Uwe Schimank | Rezension |

Gesellschaftsgeschichte à la Luhmann

Rezension zu „Gesellschaft ohne Zentrum. Deutschland in der differenzierten Moderne“ von Benjamin Ziemann

Benjamin Ziemann:
Gesellschaft ohne Zentrum. Deutschland in der differenzierten Moderne
Deutschland
Ditzingen 2024: Reclam
335 S., 32 EUR
ISBN 978-3-15-011423-0

Schon vor etlichen Jahren plädierte der Historiker Benjamin Ziemann dafür, die Geschichte der modernen Gesellschaft aus der soziologischen Perspektive von Niklas Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung zu schreiben.[1] Er brachte dieses Vorhaben insbesondere gegenüber Hans-Ulrich Wehlers deutscher Gesellschaftsgeschichte in Stellung, die ihren analytischen Bezugsrahmen – Wirtschaft, Politik, Ungleichheit und Kultur – soziologisch von Max Weber herleitet.[2] Eine fürwahr mutige Herausforderung solch eines Kontrahenten!

Siebzehn Jahre später legt Ziemann nun ein Buch vor, in dem er vorführen möchte, dass und warum funktionale Differenzierung der bessere Generalschlüssel zum Verständnis der modernen Gesellschaft ist als Wehlers Zugang sowie die zahlreichen politik-, wirtschafts-, sozial- oder kulturgeschichtlichen Ansätze anderer Historiker:innen. Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, von denen die ersten vier die deutsche Gesellschaft insgesamt für den Zeitraum von 1871 bis 1980 als eine zunehmend funktional differenzierte interpretieren. Die folgenden drei Kapitel widmen sich Phänomenen, die einzelne gesellschaftliche Teilsysteme (Religion, Politik,[3] Sport) betreffen. Abschließend geht der Autor in zwei Kapiteln auf differenzierungstheoretische soziologische Gesellschaftsbeschreibungen im 20. Jahrhundert sowie auf Folgeprobleme der gesellschaftlichen Durchsetzung funktionaler Differenzierung ein.

Bereits dieser Inhaltsüberblick zeigt, dass der Autor mit dem Buchtitel und der Selbstpositionierung gegenüber Größen wie Wehler den Mund wohl etwas zu voll genommen hat. Denn beides suggeriert Leser:innen, dass Ziemann ein Gesamtbild dieser gut hundert Jahre deutscher Gesellschaftsgeschichte ausbreiten werde, das alle gesellschaftlichen Teilsysteme sowie deren miteinander wechselwirkende Differenzierungsdynamiken erfasst und sich als überlegene „erneuerte Gesellschaftsgeschichte“ (S. 93) erweisen werde. Schon in der Einleitung backt der Autor dann doch kleinere Brötchen, wenn er klarstellt, dass er lediglich differenzierungstheoretische „Fallstudien zur deutschen Gesellschaftsgeschichte von 1880 bis 1980“ (S. 16) vorlege. Was er schließlich tatsächlich serviert, sind in der Tat allenfalls Kostproben; und diese müssen noch dazu insgesamt als ‚halbgar‘ – mal mehr, mal weniger überzeugend – eingestuft werden.

Ziemann bürdet sich eine Beweislast auf, die nicht zu tragen ist. Denn er stellt Fallstudien gegen vorliegende Gesamtdarstellungen – so kann man kaum gewinnen. Das gilt nicht nur für die Kapitel 5 bis 7, sondern auch für die ersten vier Kapitel, in denen gesamtgesellschaftliche Entwicklungen behandelt werden, aber zur Verdeutlichung stets nur wenige Teilsysteme mit wenigen empirischen Phänomenen illustrativ herangezogen werden. Selbst in jenen Abschnitten, wo die Fallstudien überzeugen, behandeln sie das allermeiste differenzierungstheoretisch Wichtige, das im betrachteten Zeitraum in Deutschland geschah, nicht. Der Autor beansprucht nicht einmal, dass die Auswahl der Fallstudien nach dem Grad ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Bedeutung erfolgt ist. Man könnte in den meisten Fällen sogar das glatte Gegenteil behaupten. Überspitzt formuliert: Es sind oft drittrangige Phänomene – etwa die unternehmerisch florierende Caritas in der ansonsten im Niedergang befindlichen katholischen Kirche der Nachkriegsära (S. 159 ff.) – in zweitrangigen Teilsystemen wie Sport, Kunst oder Religion, denen größere Aufmerksamkeit gewidmet wird; die großen Treiber des gesamtgesellschaftlichen Geschehens – allen voran Wirtschaft und Politik in Verbindung mit den sich ausdifferenzierenden Massenmedien – sowie die dort ausgelösten Weichenstellungen funktionaler Differenzierung kommen nur am Rande zur Sprache.

Der Autor könnte unter Berufung auf Luhmann entgegnen, dass doch eine Kernaussage der Theorie funktionaler Differenzierung sei, dass alle Teilsysteme von gleicher Wichtigkeit seien, es also keinen gesamtgesellschaftlichen Primat etwa der Wirtschaft und nicht einmal Wichtigkeitsabstufungen der Teilsysteme gebe. Doch das wäre eine Luhmann missverstehende Verwechslung des Tatbestands, dass kein Teilsystem durch ein anderes substituiert werden kann, mit deren gleicher ‚Augenhöhe‘. Wer wollte ernsthaft bezweifeln, dass etwa die Politik das gesamtgesellschaftliche Geschehen – in ihr selbst und in allen anderen Teilsystemen – stärker prägt als beispielsweise die Kunst! Ganz zu schweigen von einem Teilsystem wie dem Sport, dessen Totalausfall nicht zum Zusammenbruch der funktional differenzierten Gesellschaft führen würde – ganz anders als etwa beim Rechts- oder Erziehungssystem!

Wenn Ziemanns Auswahl der Fallstudien also nicht die gesellschaftliche Bedeutsamkeit des Differenzierungsgeschehens widerspiegelt, das sich dort zugetragen hat, könnte das Auswahlkriterium gewesen sein, dass man an ihnen zentrale Vorzüge der differenzierungstheoretischen Perspektive besonders gut demonstrieren kann. Dagegen spricht allerdings schon, dass der Autor es versäumt, diese von ihm favorisierte Betrachtungsweise moderner Gesellschaft am Anfang seiner Darlegungen ausführlich, präzise und systematisch zu präsentieren – einschließlich eines nicht bloß schlagwortartigen Stärken-/Schwächen-Vergleichs mit konkurrierenden Theorieangeboten. Er kann schließlich keineswegs voraussetzen, dass Historiker:innen schon wissen, wovon er spricht – im Gegenteil müsste er davon ausgehen, dass die Kolleg:innen seinem Plädoyer vorurteilsbehaftet gegenüberstehen. Angesichts dieser Ausgangslage mutet es geradezu fahrlässig an, wie oberflächlich funktionale Differenzierung erläutert wird. Der differenzierungstheoretische analytische Bezugsrahmen wird an keiner Stelle zusammenhängend eingeführt; stattdessen gibt es über das Buch hinweg verstreute, oft nicht sehr genaue Begriffsbestimmungen von funktionaler Differenzierung (S. 9 f., 265–267), binärem Code (S. 9 f., 17, 234–238), Ausdifferenzierung (S. 27–37, 62–65), Funktion/Leistung (S. 159–165, 231–233), Emergenz (S. 65–68, 246 f.), Programmstrukturen (S. 66), teilsystemischer Autonomie (S. 72–75, 275–278), Leistungs-/Publikumsrollen (S. 66 f., 214–216), Erfolgs- und Verbreitungsmedien (S. 77 f., 102–105, 121–124, 137 f.), Polykontexturalität (S. 53), struktureller Kopplung (S. 86–91) und Ähnlichem mehr. Die differenzierungstheoretisch weniger bewanderten Leser:innen verstehen vieles womöglich falsch oder gar nicht, und kundige Anhänger:innen der Differenzierungstheorie dürften diese Präsentation als ein ausgesprochenes Ärgernis erachten: Auch ein Verächter der Theorie hätte diese nicht nachlässiger darstellen können.

Bei einem Blick auf das Publikationsverzeichnis Ziemanns wird schnell deutlich, dass die Auswahl der angeführten Belege fortschreitender funktionaler Differenzierung in der Gesellschaftsgeschichte Deutschlands zwischen 1871 und 1980 vor allem auf idiosynkratische thematische Vorlieben des Autors zurückzugehen scheinen – etwa seine Beschäftigung mit der katholischen Kirche, der Arbeiter- und der Friedensbewegung. Ein solches Auswahlkriterium ist ungeeignet, um den vom Autor erhobenen Anspruch zu untermauern: nämlich dass Luhmann ein besserer Versteher moderner Gesellschaft als andere Soziolog:innen oder Historiker:innen sei. Hinzu kommt, dass die Theorie funktionaler Differenzierung bei Ziemann immer wieder für ausgesprochen triviale Aussagen herhalten muss – wenn etwa als differenzierungstheoretischer Erkenntnisgewinn zur „Ausgrenzung der jüdischen Minderheit“ im nationalsozialistischen Deutschland verbucht wird, dass dies „durch Ausschluss aus den Funktionssystemen erfolgte“ (S. 138 f.). Wie denn sonst?! Auch ohne differenzierungstheoretischen Begriffsapparat ist dieser Vorgang längst oft genug genauso geschildert worden. An anderen Stellen legt Ziemann eine fast schon rührend-treuherzige Luhmann-Orthodoxie an den Tag, wenn er bestimmte Thesen anderer Autoren damit zu widerlegen meint, dass Luhmann aber etwas anderes dekretiert habe (siehe etwa S. 322, Endnote 67). Generell gilt, dass die übergreifende These des Buches wenig originell ist: Deutschland ist bekanntermaßen – wie alle anderen Länder der westlichen Moderne – seit gut 150 Jahren eine funktional differenzierte „Gesellschaft ohne Zentrum“ (S. 53).

Die Gesamtanlage des Buches vermag also nicht zu überzeugen. Dennoch finden sich an vielen Stellen differenzierungstheoretisch durchaus interessante Einzelbeobachtungen. Positiv hervorzuheben sind hier vor allem die Kapitel 4 und 7. In Kapitel 4 (S. 95 ff.) geht es um den Nationalsozialismus als eine Gesellschaft, in der die politisch Herrschenden funktionale Differenzierung zurückschrauben wollten, um gesamtgesellschaftliche Kontrolle zu erlangen. Dass dies in denjenigen Teilsystemen gelang, die Erfolgsmedien haben (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Recht), aber bei den Massenmedien und dem Erziehungssystem nicht – bei ersteren, weil sie auf einem Verbreitungsmedium beruhen, bei letzterem, weil es nicht über ein generalisiertes Kommunikationsmedium verfügt –, ist eine spannende These, die genauere Prüfung verdient. In Kapitel 7 (S. 199 ff.) zur Ausdifferenzierung des Sports führt der Autor unter anderem überzeugend vor, wie viele verschiedene Beweggründe der Durchsetzung des sportlichen Codes Gewinnen/Verlieren im Weg standen. Das sei, so Ziemanns These, vor allem deshalb so gewesen, weil er dem rücksichtslos egoistischen Darwinismus der kapitalistischen Wirtschaft ähnelte, was weder die Arbeiterbewegung noch der Katholizismus für ihr Sporttreiben hinnehmen wollten. Auch die Fallstudie zur katholischen Kirche nach 1945 in Kapitel 5 (S. 141 ff.) vermag in ihrem Verweis darauf, dass eine glatte Säkularisierungsthese nicht aufgehe, durchaus zu überzeugen. Hier führt der Autor unter anderem eine Rollendifferenzierung in der Seelsorge sowie eine „Differenzierung kirchlicher Grundfunktionen“ (S. 156) in Gestalt einer Aufmerksamkeitsverschiebung von der gesamtgesellschaftlichen Funktion zu Leistungsbezügen zu anderen Teilsystemen an – insbesondere auch zum Teilsystem Intimbeziehungen als Ehe- und Erziehungsberatung. Das ist durchaus informativ zusammengestellt. Wenn Ziemann dann aber im Schlussabschnitt des Kapitels unter der Überschrift „Säkularisierung: Verlustgeschichte oder Gewinn pastoraler Kompetenz“ (S. 165 ff.) mittels schiefer Vergleiche – dass die Anzahl der sonntäglichen Kirchenbesucher im Jahr 1980 die Besucherzahlen der 18 Bundesligavereine weit übertraf – suggerieren will, dass es doch so schlimm wie von der Säkularisierungsthese schon damals behauptet um die katholische Kirche gar nicht stand, wird man den Verdacht nicht los, dass sich ein aufrechter Katholik die Lage schönredet.

Insgesamt ist das Buch leider niemandem zu empfehlen, der prüfen möchte, ob eine differenzierungstheoretische Perspektive die Gesellschaftsgeschichte grundlegend zu bereichern vermag. Ich sage das mit großem Bedauern, weil ich wie der Autor die Auffassung vertrete, dass die funktionale Differenzierung als ein zentrales Ordnungsmuster der Moderne historisch noch immer sträflich vernachlässigt wird. Für differenzierungstheoretisch Überzeugte und Geübte bietet das Buch immerhin eine Reihe interessanter empirischer Entdeckungen zu verschiedenen Teilsystemen der modernen Gesellschaft – insbesondere solchen, die anders als Politik und Wirtschaft weniger beachtet worden sind.

  1. Benjamin Ziemann, The Theory of Functional Differentiation and the History of Modern Society. Reflections on the Reception of Systems Theory in Recent Historiography, in: Soziale Systeme 13 (2007), 1 und 2, S. 220–229.
  2. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band I-V, München 1987 bis 2008.
  3. Allerdings im Kapitel 6 (S. 172 ff.) fokussiert auf die westdeutsche Friedensbewegung von 1945 bis 1990 als Protest gegen außen- und verteidigungspolitische Weichenstellungen. Politik als funktional ausdifferenziertes gesellschaftliches Teilsystem kommt kaum zur Sprache. Das Kapitel ist nur darüber ins Buch eingebunden, dass sozialen Bewegungen ebenfalls binäre Codes zugeschrieben werden.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Geschichte Gesellschaft Gesellschaftstheorie Systemtheorie / Soziale Systeme

Uwe Schimank

Professor Dr. Uwe Schimank ist Professor für Soziologische Theorie an der Universität Bremen.

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