Katharina Hoppe | Interview | 09.07.2025
„Abstrakte epistemologische Fragen haben handfeste politische Konsequenzen“
Welche ist Ihre Lieblingstheorie?
Wenn ich nicht weiterweiß, Inspiration und irgendwie auch epistemische Versicherung brauche, lese ich immer noch regelmäßig etwas aus den Dits et écrits von Michel Foucault, was ich noch nicht kenne. Aber irgendwie glaube ich nicht, dass das meine „Lieblingstheorie“ ist. Meine Lieblingstheorien sind all diejenigen, die wirklich meinen Blick auf die Welt verändert haben und das sind – ehrlich gesagt – viele (auch Foucault gehört zu ihnen). Aber Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu und Frantz Fanon haben hier ebenso eine Rolle gespielt wie Donna Haraway, Patricia Hill Collins, Evelyn Fox Keller, Dorothy Smith oder Anne Fausto-Sterling. Was der Leseerfahrung gemein war, ist die Infragestellung des Gewohnten. Die genannten Vertreter:innen der feministischen Wissenschaftskritik waren für mich vielleicht am folgenreichsten: Die Einsicht, dass wissenschaftliches Wissen, auch naturwissenschaftliches Wissen, so stark an die historischen Gegebenheiten mit all ihren Macht- und Herrschaftsverhältnissen – einschließlich der Geschlechterverhältnisse – gebunden ist, hat mich nachhaltig bewegt und tut es bis heute. Dies einerseits, weil es die Selbstreflexion der Disziplin und der eigenen Wissensproduktion betrifft, andererseits aber auch – und vielleicht noch stärker –, weil so viele politische Konsequenzen an die scheinbar abstrakten epistemologischen Fragen gebunden sind: Fragen nach epistemischer Autorität, nach dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft, nach Instrumentalisierungen von Wissen, nach Wissenschaftsfreiheit und Demokratie. Diese Fragen sind alle auch gesellschaftstheoretisch höchst relevant – dieses Zusammenspiel von Erkenntnistheorie und Gesellschaftstheorie, das ja etwa auch für die Frankfurter Tradition Kritischer Theorie zentral ist, fasziniert mich sehr.
Welche Theorie kann man am ehesten mit einem Meme erklären? Welches Meme wäre das?
Ich habe ja eine ernsthafte Schwäche für Memes und denke, es lassen sich sehr viele Theorien mit ihnen erklären – jedenfalls setze ich sie oft in der Lehre ein. Eines meiner liebsten Memes ist dieses hier, mit der Support-Hotline: Es bietet einen fantastischen Einstieg in die Diskussion poststrukturalistischer Autor:innen, weil es genau jene Irritationen aufgreift, die erste Begegnungen mit diesen Theorien auslösen können.
Von welcher Gesellschaftstheorie kann man am meisten für das Leben lernen?
Ohne Zweifel von feministisch-materialistischen Positionen: Die Schriften Alexandra Kollontais führen sämtliche Ambivalenzen heterosexueller Beziehungen vor Augen; Silvia Federicis Perspektive auf „Lohn für Hausarbeit“ verdeutlicht nicht nur die Ausbeutungsdynamiken der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, sondern eben auch, warum es falsch ist, so zu tun, als könne man sich als weiblich sozialisierte Person der Hausfrauenrolle entziehen und warum gerade die Affirmation dieser Rolle revolutionäres Potenzial birgt; Donna Haraway macht klar, warum diese Hausfrauen als Cyborgs (in heterogenen Allianzen auch mit Technologien und Nicht-Menschlichem) noch größere Kraft entfalten könnten; Michelle Murphy zeigt uns, dass Reproduktion (immer schon potenziell) den Kapitalismus übersteigt; Bini Adamczak schlägt Wege vor, eben das Reproduktive strategisch aufzuwerten und neue Beziehungsweisen zu erfinden. In dieser Traditionslinie ist also allerhand Handfestes zu holen.
Wer hat das schönste Theoriedesign?
Ich finde ja Norbert Elias sehr elegant, weil so unterschiedliche Paradigmen kombiniert werden. Völlig verzaubern (oder verstrahlen) tut einen natürlich die Luhmann‘sche Systemtheorie. Wahrscheinlich ist sie auch elegant und entfaltet ja auch einen Sog, was man etwa daran bemerkt, dass sich das Vokabular plötzlich in den eigenen Alltag einschleicht, wenn man mal zu viel auf einmal davon konsumiert hat. Ob dies ein Theoriedesign im engeren Sinne ist, weiß ich gar nicht, aber Simone de Beauvoir, Sigmund Freud und Georg Simmel faszinieren durch ihre mitreißende Sprache. Die Performativität der Theorie ist für mich allerdings in Fanons Schwarze Haut, weiße Masken am meisten eingelöst: Das zu tun, was man schreibt; im Schreiben zu unterlaufen, was man kritisiert – das ist schon überaus beeindruckend.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten nicht die Theorie der sozialen Welt, sondern die Welt der Theorie anpassen. Für welche würden Sie sich entscheiden?
Ich würde mich wohl für jene Welt entscheiden, die materialistische Care-Theoretiker:innen und Ökofeminist:innen vorschlagen, wobei ich aber entschieden gegen die romantisierte Vorstellung einer „Rückkehr zur Natur“ im Sinne früher Ökofeminismen bin. Eher stelle ich mir eine ökosozialistische Gesellschaft vor, die radikal demokratisch bestimmt, welche Technologien, welche Produkte, welche Wohnformen sie fördern will. Etwas weniger utopisch, wäre ich aber auch schon – vorerst – zufrieden, wenn ernsthafte Umverteilungsmaßnahmen etwa im Sinne Nancy Frasers erwogen und umgesetzt würden.
Welches Konzept / welchen Begriff haben Sie bis heute nicht verstanden?
Den Begriff der Totalität.
Mit welcher Theorie würden Sie versuchen, ein Date zu beeindrucken?
Mit einer Theorie über Totalität.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
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