Miranda Fricker | Essay |

Hermeneutische Ungerechtigkeit

Vorabdruck aus „Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens“ von Miranda Fricker

Es gibt Ungerechtigkeiten, die den Menschen als epistemisches, also erkennendes und wissendes Subjekt betreffen, und die untrennbar mit der Verteilung sozialer Macht verbunden sind. Mit dieser These sorgte Miranda Frickers „Epistemic Injustice“ bei seinem Erscheinen im Jahr 2007 für Aufsehen. In ihrem Buch bestimmt die britische Philosophin, die an der New York University lehrt, zwei Formen epistemischen Unrechts: Zeugnisungerechtigkeit und hermeneutische Ungerechtigkeit. Zeugnisungerechtigkeit beschreibt den Umstand, dass einer Sprecherin aufgrund von Vorurteilen weniger Glaubwürdigkeit zugemessen wird, etwa wenn Aussagen von People of Color vor Gericht behandelt werden, als seien sie weniger vertrauenswürdig. Hermeneutische Ungerechtigkeit beschreibt eine Benachteiligung, die entsteht, wenn marginalisierte Gruppen nicht über die Begriffe und Deutungsmittel verfügen, um Leidenserfahrungen sinnvoll zu deuten und zu kommunizieren, etwa wenn ein sexualisierter Übergriff – auch von den Betroffenen – nicht als solcher erkannt wird, weil es in der Gesellschaft kein Verständnis von dieser Art Gewalt und auch keine Sprache für sie gibt.

Inzwischen haben zahlreiche Arbeiten an Frickers Begriffsbestimmung angeschlossen, sie weiterentwickelt und ausdifferenziert; „Epistemic Injustice“ ist zum Klassiker avanciert. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass das Buch nun endlich auch auf Deutsch – übersetzt von Antje Korsmeier – erscheint. Wir freuen uns, vorab einen Auszug aus dem 7. Kapitel veröffentlichen zu können, das sich der hermeneutischen Ungerechtigkeit und ihren Bedingungen widmet, und danken dem Verlag C.H. Beck wie der Autorin für die freundliche Genehmigung.

– Die Redaktion

Der zentrale Fall von hermeneutischer Ungerechtigkeit

Der Feminismus beschäftigt sich schon seit langem mit der Frage, wie Machtverhältnisse die Fähigkeit von Frauen, ihre eigenen Erfahrungen zu verstehen, mitunter einschränken. Anfangs bediente sich dieses feministische Anliegen einer marxistischen Begrifflichkeit, was wir in der ursprünglichen und dezidiert historisch-materialistischen Bestimmung der feministischen Position ausgedrückt finden: «Die Unterdrückten leben in einer Welt, die andere gemäß ihren eigenen Zwecken gestaltet haben – Zwecke, die keineswegs die unseren sind und die in unterschiedlichem Maße für unsere Entwicklung und sogar unsere Existenz von Nachteil sind.»[1] In diesem Zitat von Nancy Hartsock hat das Wort «gestaltet» [structured] drei Bedeutungen. Alle drei beziehen sich auf den historisch-materialistischen Zusammenhang, auch wenn nur eine davon hier von zentraler Bedeutung ist. Hartsocks Bemerkung kann im materiellen Sinne gelesen werden, was hieße, dass die gesellschaftlichen Institutionen und Praktiken die Mächtigen begünstigen. Oder sie kann ontologisch gelesen werden, sodass sie impliziert, dass die Mächtigen in gewisser Weise die Gesellschaft konstituieren. Man kann sie aber auch als Ausdruck eines erkenntnistheoretischen Standpunkts begreifen, nämlich als Hinweis darauf, dass die Mächtigen hinsichtlich der Gestaltung kollektiver sozialer Verständnisse einen unfairen Vorteil haben. Unser Interesse an den verschiedenen Formen epistemischer Ungerechtigkeit führt uns natürlich zu der erkenntnistheoretischen Lesart. Dennoch werden die verwandten materiellen und ontologischen Fragen nie ganz fern sein, denn es ist offensichtlich, dass bestimmte materielle Vorteile den erkenntnistheoretischen Vorteil hervorbringen – wenn man über materielle Macht verfügt, hat man tendenziell Einfluss auf die Praktiken, durch die soziale Bedeutungen erzeugt werden. Und im hermeneutischen Kontext sozialen Verstehens ist ebenfalls klar: Wenn Verständnisse auf eine bestimmte Weise strukturiert sind, dann sind auch die sozialen Gegebenheiten – zumindest manchmal – entsprechend strukturiert. Wir haben bereits Fälle kausaler und konstitutiver Konstruktion von sozialer Identität kennengelernt, als wir uns mit Zeugnisungerechtigkeit befasst haben, und wir werden ähnlichen Fällen begegnen, wenn es um hermeneutische Ungerechtigkeit geht. In hermeneutischen Zusammenhängen, beispielsweise unserem Wissen über die soziale Welt, sammeln sich im Umfeld der Erkenntnistheorie natürlich auch materielle und ontologische Fragen, aber unser Hauptaugenmerk wird auf unseren epistemischen Praktiken und ihren ethischen Implikationen liegen.

Die erkenntnistheoretische Annahme, dass sich soziale Macht unfair auf kollektive Formen des sozialen Verstehens auswirkt, lässt sich so deuten, dass unsere geteilten Verständnisse die Sichtweisen verschiedener sozialer Gruppen widerspiegeln und dass ungleiche Machtverhältnisse gemeinsame hermeneutische Ressourcen verzerren können. In der Folge verfügen die Mächtigen meistens über ein angemessenes Verständnis ihrer sozialen Erfahrungen, auf das sie zurückgreifen können, wenn sie sich einen Reim darauf machen. Wohingegen die Machtlosen soziale Erfahrungen eher schemenhaft wahrnehmen und bestenfalls auf untaugliche Bedeutungen zurückgreifen können, wenn sie versuchen, ihre eigenen Erfahrungen zu verstehen. Die Geschichte der Frauenbewegung zeigt, dass das Verfahren der Bewusstseinsbildung durch «Speak-outs» und die Weitergabe von kaum verstandenen, spärlich artikulierten Erfahrungen eine unmittelbare Reaktion darauf waren, dass so viele Erfahrungen von Frauen im Verborgenen blieben und für vereinzelte Individuen sogar unaussprechlich waren. Das Teilen solcher halbverstandenen Erfahrungen weckte bisher schlummernde Ressourcen sozialer Sinnstiftung, die zu Klarheit, geistigem Selbstvertrauen und besseren kommunikativen Fähigkeiten führten. Entlang der Begrifflichkeit, die wir im vierten Kapitel im Zusammenhang mit dem ethischen Relativismus eingeführt haben, können wir sagen, dass Frauen kollektiv in die Lage versetzt wurden, die bestehenden routinemäßigen gesellschaftlichen Deutungsmuster zu überwinden und zu außergewöhnlichen Interpretationen einiger ihrer vormals verdeckten Erfahrungen zu gelangen. Gemeinsam gelang es ihnen, Ressourcen der Sinnstiftung zu erschließen, die in den gesellschaftlichen Interpretationspraktiken der damaligen Zeit bis dahin nur implizit vorhanden waren. Aus einer relativ bequemen hermeneutischen Position heraus vergisst man leicht, wie unglaublich und um- wälzend eine solche kognitive Leistung sein kann. Deshalb wollen wir uns zunächst vergegenwärtigen, was eine Frau über einen universitären Workshop zu weiblicher Gesundheit und Sexualität in den späten sechziger Jahren erzählte, so wie es Susan Brownmiller in ihrem Buch über die US-amerikanische Frauenrechtsbewegung wiedergibt:

Wendy Sanford, die in eine großbürgerliche republikanische Familie hineingeboren wurde, litt nach der Geburt ihres Sohnes unter Depressionen. Ihre Freundin Esther Rome, die dem jüdisch-orthodoxen Glauben anhing, schleppte sie zur zweiten MIT-Sitzung mit. Wendy hatte sich von politischen Gruppierungen ferngehalten. «Ich kam in den Saal», erzählt sie, «und es wurde über Selbstbefriedigung gesprochen. Ich habe kein Wort gesagt. Ich war schockiert, ich war fasziniert. Bei einer späteren Sitzung führte jemand vor, wie man stillt. Das hat mich nicht schockiert, doch dann haben wir uns in kleine Gruppen aufgeteilt. Ich hatte mich noch nie in meinem Leben «in eine kleine Gruppe aufgeteilt». In meiner Gruppe begannen die Frauen über postnatale Depression zu sprechen. In jenen fünfundvierzig Minuten wurde mir klar, dass das, wofür ich mir selbst die Schuld gab und was mein Mann mir vorwarf, nicht mein persönliches Versagen war. Es war eine Kombination aus physiologischen Faktoren und einer realen gesellschaftlichen Angelegenheit, der Vereinsamung. Diese Erkenntnis zählte zu jenen Augenblicken, die einen für immer zur Feministin machen.[2]

Dies ist die Geschichte einer Offenbarung im Hinblick auf weibliche Depression, die bis dahin von der Betroffenen nicht richtig verstanden wurde, weil sie kollektiv nicht richtig verstanden wurde. Zweifellos gibt es diverse historisch-kulturelle Faktoren, die zur Erklärung dieses spezifischen Unverständnisses beitragen könnten – so wurde allgemein nicht offen darüber gesprochen, dass Depressionen oft vorkommen –, aber insofern bei diesen Gründen auch soziale Ungerechtigkeit eine Rolle spielt, wie etwa eine strukturelle Machtdifferenz zwischen Männern und Frauen, scheint Wendy Sanfords Wahrheitsmoment nicht nur ein hermeneutischer Durchbruch für sie und die anderen Frauen gewesen zu sein, sondern auch ein Moment, in dem eine gewisse epistemische Ungerechtigkeit überwunden wurde. Die leitende Intuition ist folgende: Während jene Frauen nach einem angemessenen Verständnis dessen suchten, was wir heute ganz selbstverständlich als postnatale Depression bezeichnen, lichtete sich für Wendy Sanford plötzlich die hermeneutische Dunkelheit, die sie zu Unrecht daran gehindert hatte, einen wichtigen Bereich ihrer sozialen Erfahrung zu verstehen, wodurch es ihr nicht möglich gewesen war, einen wichtigen Teil ihrer selbst zu verstehen. Wenn es uns gelingt, diese Intuition zu untermauern, werden wir sehen, dass die hermeneutische Finsternis, in der Wendy bis zu diesen lebensverändernden fünfundvierzig Minuten gelebt hatte, ein Unrecht war, das ihr in ihrer Eigenschaft als Wissende angetan wurde, und somit eine spezifische Art von epistemischem Unrecht darstellt: eine hermeneutische Ungerechtigkeit.

Lassen Sie uns dieser Intuition weiter nachgehen. Um die Konturen einer solchen Ungerechtigkeit genauer zu erfassen, wollen wir uns einem weiteren Beispiel aus Brownmillers Erinnerungen zuwenden, in dem es um die Erfahrung dessen geht, was wir heutzutage als sexuelle Belästigung [sexual harassment] bezeichnen:

Eines Nachmittags wandte sich eine ehemalige Universitätsmitarbeiterin hilfesuchend an Lin Farley. Carmita Wood, vierundvierzig Jahre alt, geboren und aufgewachsen in der Apfelplantagenregion des Cayuga Lake, New York, und alleinige Ernährerin von zweien ihrer Kinder, hatte acht Jahre lang in der Abteilung für Kernphysik an der Cornell University gearbeitet; im Zuge dessen war sie von einer Laborassistentin zur Bürokraft aufgestiegen, die sich um administrative Aufgaben kümmerte. Wood wusste nicht, warum sie ausgewählt worden war, oder ob sie überhaupt ausgewählt worden war, aber ein renommierter Professor schien einfach nicht die Finger von ihr lassen zu können. Wood zufolge wiegte sich der angesehene Mann in den Leisten, wenn er neben ihrem Schreibtisch stand und seine Post durchsah, oder er streifte absichtlich ihre Brüste, wenn er nach irgendwelchen Papieren griff. Eines Abends, als die Labormitarbeiter von der Weihnachtsfeier nach Hause gingen, drängte er sie im Aufzug in die Ecke und küsste sie gegen ihren Willen mehrfach auf den Mund. Nach diesem Vorfall benutzte Camilla nur noch die Treppen des Laborgebäudes, um eine wiederholte Begegnung zu vermeiden. Doch der Stress, den die heimlichen Belästigungen verursachten, und ihre Versuche, den Wissenschaftler auf Distanz zu halten, während sie sich zugleich um einen freundschaftlichen Kontakt zu seiner Frau bemühte, die sie mochte, lösten bei ihr zahlreiche gesundheitliche Beschwerden aus. Wood bekam chronische Rücken- und Nackenschmerzen. Ihr rechter Daumen kribbelte und wurde taub. Sie bat um die Versetzung in eine andere Abteilung, und als diese nicht bewilligt wurde, kündigte sie. Sie fuhr nach Florida, um sich auszuruhen und zu Kräften zu kommen. Nach ihrer Rückkehr beantragte sie Arbeitslosengeld. Als der zuständige Sachbearbeiter sie fragte, warum sie ihren Job nach acht Jahren aufgegeben hatte, wusste Wood nicht, wie sie die abscheulichen Vorfälle beschreiben sollte. Sie schämte sich und es war ihr peinlich. Unter dem Druck wiederholter Nachfragen – das Formular musste ausgefüllt werden – sagte sie, ihre Gründe seien persönlicher Natur gewesen. Ihr Antrag auf Arbeitslosenunterstützung wurde abgelehnt.

«Die Studentinnen von Lin hatten in ihrem Seminar von unerwünschten sexuellen Annäherungsversuchen berichtet, die sie bei ihren Sommerjobs erlebt hatten», so Sauvigne. «Und dann kam Carmita Wood herein und erzählte Lin ihre Geschichte. Uns wurde klar, dass jede von uns – die Mitarbeiterinnen, Carmita, die Studentinnen – irgendwann eine solche Erfahrung gemacht hatte, verstehen Sie? Und keine von uns hatte je jemand anderem davon erzählt. Es war einer dieser Aha-Momente, eine echte Offenbarung.»

Die Frauen hatten ihr Thema gefunden. Meyer machte zwei feministische Anwältinnen in Syracuse ausfindig, Susan Horn und Maurie Heins, die sich um Carmita Woods Einspruch gegen die verwehrte Arbeitslosenunterstützung kümmerten. «Und dann», berichtet Sauvigne, «beschlossen wir, dass wir eine öffentliche Kundgebung abhalten mussten, um das Schweigen über diese Sache zu brechen.»

Die «Sache», über die sie das Schweigen brechen wollten, hatte keinen Namen. «Acht von uns saßen in einem Büro der Personalabteilung», erinnert sich Sauvigne, «und überlegten, was wir auf die Plakate für unsere Kundgebung schreiben sollten. Wir bezeichneten sie als ‹sexuelle Einschüchterung›, ‹sexuelle Nötigung› oder ‹sexuelle Ausbeutung am Arbeitsplatz›. Aber keine dieser Bezeichnungen schien zu passen. Wir suchten nach etwas, das eine Vielzahl an subtilen und weniger subtilen gängigen Verhaltensweisen abdeckte. Jemand schlug ‹Belästigung› vor. Sexuelle Belästigung! Wir waren uns sofort einig. Genau das war es.»[3]

Diese Geschichte zeigt, dass in den vorhandenen kollektiven hermeneutischen Ressourcen mitunter dort eine Leerstelle klafft, wo eigentlich die Bezeichnung einer bestimmten sozialen Erfahrung stehen sollte. Anhand dieser Schilderung wird deutlich, dass Frauen wie Carmita Wood aufgrund einer Lücke in den kollektiven hermeneutischen Ressourcen (unter anderem) einen akuten kognitiven Nachteil erleiden. Aber diese Beschreibung trifft es noch nicht ganz, denn wenn das epistemische Unrecht, das Carmita Wood zugefügt wurde, bloß eine Frage kognitiver Benachteiligung wäre, dann ist nicht klar, warum nur sie epistemisches Unrecht erleidet und nicht auch ihr Peiniger. Denn das mangelnde Verständnis für die Erfahrungen von Frauen, die sexuell belästigt wurden, war ein kollektiver Nachteil, der mehr oder weniger alle betraf. Bevor sexuelle Belästigung als solche kollektiv wahrgenommen wurde, war, so ist anzunehmen, das Unverständnis darüber, was Männer Frauen an- taten, wenn sie sie so behandelten, ziemlich verbreitet. Verschiedene Gruppen werden aus den unterschiedlichsten Gründen hermeneutisch benachteiligt, weil die stets im Wandel begriffene soziale Welt fortlaufend neue Erfahrungen hervorbringt, die wir möglicherweise erst nach und nach verstehen. Aber nur einige dieser kognitiven Benachteiligungen erscheinen uns als ungerecht. Damit etwas ungerecht ist, muss es nicht nur Schaden anrichten, sondern auch nicht richtig sein – sei es, dass es jemanden diskriminiert, sei es, dass es aus anderen Gründen unfair erscheint. Im vorliegenden Beispiel sind sowohl der Belästiger als auch die Belästigte durch die hermeneutische Lücke kognitiv beeinträchtigt – denn keiner von beiden begreift auf angemessene Weise, wie der Mann die Frau behandelt. Doch die kognitive Beeinträchtigung stellt für den Belästiger keinen erheblichen Nachteil dar. Vielmehr dient sie ganz offensichtlich seinen Interessen. (Zumindest dient sie seinem unmittelbaren Interesse, da sein Verhalten nicht beanstandet wird. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass – wenn er im Grunde ein anständiger Mensch ist, sodass ein besseres Verständnis dafür, wie schwerwiegend sein Fehlverhalten ist, dazu geführt hätte, dass er sich zurückhält – die hermeneutische Leerstelle für ihn zu einer Quelle epistemischen und moralischen Unglücks wird.) Im Gegensatz dazu hat die kognitive Beeinträchtigung für die Belästigte schwerwiegende Nachteile. Aufgrund der kognitiven Beeinträchtigung kann sie einen bedeutenden Teil ihrer eigenen Erfahrung nicht verstehen: einen Bereich der Erfahrung, den zu verstehen für sie sehr wichtig ist, denn ohne dieses Verständnis ist sie verstört, verwirrt und isoliert, ganz zu schweigen davon, dass sie möglicherweise weiterhin belästigt wird. Die hermeneutische Benachteiligung führt dazu, dass sie unfähig ist, sich einen Reim auf ihre fortwährende Belästigung zu machen, und das wiederum macht es ihr unmöglich, dagegen aufzubegehren, geschweige denn wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Die Tatsache, dass die hermeneutische Leerstelle für die belästigte Person zu einer dermaßen asymmetrischen Benachteiligung führt, verstärkt den Gedanken, dass ihre kognitive Benachteiligung ein Unrecht darstellt. Wir würden nicht sagen, dass ihr ein Unrecht widerfährt, wenn es nicht speziell für sie einen erheblichen Nachteil darstellen würde. Aber es gibt mehr von dem Unrecht zu sagen, dass sie erleidet. Wir müssen herausfinden, woher die Intuition rührt, dass ihr eine epistemische Ungerechtigkeit widerfährt. Schließlich kann man sich leicht andere schwerwiegende hermeneutische Benachteiligungen vorstellen, die keine epistemische Ungerechtigkeit darstellen. Wenn jemand beispielsweise eine Krankheit hat, die sich auf sein Sozialverhalten auswirkt – und zwar zu einer Zeit, da diese Krankheit noch weitgehend unbekannt ist und in der Regel nicht diagnostiziert wird –, erleidet er möglicherweise einen hermeneutischen Nachteil, der zwar alle betrifft, aber sich für ihn besonders nachteilig auswirkt. Er kann seine Erfahrungen nicht durch den Hinweis darauf, dass er an einer Störung leidet, verständlich machen, sodass er zum einen selbst nicht weiß, was los ist, zum anderen vielleicht ernsthaft unter negativen Folgen leidet, die daher rühren, dass die anderen mit seinem Zustand nichts anfangen können. Dennoch widerfährt ihm keine hermeneutische Ungerechtigkeit, sondern es handelt sich viel- mehr um einen schmerzlichen Fall von epistemischem Unglück.

Um den tieferen Grund für unsere Vermutung ausfindig zu machen, dass es in den Beispielen bei Brownmiller um epistemische Ungerechtigkeit geht, sollten wir unseren Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen richten, die zu der entsprechenden hermeneutischen Leer- stelle geführt haben. Die Situation der Frauen zur Zeit der zweiten Welle des Feminismus war immer noch eine Position ausgeprägter sozialer Ohnmacht gegenüber Männern. Die ungleichen Machtverhältnisse verhinderten insbesondere, dass Frauen mit Männern auf Augenhöhe an jenen Praktiken mitwirkten, durch die kollektive soziale Bedeutungen erzeugt werden. Am stärksten ausgeprägt sind solche Praktiken in Berufsfeldern wie Journalismus, Politik, Wissenschaft und Recht, und es ist kein Zufall, dass Brownmiller in ihrem Buch von so vielen bahnbrechen- den feministischen Aktionen im Umfeld dieser Berufsfelder und ihrer Institutionen berichtet. Die Machtlosigkeit der Frauen bedeutete, dass sie sozial nicht gleichberechtigt an hermeneutischen Prozessen teilhatten, und eine solche Art von Ungleichheit bildet die entscheidende Hintergrundbedingung für hermeneutische Ungerechtigkeit.

Hermeneutische Marginalisierung

Hermeneutische Ungleichheit lässt sich zwangsläufig schwer erkennen. Unsere Deutungsbemühungen sind naturgemäß interessegeleitet, da wir uns besonders stark bemühen, Dinge zu verstehen, die zu verstehen uns nützlich sind. Folglich zeigt sich die ungleiche hermeneutische Teilhabe einer Gruppe eher punktuell an hermeneutischen Hotspots – also an Orten des sozialen Lebens, wo die Mächtigen kein Interesse an einer korrekten Interpretation haben, ja, vielleicht sogar durchaus ein Interesse daran haben, die bestehende Fehldeutung aufrechtzuerhalten (zum Beispiel wenn wiederholte sexuelle Annäherungsversuche am Arbeitsplatz immer bloß als eine Form des «Flirtens» gelten und ihre beklommene Zurückweisung seitens der Adressatin nur ein Zeichen für ihren «mangelnden Humor» ist). Doch an einem solchen Brennpunkt bleibt die ungleiche hermeneutische Teilhabe durch die bisherige Bedeutung, die dem Verhalten zugeschrieben wird («Flirten»), bestens kaschiert und ist daher umso schwerer zu entdecken. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Momente ihrer Enthüllung für manche wie eine Erleuchtung sein können, die das Leben grundlegend verändern. Im Gegensatz zu dem Beispiel eines Menschen, der an einer Krankheit leidet, die die Medizin noch nicht diagnostizieren kann, war das, womit Frauen wie Carmita Wood am Arbeitsplatz zu kämpfen hatten, nicht bloß epistemisches Pech, denn es war kein Zufall, dass ihre Erfahrungen durch die Ritzen der Hermeneutik rutschten. Während sie sich allein abmühten, ihren diversen Erfahrungen des Belästigtwerdens einen angemessenen Sinn zu geben, zielte die gesamte soziale Bedeutungsmaschinerie darauf ab, diese verborgenen Erfahrungen unter Verschluss zu halten. Die ungleiche hermeneutische Teilhabe ist der tieferliegende Grund, warum die kognitive Beeinträchtigung von Carmita Wood eine Ungerechtigkeit darstellt.

Wenn es also in einem oder mehreren maßgeblichen Bereichen der sozialen Erfahrung eine ungleiche hermeneutische Beteiligung gibt, wer- den die Mitglieder der benachteiligten Gruppe hermeneutisch marginalisiert. Der Begriff der Marginalisierung stammt aus dem moralischen und politischen Diskurs und verweist auf Unterordnung und den Ausschluss aus einer Praxis, die für die Teilnehmerin von Wert wäre. Selbstverständlich gibt es mehr oder weniger hartnäckige und/oder schwerwiegende Fälle von hermeneutischer Marginalisierung. Obwohl der Begriff am besten auf jene Fälle passt, bei denen dem Betroffenen die umfängliche hermeneutische Partizipation an einem breiten Spektrum sozialer Erfahrungen anhaltend verweigert wird, können wir den Begriff auch bei weniger schwerwiegenden Fällen anwenden. Beispielsweise kommt es vor, dass jemand nur flüchtig hermeneutisch marginalisiert wird oder nur in Bezug auf einen sehr begrenzten Ausschnitt seiner sozialen Erfahrung. Aber hermeneutische Marginalisierung ist immer etwas, das jemandem gesellschaftlich aufgezwungen wird. Wenn Sie sich freiwillig aus der umfänglichen Teilnahme an hermeneutischen Praktiken ausklinken (vielleicht haben Sie von allem die Nase voll und beschließen, ein moderner Eremit zu werden), dann gelten Sie nicht als hermeneutisch marginalisiert – Sie haben sich ausgeklinkt, aber Sie hätten sich genauso gut beteiligen können. Hermeneutische Marginalisierung – egal ob sie strukturell auftritt oder ein Einzelfall bleibt – bedeutet immer eine Form von Ohnmacht. Natürlich haben Menschen mehr oder weniger komplexe soziale Identitäten, und so kann eine Person in einem Kontext marginalisiert sein, in dem es vor allem um einen Aspekt ihrer Identität geht («Frau»), während dies in anderen Zusammenhängen, in denen andere Aspekte ihrer Identität den Grad ihrer Teilhabe bestimmen («Mittelschicht»), nicht der Fall ist. Das bedeutet unterm Strich, dass eine hermeneutisch marginalisierte Person zwar in einigen Bereichen des sozialen Lebens an der Erzeugung von Bedeutung gehindert werden kann, doch in anderen Bereichen daran umfassend beteiligt ist. Wenn die Person einen gut bezahlten Job in einem großen Unternehmen hat, in dem eine machomäßige Arbeitsethik herrscht, ist sie vielleicht gar nicht in der Lage – auch nicht vor sich selbst –, Inhalte zu formulieren, die die Notwendigkeit familienfreundlicher Arbeitsbedingungen betreffen. (Solche Gefühle sind doch bloß ein Zeichen für mangelnde Professionalität, mangelnden Ehrgeiz und halbherziges Engagement im Job!) Und den- noch befindet sie sich möglicherweise in einer komfortablen hermeneutischen Position, was ihre Fähigkeit angeht, andere, weniger genderbezogene Bereiche ihres Arbeitslebens einzuordnen. Die Komplexität sozialer Identität bewirkt also, dass Menschen von hermeneutischer Marginalisierung auf unterschiedliche Weise betroffen sind. In anderen Worten: Sie können in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Identität betroffen sein, nicht aber in einer anderen.

Manchmal wird jemand aufgrund materieller Macht marginalisiert: Wegen seiner sozioökonomischen Herkunft liegen jene beruflichen Tätigkeiten, die eine volle hermeneutische Teilhabe ermöglichen, größtenteils außerhalb seiner Möglichkeiten. Manchmal ist die Marginalisierung eine Folge von Identitätsmacht: Der Grund, weshalb er keine solche Tätigkeit ausübt, besteht unter anderem darin, dass in der Gesellschaft Stereotype im Schwange sind, denen zufolge Menschen wie er als ungeeignet gelten – und die Entscheidungen von Arbeitgebern negativ beeinflussen. Am wahrscheinlichsten ist eine Mischung aus beiden Faktoren. Wenn Identitätsmacht im Spiel ist, wirkt sie mitunter rein strukturell, insofern es möglicherweise keinen sozialen Akteur gibt (individuell oder institutionell), den man für die Marginalisierung verantwortlich machen kann. Manchmal ist es aber durchaus sinnvoll, eine Partei verantwortlich zu machen, zum Beispiel wenn Arbeitgeber das altersdiskriminierende Stereotyp vom langsamen älteren Arbeitnehmer verbreiten, dem es an Ehrgeiz mangelt, um zu rechtfertigen, dass sie niemanden über 50 einstellen. In einem solchen Fall setzen Arbeitgeber Identitäts- macht gegen die ältere Bevölkerung in einer Weise ein, die (unter anderem) mit hermeneutischer Marginalisierung droht: Ältere werden von jenen Jobs ausgeschlossen, die eine umfassendere hermeneutische Teil- habe ermöglichen. Hermeneutische Marginalisierung muss nicht die Folge von Identitätsmacht und schierer materieller Macht sein – aber oft ist sie das.

Jetzt können wir jene Art von hermeneutischer Ungerechtigkeit definieren, die Frauen wie Carmita Wood erleiden: die Ungerechtigkeit, dass aufgrund von anhaltender, umfassender hermeneutischer Marginalisierung ein wichtiger Bereich der eigenen sozialen Erfahrung aus dem kollektiven Verständnis verdrängt wird.

Doch das klingt etwas umständlich, sodass es gut wäre, wenn wir noch etwas deutlicher machten, was an anhaltender, umfassender hermeneutischer Marginalisierung so schlimm ist. Aus epistemischer Sicht ist das Schlimme an dieser Art von hermeneutischer Marginalisierung, dass sie die kollektiven hermeneutischen Ressourcen strukturell mit Vorurteilen belastet, denn sie wird dazu tendieren, verzerrte und voreingenommene Deutungen der sozialen Erfahrungen der betroffenen Gruppe hervorzubringen: Weil diese Gruppe nicht genügend Einfluss auf jene Ressourcen hat, werden Gruppen mit mehr hermeneutischer Macht unverhältnismäßig viel Einfluss auf die Deutung haben. (So wird zum Beispiel sexuelle Belästigung als Flirten abgetan, Vergewaltigung in der Ehe gilt nicht als Vergewaltigung, postnatale Depression wird als Hysterie gedeutet, die Ablehnung von familienunfreundlichen Arbeitszeiten wird als Unprofessionalität ausgelegt, und so weiter.) Außerdem sind es in der Regel gesellschaftlich machtlose Gruppierungen, die von hermeneutischer Marginalisierung betroffen sind. Aus moralischer Sicht besteht somit das Problematische an dieser Art von hermeneutischer Marginalisierung darin, dass die von ihr verursachte strukturelle Voreingenommenheit in den kollektiven hermeneutischen Ressourcen im Kern diskriminierend ist: Das Vorurteil betrifft Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich machtlosen Gruppierung und aufgrund eines Aspekts ihrer sozialen Identität. Es ähnelt somit dem Identitätsvorurteil. Wir wollen es als strukturelles Identitätsvorurteil bezeichnen. Mithilfe dieses Begriffs können wir nun unserer Definition einen etwas anderen Akzent geben, sodass sie dem diskriminierenden Charakter von hermeneutischer Ungerechtigkeit besser gerecht wird:

Hermeneutische Ungerechtigkeit ist die Ungerechtigkeit, dass ein wichtiger Bereich der eigenen sozialen Erfahrung aufgrund eines in der kollektiven hermeneutischen Ressource herrschenden strukturellen Identitätsvorurteils dem kollektiven Verständnis entzogen wird.

Indem diese Definition den diskriminierenden Charakter hervorhebt, unterstreicht sie die Familienähnlichkeit mit der Zeugnisungerechtigkeit. Bei beiden Arten von epistemischer Ungerechtigkeit leiden Betroffene unter einem Vorurteil, das sich aufgrund ihrer sozialen Identität gegen sie richtet.

Unsere Definition ist aus der Bemühung erwachsen, jene Art von hermeneutischer Ungerechtigkeit zu identifizieren, die Carmita Wood erlitten hat, weshalb die Definition nicht allgemeingültig ist. Vielmehr erfasst sie insbesondere den zentralen oder systematischen Fall von hermeneutischer Ungerechtigkeit – den Fall, der aus der allgemeinen Sicht sozialer Gerechtigkeit am relevantesten ist. Was aber genau bedeutet «systematisch» im hermeneutischen Kontext? Bei der Zeugnisungerechtigkeit war eine Ungerechtigkeit nur dann systematisch, wenn das sie verursachende Identitätsvorurteil die Betroffenen durch verschiedene Bereiche gesellschaftlichen Handelns hindurch verfolgte, sodass sie neben der Zeugnisungerechtigkeit noch für andere Formen von Ungerechtigkeit anfällig wurden. Genau wie das Identitätsvorurteil die Betroffenen auf diese Weise verfolgen kann, gilt das auch für die Marginalisierung. Ja, in systematischen Fällen beinhaltet die hermeneutische Marginalisierung eine sozioökonomische Marginalisierung, weil sie mit einem Ausschluss von Berufen einhergeht, die eine maßgebliche hermeneutische Partizipation ermöglichen (Journalismus, Politik, Rechts- wesen, und so weiter). Wenn also von Marginalisierung verfolgte Personen jenseits von hermeneutischer Benachteiligung in diversen anderen sozialen Aktivitäten beeinträchtigt sind, dann haben die hermeneutischen Ungerechtigkeiten, die dadurch hervorgerufen werden, einen systematischen Charakter. Systematische hermeneutische Ungerechtigkeiten fallen daher in das allgemeine Anfälligkeitsmuster einer sozialen Gruppe für verschiedene Arten von Ungerechtigkeit. Wie Fälle von systematischer Zeugnisungerechtigkeit sind sie durch Unterdrückung gekennzeichnet. Beide Sorten von systematischer epistemischer Ungerechtigkeit haben ihren Ursprung in struktureller Machtungleichheit.

Bisher haben wir uns auf den zentralen Fall von hermeneutischer Ungerechtigkeit konzentriert. Doch es gibt auch Fälle von hermeneutischer Ungerechtigkeit, die nicht in das allgemeine Muster sozialer Macht fallen, sondern Einzelfälle darstellen. Sie sind nicht systematisch, sondern treten zufällig oder gelegentlich auf. Während systematische Fälle eher eine anhaltende, weitreichende hermeneutische Marginalisierung beinhalten, ist die hermeneutische Marginalisierung bei den zufälligen Vorkommnissen nur flüchtig oder betrifft nur einen sehr begrenzten Teil der Erfahrung der betroffenen Person. Gelegentliche hermeneutische Ungerechtigkeiten sind also nicht auf strukturelle Machtunterschiede zurück- zuführen, sondern eher auf vereinzelte Momente von Ohnmacht.

Wie könnte eine gelegentliche hermeneutische Ungerechtigkeit aussehen? In Ian McEwans Roman Liebeswahn wird die Hauptfigur Joe von einem jungen Mann namens Jed Parry gestalkt, einem religiösen Fanatiker, der die wahnhafte Vorstellung hat, er und Joe liebten einander. Als Joe seiner Lebensgefährtin Clarissa davon erzählt, erntet er zunächst liebevollen Spott, doch später – obwohl sie seinen Schilderungen im Wesentlichen glaubt – begegnet Clarissa seinem Gemütszustand eher mit besorgter Zurückhaltung. Schließlich ruft Joe bei der Polizei an, muss jedoch feststellen, dass die Art von Stalking, der er ausgesetzt ist, vom Gesetz nicht erfasst ist und als Bagatelle gilt:

«Sind Sie die belästigte Person?»

«Ja, ich bin …»

«Und ist die Person, die Ihr Ärgernis erregt, jetzt bei Ihnen?»

«Er steht genau in diesem Augenblick unten vor meinem Haus.»

«Hat er Ihnen eine Verletzung zugefügt?»

«Nein, aber er …»

«Hat er Ihnen damit gedroht?»

Ich begriff, dass meine Beschwerde in ein bereits vorhandenes bürokratisches System gepresst werden musste. Keine Einrichtung konnte sich auf eine subjektive Schilderung einlassen. Da mir die Erleichterung einer Strafanzeige versagt blieb, tröstete ich mich mit dem Versuch, meine Ge- schichte in eine handhabbare öffentliche Form zu kleiden. Parrys Benehmen musste zu einem Straftatbestand verallgemeinert werden.

«Hat er Drohungen gegen Ihr Eigentum ausgestoßen?»

«Nein.»

«Oder gegen Dritte?»

«Nein.»

«Versucht er, Sie zu erpressen?»

«Nein.»

«Glauben Sie, Sie können beweisen, dass er die Absicht hat, Ihnen etwas anzutun?»

«Eh, nein.»

Die Stimme glitt aus amtlicher Unbeteiligtheit in beinahe echte Neugier über. Ich glaubte, einen Yorkshire-Akzent ausmachen zu können. «Können Sie mir sagen, was er denn nun tut?»

«Er ruft mich zu jeder Tages- und Nachtzeit an. Er redet mit mir in …» Die Stimme fiel schnell wieder in ihre Standardfunktion zurück, das Flussdiagramm des Verhörs. «Verhält er sich obszön oder beleidigend?»

«Nein. Schauen Sie, warum lassen Sie es mich nicht erzählen. Er ist ein Spinner. Er will mich einfach nicht in Ruhe lassen.»

«Wissen Sie, worauf er es wirklich abgesehen hat?» […]

Ich sagte: «Er will mich erlösen.»

«Sie erlösen?»

«Sie wissen schon, mich bekehren. Er ist besessen. Er will mich einfach nicht in Ruhe lassen.»

Schließlich bemächtigte sich der Stimme doch noch Ungeduld, und er fiel mir ins Wort. «Es tut mir leid. Dies ist keine Angelegenheit für die Polizei. Solange er Ihnen oder Ihrem Eigentum keinen Schaden zufügt oder damit droht, begeht er keine strafbare Handlung. Der Versuch, Sie zu bekehren, ist kein Gesetzesverstoß.» Dann beendete er meinen Notruf mit einem leichten Verweis seinerseits. «Schließlich genießen wir hierzulande Religionsfreiheit.»[4]

Joes eigene Einschätzung seiner Stalking-Erfahrung wird durch die fehlende hermeneutische Anerkennung seiner Partnerin und der Polizei nur geringfügig beeinträchtigt. Dennoch hindert ihn eine kollektive hermeneutische Leerstelle daran, seine Erfahrung mitzuteilen und verständlich zu machen. Von Anfang an liegt ihm viel daran, seine Erfahrung mit bestimmten anderen Menschen zu teilen, doch das gelingt ihm nicht: Wie es wirklich für ihn ist, von Jed Parry gestalkt zu werden, wird durch zwei irreführende Deutungsmuster verdeckt, die seine Erfahrung auf unter- schiedliche Weise bagatellisieren: Der einen zufolge kann er anscheinend nicht mehr das Lustige an der ganzen Angelegenheit sehen und ist von ihr auf beunruhigende Weise besessen; laut einer anderen übertreibt er das Ausmaß der Bedrohung und will sogar die Religionsfreiheit eines anderen Menschen beschneiden. Doch selbst wenn die Undurchsichtigkeit von Joes Erfahrung eine hermeneutische Ungerechtigkeit darstellt, ist dies etwas vollkommen anderes als generelle soziale Ohnmacht oder strukturelle Nachrangigkeit als Formen sozialer Sinnstiftung, denn seine soziale Identität ist die des sprichwörtlichen weißen, gebildeten, hetero- sexuellen Mannes. Dennoch ringt er mit einem Einzelfall von hermeneutischer Marginalisierung. Die rivalisierenden Reaktionen von Clarissa und dem Polizisten, die beide seine Erfahrung bagatellisieren, zeigen, dass Joes hermeneutische Teilhabe an einem wichtigen, wenn auch sehr kleinen Teil seiner sozialen Erfahrung beeinträchtigt wird, weshalb sein Fall auch eine hermeneutische Ungerechtigkeit darstellt. Die Ungerechtigkeit ist aber nicht auf ein strukturelles Identitätsvorurteil zurückzuführen – im Gegenteil, er erleidet die Ungerechtigkeit nicht wegen, sondern vielmehr trotz des sozialen Typus, den er verkörpert. Offensichtlich handelt es sich bei Joes hermeneutischer Ungerechtigkeit nicht um einen systematischen Fall, sondern einen kontingenten.

Das Wissen um solche Fälle ermöglicht eine allgemeinere Definition von hermeneutischer Ungerechtigkeit als die bisher formulierten, die darauf abzielten, das zu beschreiben, was wir nun klarer als eindeutig systematischen Fall identifizieren können. Die neue, allgemeine Definition bestimmt hermeneutische Ungerechtigkeit per se als die Ungerechtigkeit, dass aufgrund hermeneutischer Marginalisierung ein wichtiger Bereich der eigenen sozialen Erfahrung dem Verständnis der Allgemeinheit entzogen wird.

Diese Definition lässt einfach das weg, was am systematischen Fall das Besondere ist: nämlich dass die hermeneutische Marginalisierung «anhaltend und umfassend» ist, oder anders formuliert, dass «in der kollektiven hermeneutischen Ressource ein strukturelles Vorurteil herrscht». Diese allgemeine Definition erfasst also sowohl den systematischen als auch den gelegentlichen Fall. Wie immer ist aus unserer Sicht der systematische Fall von zentraler Bedeutung. Aber der Umstand, dass eine hermeneutische Ungerechtigkeit kontingent auftritt, bedeutet nicht, dass sie nicht in ethischer Hinsicht gravierend erscheint – man denke an unsere Diskussion von systematischer und zufälliger Zeugnisungerechtigkeit. Tatsächlich erschüttert es Joe zutiefst, dass andere seine Erfahrung nicht von Anfang an besser verstehen. Dadurch kann Jed Parrys Stalking lebensbedrohliche Ausmaße annehmen und befördert letzten Endes das Scheitern von Joes und Clarissas langjähriger Beziehung. Fälle von gelegentlicher hermeneutischer Ungerechtigkeit können sich also auf das Leben eines Menschen verheerend auswirken. Was systematische Fälle unterscheidet, ist, wie schon gesagt, nicht die Schwere des einzelnen Unrechts, sondern etwas Allgemeineres: Sie tragen dazu bei, den Stellenwert von hermeneutischer Ungerechtigkeit im Gefüge der sozialen Ungerechtigkeiten zu verdeutlichen.

Es gibt also zwei Arten von hermeneutischer Ungerechtigkeit: systematische und gelegentliche. Wenn jemand wie Joe benachteiligt wird, weil seine Erfahrung aufgrund einer Leerstelle in der kollektiven hermeneutischen Ressource im Dunkeln bleibt, dann berechtigt uns das im Großen und Ganzen dazu, von gelegentlicher hermeneutischer Ungerechtigkeit zu sprechen, selbst wenn die hermeneutische Marginalisierung lokal auftritt und einmalig ist. Wenn hingegen jemand wie Carmita Wood dadurch benachteiligt wird, dass ihre Erfahrung aufgrund einer Leerstelle in den kollektiven hermeneutischen Ressourcen im Dunkeln bleibt, wobei die Leerstelle durch umfassende und anhaltende hermeneutische Marginalisierung verursacht und aufrechterhalten wird, dann handelt es sich um systematische hermeneutische Ungerechtigkeit. Denn in solchen Fällen ist die hermeneutische Marginalisierung Teil einer generelleren Anfälligkeit für verschiedene Arten von sozialer Marginalisierung, sodass jedes Vorkommnis von hermeneutischer Ungerechtigkeit ebenfalls Teil einer generelleren Anfälligkeit für verschiedene Arten von Ungerechtigkeit ist. Es gibt also eine gewisse strukturelle Parallele zu den Formen von Zeugnisungerechtigkeit. Anders als bei der Zeugnisungerechtigkeit gibt es jedoch bei hermeneutischer Ungerechtigkeit, egal ob sie gelegentlich oder systematisch vorkommt, keinen Schuldigen. Kein Akteur verübt hermeneutische Ungerechtigkeit – es handelt sich um einen rein strukturellen Begriff. Die Hintergrundbedingung für hermeneutische Ungerechtigkeit ist die hermeneutische Marginalisierung des Subjekts. Aber hermeneutische Ungerechtigkeit tritt erst dann auf, wenn die Hintergrundbedingung in einem mehr oder weniger zum Scheitern verurteilten Versuch des Subjekts zum Tragen kommt, eine Erfahrung verständlich zu machen – entweder für sich selbst oder gegenüber Gesprächspartner:innen. Die hermeneutische Ungleichheit, die in einer von hermeneutischer Marginalisierung gekennzeichneten Situation schlummert, bricht sich nur dann als Ungerechtigkeit Bahn, wenn ein konkreter Versuch durch jene behindert wird, eine Sache oder ein Vorkommnis sinnvoll zu deuten.

Die Tatsache, dass sich hermeneutische Ungerechtigkeit meistens darin äußert, dass eine Sprecherin bei einem Austausch von Bezeugungen darum kämpft, sich verständlich zu machen, lässt die düstere Vermutung aufkommen, dass hermeneutische Ungerechtigkeit durch Zeugnisungerechtigkeit oft noch verstärkt wird. Tatsächlich geschieht dies häufig dann, wenn die hermeneutische Ungerechtigkeit systematisch auftritt, weil die Angehörigen von mehrfach marginalisierten Gruppen tendenziell Identitätsvorurteilen ausgesetzt sind. Wenn sie versuchen, ihren Gesprächspartner:innen eine kaum verstandene Erfahrung zu schildern, wird ihrer Äußerung aufgrund ihrer geringen Verständlichkeit wenig Glaubwürdigkeit zugeschrieben. Wenn eine Sprecherin zusätzlich mit einem Identitätsvorurteil behaftet ist, sieht es noch übler aus. In einem solchen Fall wird der Sprecherin doppeltes Unrecht zugefügt: einmal durch das im geteilten hermeneutischen Hintergrund vorherrschende strukturelle Vorurteil und einmal durch den Hörer, der ein von Identitätsvorurteilen geprägtes Glaubwürdigkeitsurteil fällt.

Stellen Sie sich vor, eine Person in Carmita Woods Lage versucht, ihren Arbeitgeber über das Verhalten des Professors zu informieren. Die hermeneutische Lücke an derjenigen Stelle, an der die Wörter «sexuelle Belästigung» hätten stehen sollen, führt dazu, dass es bereits ein ernsthaftes Problem hinsichtlich der Plausibilität dessen gibt, was auch immer sie mit ihrer Schilderung artikulieren könnte (vielleicht gelingt es ihr zu sagen, dass sie sich durch sein beharrliches «Flirten» «unwohl» fühlt). Falls sie dann noch eventuellen Identitätsvorurteilen in Bezug auf Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder sozialer Klasse ausgesetzt ist, wird deutlich, dass sie ebenfalls anfällig für Zeugnisungerechtigkeit ist. Menschen in ihrer Position sind also anfällig für eine doppelte epistemische Ungerechtigkeit. Mehr noch: Was wir hier sehen, sind die idealen Bedingungen für einen ausufernden Glaubwürdigkeitsverlust. Denn die Unglaubwürdigkeit des Gesagten erzeugt eine Sichtweise, die die persönliche Glaubwürdigkeit der Sprecherin möglicherweise übermäßig infrage stellt, was wiederum zu einer Perspektive führt, die die Glaubwürdigkeit des Gesagten noch stärker entwertet und so weiter und so fort.[5] Brownmillers Darstellung lässt vermuten, dass Carmita Woods Versuch, den Charakter ihrer Erfahrung zu vermitteln, einem solchen ausufernden Glaubwürdigkeitsverlust ausgesetzt war. Es ist das schlimmste denkbare Szenario für Sprecher:innen, wenn es um epistemische Ungerechtigkeit geht.

Die Beobachtung, dass hermeneutische Ungerechtigkeit tendenziell bei kommunikativen Bemühungen in Erscheinung tritt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf eine etwas andere Variante der Ungerechtigkeit. Bisher haben wir hermeneutische Leerstellen nur als das Fehlen angemessener Interpretationen betrachtet, als Lücken, an deren Stelle eine Bezeichnung für eine Erfahrung stehen sollte, die verständlich zu machen im Interesse der Betroffenen liegt. Man muss jedoch berücksichtigen, dass eine hermeneutische Lücke nicht (oder nicht nur) den Inhalt, sondern auch die Form dessen betrifft, was gesagt werden kann. So kann die für eine soziale Gruppe spezifische Ausdrucksweise für ihre kommunikativen Bemühungen ein ebenso ungerechtes Hindernis darstellen wie eine mangelnde Deutung. Wenn etwa Frauen, wie Carol Gilligan bekanntlich argumentiert hat, in Bezug auf ethische Urteile eine «andere Stimme» haben (zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte), und zwar eine Stimme, die nicht als vernünftig anerkannt, sondern als moralisch unreif marginalisiert wird, dann sind die Bemühungen von Frauen, sich in moralischen Fragen verständlich zu machen, durch eine solche hermeneutische Lücke beeinträchtigt.[6] Und die Beeinträchtigung ihrer Ausdrucksbemühungen ist insofern ungerecht, als sie eine Folge der hermeneutischen Marginalisierung ist – das heißt, insofern sie sich aus der Tatsache ergibt, dass die Machtlosigkeit Frauen von der vollen Teilnahme an jenen Praktiken ausschließt, durch die soziale Bedeutungen hervorgebracht werden. Denn dies sind auch diejenigen Praktiken, durch die bestimmte Ausdrucksweisen als vernünftig und dem Anlass angemessen anerkannt werden. Denken wir daran, wie Herbert Greenleaf auf die Versuche von Marge Sherwood reagiert hat, ihm ihren Verdacht gegen Ripley verständlich zu machen: «Marge, es gibt weibliche Intuition, und es gibt Fakten.» Wenn man in einer Gesellschaft oder einem sozialen Umfeld lebt, wo bereits der Umstand, dass man auf intuitive oder emotionale Weise kommuniziert, dazu führt, dass die eigenen Äußerungen nicht als wirklich vernünftig gelten, ist man dadurch zu Unrecht von einer hermeneutischen Lücke betroffen – man ist einer hermeneutischen Ungerechtigkeit ausgesetzt.

  1. Nancy Hartsock, The Feminist Standpoint Revisited and Other Essays, Boulder, Colo.: Westview Press, 1998, S. 241.
  2. Susan Brownmiller, In Our Time: Memoir of a Revolution, New York: Dial Press, 1990, S. 182.
  3. Ebd., S. 280 f.
  4. Ian McEwan, Liebeswahn, Zürich: Diogenes, 1998, S. 107–109.
  5. Ich mache mir die Art und Weise zu eigen, wie Karen Jones das Phänomen des unkontrollierten Glaubwürdigkeitsschwunds erklärt; siehe «The Politics of Credibility», in: Louise M. Antony / Charlotte E. Witt (Hg.), A Mind of One’s Own: Feminist Essays on Reason and Objectivity, Boulder, Colorado: Westview Press, 2002.
  6. Carol Gilligan, Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau, München: Piper, 1988; siehe auch Sara Ruddick, Maternal Thinking: Towards a Politics of Peace, London: The Women’s Press, 1990.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Epistemologien Gesellschaft Macht Philosophie

Miranda Fricker

Miranda Fricker ist Professorin für Philosophie an der New York University, Co-Direktorin des New York Institute for Philosophy und Honorarprofessorin an der University of Sheffield. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit Moralphilosophie und sozialer Erkenntnistheorie, wobei ihr besonderes Interesse feministischen Perspektiven und dem Begriff der Tugend gilt.

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