich wollte, ich konnte nicht, ich konnte nicht ins Bett gehen wann ich wollte, ich konnt ich konnt gar nix machen, was ich wollte, dort. Das war echt das war wirklich krass, das kann man sich nicht vorstellen, wenn man es nicht durchgemacht hat. Obwohl es eine sehr gute Freundin von mir, wir kannten uns jahrelang schon.“[10]
Menschen, deren Existenz bedroht ist und die deshalb Hilfe von anderen annehmen, befinden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis, da sie kein Recht auf Hilfe haben. Das Umfeld hilft ihnen aus altruistischen Motiven, kann die Hilfe aber auch wieder entziehen. In unserem Fall ging es soweit, dass die Interviewpartnerin keine eigenen Entscheidungen mehr treffen konnte. Wenn wir nicht mehr Ich sein können, müssen wir unsere persönliche Identität, unser impulsives Ich unterdrücken, wir sind auf die Rolle der dankbaren Person reduziert, die gehorsam sein muss, um keine schlimmere Bestrafung erleben zu müssen.
Macht
Alle Beziehungen, die wir im freien Fall eingehen, sind Abhängigkeitsverhältnisse – Figurationen oder Beziehungsgeflechte der Macht.[11] Eine interviewte Frau spricht über ihr Übernachten auf dem Sofa wie folgt:
„Und wir waren übrigens nicht zusammen, aber hatten trotzdem Sex. Es war einfach nur, weil ich dachte, ‚ich muss es, weil was ist, wenn er mich rausschmeißt, dann bin ich obdachlos, dann muss ich auf die Straße‘.“[12]
Ihre Position ist sehr schwach und vulnerabel und wird von ihrem Bekannten ausgenutzt. Aus Angst davor, auf die Straße zu müssen, unterwirft sie sich den Strukturen der Ausbeutung, der Unterdrückung. Im freien Fall besteht also nicht nur die Gefahr, die eigene Identität aufgeben und die Rolle der dankbaren Person annehmen zu müssen. Frauen und Männer in fragilen Behausungen müssen oftmals Gewalt und Machtmissbrauch erdulden, um nicht obdachlos zu werden.
Überlebenskampf
Manche verlieren dennoch jegliches Dach über dem Kopf und eignen sich ein körperbezogenes Erfahrungswissen, ein implizites Wissen, an, um ihr Überleben auf der Straße zu sichern.[13] Ein Mensch mit Obdachlosigkeitserfahrungen berichtet:
„Wohnungslos zu sein, das ist sehr kostspielig. Du musst schauen jeden Tag: wo krieg ich einen Pennplatz, da muss es trocken und warm sein am besten. Wenn möglich, dass man dann auch noch das Handy laden kann oder sonstiges ne oder was zum Essen. Keine Wohnung, kein Kühlschrank, kein Strom. […] Mit der Wohnung weiß ich, ich schlaf daheim, lad ich mein Telefon, da haben wir meinen Strom, da habe ich meine Küche, da liegt mein Essen eh da wasch ich mich und sonstiges ne, da brauch ich nicht überlegen. Das sind viele Punkte, die alle wegfallen ja eh wenn ich eine Wohnung habe.“[14]
Während für Wohnende die Befriedigung alltäglicher Grundbedürfnisse wie Schlafen und Essen, der Zugang zu Strom und Internet nur einen verhältnismäßig geringen Teil des Alltags einnimmt, stellen sich für den Interviewten täglich sehr viele aufwendige und kostspielige Aufgaben. Im weiteren Verlauf des Interviews spricht er von einer Verzweiflung, die aufkommt, da er jeden Tag wieder von Neuem beginnen muss, sich sehr zeitintensiv um die alltäglichen Grundbedürfnisse zu kümmern. Es ist eine Sisyphusarbeit, ohne die Chance, etwas grundlegend an seiner Situation zu verändern.
Wohnungsmarktsubjekte
Eine Wohnung würde mit einem Schlag alles ändern. Der freie Fall würde gebremst, die eigene Identität, das eigene Sein könnte wieder ausgelebt werden, die Unterdrückung und der Machtmissbrauch würden reduziert oder sogar beendet und das tägliche Überleben stellte nicht mehr zwangsläufig einen Kampf dar. Doch Sozialarbeiter:innen nehmen zunehmend eine resignative Haltung ein, wenn sie über die Vermittlung in Wohnraum sprechen:
„Die Hoffnung wieder ne Wohnung zu finden ist ja zurzeit eher eh gleich Null. Weil das ist die schwächste Gruppe, die sich hinten anstellt, hinter all den anderen Studenten oder sonstigen Leuten, die einen Wohnraum suchen, die ja natürlich auch irgendeinen Platz brauchen und so weiter und so am Ende der Kette und dann davon keine Hoffnung mehr haben, wie es dann weiter geht das da.“ [15]
Menschen mit Wohnungslosigkeitserfahrungen werden systematisch aus dem Wohnungsmarkt ausgeschlossen,[16] genauso wie Menschen mit Migrationshintergrund oder Bürgergeldempfänger:innen.[17] Sie sind nicht als Wohnungsmarktsubjekte[18] anerkannt. Da sich die Politik aus der Wohnraumversorgung weitgehend zurückgezogen hat und die Kräfte des Marktes unreguliert agieren sollen, funktioniert der aktuelle Wohnungsmarkt als Austausch von Anbieter:innen und Nachfrager:innen von Wohnraum. Mit anderen Worten: Vermieter:innen und Mieter:innen müssen als Marktteilnehmende auftreten. Es ist also egal, welche Werte sie vertreten, welche Biografie sie haben, welche Fähigkeiten und Kenntnisse sie besitzen.
Ob jemand als legitimes Wohnungsmarktsubjekt anerkannt wird, ist davon abhängig, ob er oder sie das gesellschaftlich konstruierte Bild idealer Mieter:innen bedient. In der Regel geht es dabei in erster Linie darum, dass die vertraglichen Verpflichtungen des Mietverhältnisses erfüllt werden können, weshalb sich Vermieter:innen von Mietinteressent:innen nicht nur den Personalausweis sowie eine Selbstauskunft über persönliche Daten, vergangene Mietverhältnisse und wirtschaftliche Verhältnisse zeigen lassen, sondern auch Nachweise über ein regelmäßiges Einkommen und eine Bonitätsauskunft (ggf. Schufa-Auskunft) einholen. Andere, oftmals diskriminierende Vorstellungen von idealen Wohnungsmarktsubjekten, die bei der Wohnungsvergabe eine Rolle spielen können, werden nicht offen geäußert (zum Beispiel äußeres Erscheinungsbild, Nationalität). Menschen in fragilen Behausungen sind von der Transformation der Wohnungsmärkte besonders stark betroffen, da sie mit vielen anderen, als statushöher eingestuften Menschen um leistbaren Wohnraum[19] konkurrieren müssen. Dabei kommen sie häufig gar nicht als potenzielle Mieter:innen in Betracht, da unter Umständen Schufa-Einträge vorliegen, keine Meldeadresse vorhanden ist oder keine Mietkaution im Voraus gezahlt werden kann. Die fehlende Marktfähigkeit führt dazu, dass Menschen ohne Wohnung aus dem Wohnungsmarkt exkludiert werden.
Derzeitige gesellschaftliche Bearbeitungsmodi
Im Sinne eines doing social problems[20] werden soziale Probleme erst dann als solche gesellschaftlich bearbeitet, wenn Medien, soziale Bewegungen, Öffentlichkeit und Wissenschaft Problemkategorien etabliert haben, diese in den politischen Prozess eingeflossen sind, eventuell sogar gesetzlich verankert wurden und wenn spezifische Organisationen für die Problembearbeitung zuständig sind.[21] Letztere übernehmen im Rahmen ihrer eigenen Logiken und fachlichen Deutungen die Umsetzung der gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Es existieren (wohlfahrt-)staatliche Bearbeitungsmodi der Prävention und Intervention für Menschen in fragilen Behausungen. Sie konzentrieren sich aufgrund der Gesetzeslage auf bestimmte Formen der Fragilität (Obdachlosigkeit, Wohnungslosigkeit, häusliche Gewalt) oder spezifische Adressat:innen (Jugendliche, Geflüchtete). So wird unfreiwillige Obdachlosigkeit nach dem Polizei- und Ordnungsrecht bearbeitet: Die obdachlosen Körper[22] sollen sich nicht im öffentlichen Raum aufhalten, obdachlose Menschen werden in für sie vorgesehenen Einrichtungen ordnungsrechtlich untergebracht, da sie die öffentliche Ordnung und Sicherheit stören oder sogar bedrohen. Durch ihre bloße Anwesenheit erscheinen sie als Störer:innen der Gesellschaft und Gefährder:innen der öffentlichen Sicherheit.[23] Neuere juristische Interpretationen sehen die öffentliche Sicherheit gefährdet, insofern elementare Grund- und Menschenrechte als Individualrechtsgüter von unfreiwillig obdachlosen Menschen nicht gewährleistet sind (Gefährdung des Lebens, der Gesundheit, der Menschenwürde oder der körperlichen Unversehrtheit).[24] Obdachlose Personen gelten in dieser Lesart als schutzbedürftig, wodurch eine Unterbringung notwendig wird, deren Standards jedoch paradoxerweise nicht als menschenrechtskonform zu bewerten sind.
Wird auf die gesetzliche Verankerung des sozialen Problems der Wohnungslosigkeit fokussiert, so ist zunächst überraschend, dass Wohnungslosigkeit im Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) nicht explizit auftaucht. Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen sind, stehen zur Überwindung ihrer besonderen sozialen Schwierigkeit Leistungen nach dem SGB XII gemäß §§ 67 ff. zur Verfügung. Dies entwirft Hilfebedürftige ganz allgemein als abhängige, verletzlich-verhaltende Exkludierte mit Leistungsanspruch: a) ihre besonderen Lebensverhältnisse führen aufgrund der objektiven Mangelsituation in der Wohnraumversorgung zur Exklusion, b) soziale Schwierigkeiten als individuelle, verletzende Verhaltensmuster (wie Sucht, Schulden etc.) verhindern die Lösung der Mangelsituation, weshalb sozialarbeiterische Bedarfe virulent werden und c) liegt eine massive, nicht unbedingt vollständige Einschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit vor.
Plädoyer für eine andere Deutung des Problems
Wie wir festgestellt haben, befinden sich Menschen, deren Behausung fragil wird, im freien Fall, sie können ihre eigene Identität nicht mehr ausleben, sie sind Unterdrückung und Machtmissbrauch ausgesetzt und führen täglich einen Überlebenskampf, der jedoch die grundsätzliche Situation nicht verändert. Eine Lösung ist in weiter Ferne, da die rezente Konstruktion des Wohnungsmarktes Menschen mit Wohnungslosigkeitserfahrung nicht als legitime Wohnungsmarktsubjekte anerkennt und zu wenig leistbarer Wohnraum bereitgestellt wird. Derzeitige gesellschaftliche Bearbeitungsmodi setzen an den Individuen an, die unter anderem als Störer:innen der Gesellschaft oder als abhängige, verletzlich-verhaltende Exkludierte mit Leistungsanspruch konzipiert werden. Ist mit diesen Problematisierungen das eigentliche Phänomen überhaupt adressiert?[25]
Wenn wir fragile Behausungen als soziales Problem begreifen, ändert sich die Perspektive. Es geht nicht um ein Individuum, das mittels Verhaltensänderung die eigene Situation bewältigen muss. Die gesellschaftliche Bearbeitung müsste an der Anerkennung der Wohnungsmarktsubjekte ansetzen: Als Gesellschaft ist es unsere gemeinsame Aufgabe, Behausungen für alle sicherzustellen, damit alle Gesellschaftsmitglieder einen Ort haben, an dem sie einfach nur sein können, wo sie physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden erleben und soziale, kulturelle, politische und digitale Teilhabe in der Nachbarschaft, im Quartier oder der Stadtgesellschaft entwickeln. Hierfür bedarf es einer grundlegend anderen Deutung des sozialen Problems: Das soziale Problem ist die Fragilität der Behausung. Eine eigene Behausung muss als menschliches Grundbedürfnis anerkannt und gesichert werden.
Dies erfordert andere gesellschaftliche Strukturen, Zuständigkeiten und gesetzliche Rahmenbedingungen, die Menschen in fragilen Behausungen nicht zu anderen der Gesellschaft macht. Vielmehr ist – wie Christoph Reinprecht und Irina Kachapova jüngst vorgeschlagen haben – die Fragilität von Behausungen als generalisiertes Risiko aufzufassen, von dem aufgrund der Anforderungen einer mobilen Lebensführung jede:r während seines/ihres Lebens betroffen sein kann. Deshalb müssen strukturelle, nicht beschämende und stigmatisierende Lösungen für alle Menschen mit konkreten Wohnbedarfen und Wohnbedürfnissen etabliert werden, beispielsweise in Form kommunaler Büros für Wohnungsfragen.[26] Dies würde jedoch erfordern, dass fragile Behausungen als soziale Probleme anerkannt werden und ihre (wohlfahrt-)staatlichen Bearbeitungsmodi nicht an den Schnittstellen von Sozial- und Wohnungspolitik sowie an der föderalen Struktur von Bund, Länder und Kommunen scheitern. Es bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung, um sichere Behausungen für alle zu schaffen.
Fußnoten
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- Antje Flade, Wohnen in der individualisierten Gesellschaft. Psychologisch kommentiert, Wiesbaden 2020; Peter Gleichmann, Wohnen, in: Hartmut Häußermann (Hg.), Großstadt. Soziologische Stichworte, 2. Aufl., Wiesbaden 2000, S. 272–281; Hartmut Häußermann / Walter Siebel, Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, Weinheim 1996; Jürgen Hasse, Wohnen, in: Frank Eckardt (Hg.), Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden 2012, S. 475–502.
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- Sebastian Kurtenbach, Soziologie der Nachbarschaft. Befunde zu einer komplexen Selbstverständlichkeit, Frankfurt am Main / New York 2024.
- Während die Unverletzlichkeit der Wohnung im Grundgesetz, Art. 13 festgeschrieben ist, fehlt es an einer Umsetzung des Menschrechts auf Wohnen beziehungsweise Wohnraum. Vgl. Deutscher Bundestag (Hg.), Das Recht auf Wohnen. Sachstand, WD 7 - 3000 - 188/16, Berlin 2022; Gleichmann, Wandel der Wohnverhältnisse; Michael Krennerich, Ein Recht auf (menschenwürdiges) Wohnen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 68 (2018), 25–26, S. 9–14.
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- Die Interviewsequenz ist folgender Arbeit entnommen: Silvia Diel, Lebenswelten wohnungsloser Menschen, unveröff. Bachelorarbeit in Sozialer Arbeit, Technische Hochschule Nürnberg 2018, Anhang S. 4.
- Norbert Elias, Was ist Soziologie? Grundfragen der Soziologie [1971], 6. Aufl., Weinheim 1991; ders., Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt am Main 1997; Frank Sowa, Wohnungsnot als Figuration – Figurationen der Wohnungsnot, in: ders. (Hg.), Figurationen der Wohnungsnot, S. 9–34.
- Frieda Heinzelmann / Michael Domes / Christian Ghanem / Frank Sowa, „Weil dieser Mensch hat’s einfach in mein Kopf, in mein Herz (…) geschafft“. Zur Beziehungsgestaltung von jungen wohnungslosen Menschen und Sozialarbeiter_innen, in: Österreichisches Jahrbuch für Soziale Arbeit 5 (2023), S. 161–182, hier S. 167.
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- Samira Kawash, The Homeless Body, in: Public Culture 10 (1998), 2, S. 319–339.
- Georg Huttner, Die Unterbringung Obdachloser durch die Polizei- und Ordnungsbehörden, Wiesbaden 2017; Kay-Uwe Rhein, Gesetz über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden (OBG NRW), Stuttgart 2004.
- „Nach den Polizei- und Ordnungsgesetzen aller Bundesländer ist es die Aufgabe der Polizei-, Ordnungs-, Verwaltungs- und Sicherheitsbehörden, von dem Einzelnen und dem Gemeinwesen Gefahren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird, abzuwehren, soweit es im öffentlichen Interesse geboten ist. Zur öffentlichen Sicherheit gehört in ihrer individualbezogenen Schutzrichtung die Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen. Darunter fallen insbesondere als Individualrechtsgüter die Grundrechte. Eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit liegt daher immer dann vor, wenn elementare Grund- bzw. Menschenrechte gefährdet werden.“ Karl-Heinz Ruder, Grundsätze der polizei- und ordnungsrechtlichen Unterbringung von (unfreiwillig) obdachlosen Menschen unter besonderer Berücksichtigung obdachloser Unionsbürger [22.4.2024], Berlin 2015, S. 13 f.; ders., Obdachlosenpolizeirecht, in: Stefan Gillich / Rolf Keicher (Hg.), Ohne Wohnung in Deutschland. Armut, Migration und Wohnungslosigkeit, Freiburg 2017, S. 158–172.
- Carol Lee Bacchi, Analysing Policy. What’s the Problem Represented to Be?, Frenchs Forest 2009.
- Christoph Reinprecht / Irina Kachapova, Wohnungslosigkeit als generalisiertes Risiko, in: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung (2024), 94, S. 15–20.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Politik Sicherheit Soziale Ungleichheit Stadt / Raum Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
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