Heike Kahlert | Rezension | 02.09.2025
Im Licht der Moderne
Rezension zu „Im Schatten der Tradition. Eine Geschichte des IfS aus feministischer Perspektive“ von Christina Engelmann, Lena Reichardt, Bea S. Ricke, Sarah Speck und Stephan Voswinkel (Hg.)

Eine inklusivere Geschichte des Instituts für Sozialforschung
Wenn es um die Personen, das Theorieprogramm und die empirischen Studien geht, für die das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) seit seiner Gründung im Jahr 1923 in der interdisziplinären und internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft bekannt ist, denkt zuerst wohl kaum jemand an Margarete Lissauer, Hilde Weiss, Clara Zetkin, Käthe Leichter, Else Frenkel-Brunswik, Elisabeth Lenk, Gretel Adorno, Christel Eckart, Ursula Jaerisch, Helgard Kramer oder Karin Flaake, um nur einige Namen zu nennen. Denn die inzwischen gut hundertjährige Geschichte des IfS wird bislang gemeinhin als eine Geschichte nur von Männern erzählt. Dass es sich dabei aber auch um die Geschichte einer „strukturelle[n] Exklusion nicht-männlicher Wissenschaftler:innen“ (S. 8–9) handelt, so Sarah Speck, Initiatorin und Mitherausgeberin des hier besprochenen Sammelbandes, bleibt zumeist im Dunkeln.
Die „[i]m Schatten der Tradition“ oder gar ganz in der bisherigen, androzentrischen Geschichtsschreibung des IfS verborgen gebliebenen wissenschaftlichen Leistungen von Frauen und Wissensbestände zu den gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen zu erhellen, ist das Ziel dieses Buches. Bezeichnend ist, dass es eine feministische Wissenschaftlerin war, nämlich Sarah Speck, die als Mitglied des Kollegiums und stellvertretende Direktorin des IfS[1] ihren Kolleg:innen vorschlug, zum 100-jährigen Bestehen des Instituts auch eine feministische Geschichte desselben zu schreiben. Anders als einige Protagonistinnen, von denen manche Beiträge des vorliegenden Buches handeln, stieß Speck mit ihrem Vorschlag auf offene Ohren: Ihre Projektidee sei im Kollegium „begeistert aufgenommen“[2] worden. Unter ihrer Leitung wurde das Vorhaben von einer Gruppe aus Mitarbeitenden des Instituts sowie von Bea S. Ricke, für die eine institutsfinanzierte Mitarbeiterinnenstelle geschaffen wurde, umgesetzt; sie alle fungieren gemeinsam als Herausgeber:innen des hier zu besprechenden Bandes.
Die den Beiträgen zugrunde liegende These, die Stephan Voswinkel und Sarah Speck in ihrem Essay zur „Ausblendung un/sichtbarer Arbeit“ ausformulieren, fasst Speck in der Einleitung wie folgt zusammen:
„Die gängigen Geschichten über das IfS sind nicht allein exkludierend – sie errichte(te)n und stabilisier(t)en überhaupt erst die Imago einiger weniger genialischer Personen. Nicht nur andere Beteiligte, auch die Voraussetzungen ebenso wie der kooperative Prozess des akademischen Arbeitens werden ausgeblendet, um auf einzelne scharfzustellen. Diese im Ergebnis androzentrische Operation gelingt deshalb relativ mühelos, weil die forschende und intellektuelle Arbeit von Frauen, gerade weil sie Frauen sind, abgewertet wird, und weil eine Reihe von Arbeiten, die für die Aufrechterhaltung und Sichtbarwerdung der Forschung notwendig sind, strukturell unsichtbar bleiben.“ (S. 18)
Neben der Einleitung und dem bereits zitierten rahmenden Essay besteht der Sammelband aus weiteren zehn Beiträgen, einschließlich einem verschriftlichten Gespräch des IfS-Arbeitskreises Gender, Kinship, Sexuality, die in chronologischer Reihenfolge gedruckt sind. Neben Aufsätzen der Herausgeber:innen enthält das Buch auch Texte von institutsexternen Wissenschaftlerinnen aus dem In- und Ausland.
Dimensionen einer feministischen Historiografie wissenschaftlicher Organisationen
Ziel der feministischen Geschichtsschreibung des IfS ist es erstens, so Speck in der Einleitung, „unsichtbar Gemachte[…]“ (S. 12) sichtbar zu machen, also jene Personen und deren Forschungsarbeiten zu beleuchten, die in den tradierten androzentrischen Narrativen nicht vorkommen. Es geht der feministischen Historiografie weiter darum, „andere Sichtbarkeiten herzustellen“ (S. 9), ohne „herrschende Modi der Sichtbarmachung“ (ebd.) beizubehalten. Insofern kann dieses Projekt nicht dabei stehenbleiben, „die Leistungen Einzelner besonders heraus- und sie als brillante Forscher:innenpersönlichkeiten darzustellen“ (ebd.), denn damit werde die Logik einer singulären Zurechnung intellektueller Arbeit ebenso reproduziert wie die der Verdeckung bestimmter Tätigkeiten im wissenschaftlichen Kontext.
Folglich muss die feministische Historiografie zweitens auch „die Bedingungen von Sichtbarkeit freilegen und kritisieren“ (S. 9), nämlich die Aufrechterhaltung der vermeintlichen Singularität des Genies, die Modi der Arbeitsteilung komplexer Tätigkeiten und die damit verbundene patriarchale Hierarchisierung im Kontext der Institutsarbeit. Um den zumeist kollektiven und/oder kollaborativen Prozess der akademischen Wissensproduktion sichtbar zu machen, gilt es, die Einflüsse anderer, bisher weitgehend „unsichtbar Gemachter“ (S. 12), auf die Werke der (bekannt gewordenen) Protagonisten des IfS herauszuarbeiten. Dazu sind andere Quellen als die üblichen notwendig, beispielsweise autobiografische Dokumente, Briefe, Anekdoten, Klatsch und Tratsch sowie Biografien, die in ihren historischen, personellen und institutionellen Konstellationen zu betrachten sind.
Drittens geht es der feministischen Geschichtsschreibung zum einen um die Rekonstruktion von Wissensbeständen innerhalb der Institutsarbeit und in dessen Umfeld, die die gesellschaftlichen Geschlechterbeziehungen behandeln und insofern eigentlich „Elemente einer Kritischen Theorie der Geschlechterverhältnisse“ (S. 10) darstellen, in ihrer „androzentrischen Rezeption“ (S. 11) bislang aber verdeckt geblieben sind. Zum anderen geht es der feministischen Historiografie des IfS auch um die Beleuchtung von Erkenntnissen feministischer Theorie und Empirie, die zwar am Institut und/oder in dessen Umfeld entstanden sind, jedoch nicht in dessen programmatische Arbeit „aufgenommen“ oder „sogar bewusst ignoriert“ (S. 12) wurden.
Diese drei Dimensionen feministischer Geschichtsschreibung stellen nicht nur den methodologischen Rahmen für die Beiträge des Sammelbandes dar, sondern können und sollten auch andere feministisch-historiografische Forschungen zur (Un‑)Sichtbarkeit respektive (Un‑)Sichtbarmachung von Frauen und anderen Anderen sowie von feministischen und geschlechterwissenschaftlichen Erkenntnissen in wissenschaftlichen Organisationen anleiten.
Sichtbarmachung unsichtbar gemachter Personen und Wissensbestände
Judy Slivi stellt in ihrem Beitrag einige Frauen aus der Frühgeschichte des IfS näher vor, darunter Margarete Lissauer und Hilde Weiss. Slivi verdeutlicht, dass die genannten Frauen untergeordnet für wissenschaftliche Arbeiten angestellt waren und/oder sich am Institut beziehungsweise in dessen Umfeld wissenschaftlich weiterqualifizierten, aber trotz ihrer Qualifikationen für ihre Ideen außerhalb des Instituts, etwa in der Arbeiter:innenbewegung, weit mehr Gehör fanden als innerhalb. Christina Engelmann rekonstruiert am Beispiel ausgewählter Schriften von Clara Zetkin, die mit dem Institutsgründer Felix Weil eng befreundet war und ihn politisch stark prägte, deren intellektuelle Verbindungslinien zur Arbeiter- und proletarischen Frauenbewegung. Zetkins Überlegungen zur Reproduktionsarbeit fanden jedoch nahezu keinen Eingang in die empirischen Studien und Theoriearbeiten am IfS. Auch die materialistisch-feministischen Wissensbestände der Wiener Sozialwissenschaftlerin und Politikerin Käthe Leichter, die eine intellektuelle und freundschaftliche Beziehung zu Carl Grünberg, dem ersten Institutsdirektor, unterhielt und an den Studien über Autorität und Familie mitarbeitete, wurden in der Theoriearbeit am IfS nicht berücksichtigt, wie Veronika Duma darlegt.
Demgegenüber zeigt Barbara Umrath in ihrem Beitrag, dass am IfS sehr wohl schon in den frühen 1930er-Jahren eine kritische Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen stattfand. In diesem Bereich engagierten sich gerade am Rande des Instituts tätige Männer wie Ernst Schachtel und Andries Sternheim, deren diesbezügliche Arbeiten zu den Studien über Autorität und Familie jedoch nur „in Form von stark gekürzten Zusammenfassungen“ (S. 103) abgedruckt und als im Archiv erhaltene Manuskripte kaum rezipiert wurden.
Werdegang und Werk der österreichischen Sozialpsychologin Else Frenkel-Brunswik, die im US-amerikanischen Exil des IfS an Vorarbeiten der Studien zum autoritären Charakter mitwirkte, stehen im Mittelpunkt von Karin Stögners Aufsatz. Die Autorin arbeitet dabei besonders Frenkel-Brunswiks geschlechtertheoretisch relevante Erkenntnisse zum autoritären Zwang binärer Geschlechterkonstruktionen heraus, die zwar in den entsprechenden Schriften von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer aufgegriffen, in deren Rezeption jedoch ausgeblendet wurden, und betont die Aktualität ihres Theorems für gegenwärtige Auseinandersetzungen mit Autoritarismus. Als eine der von Adorno am meisten geschätzten Studierenden und Promovierenden gilt die spätere Professorin für Literatursoziologie an der Universität Hannover Elisabeth Lenk. Deren intellektuellen Einfluss auf Adornos Auseinandersetzung mit den künstlerischen Avantgarden in seinem unvollendet gebliebenen Buch Ästhetische Theorie untersucht Bruna Della Torres Beitrag.
Das IfS als ein Ausgangspunkt für institutionalisierte feministische Forschung
Der androzentrischen Rezeption und Tradierung der am IfS durchgeführten empirischen Forschungen ist auch geschuldet, dass bisher kaum bekannt ist, dass in den 1970er- und 1980er-Jahren am Institut die ersten großen und öffentlich finanzierten feministischen Forschungsprojekte zu (Frauen-)Arbeit entstanden. Mitarbeiterinnen des Instituts leisteten damit wesentliche Beiträge zur akademischen Begründung und Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung als eigenes Forschungsfeld in Deutschland.
Bea S. Ricke zeigt in ihrem Aufsatz, dass Christel Eckart, Ursula Jaerisch und Helgard Kramer mit dem von ihnen konzipierten und von 1974 bis 1979 bearbeiteten DFG-geförderten Forschungsprojekt Frauenarbeit in Familie und Fabrik zwar am IfS die feministische Frauen- und Geschlechterforschung vergleichsweise früh als expliziten Forschungsbereich etablierten; weitere Studien zu weiblichen Berufsfeldern schlossen daran an, etwa die Arbeiten von Ilka Riemann, Karin Walser und Karin Flaake. In der Historiografie des Instituts spielen diese Frauenarbeitsstudien sowie deren Bearbeiterinnen bislang aber keine Rolle. Sie treten auch darüber hinaus nicht „als selbstverständliche Referenz in Darstellungen der Entwicklung der bundesdeutschen Frauen- und Geschlechterforschung“ (S. 154) in Erscheinung – obwohl etwa das erstgenannte Projekt mit der Einrichtung des 1974 von der DFG gestarteten Schwerpunktprogramms Integration der Frau in die Berufswelt eng verbunden war und mehrere der dort tätigen Projektbearbeiterinnen „später zur ersten Generation der feministischen Forscherinnen auf Frauenforschungsprofessuren“ (S. 169) gehörten.
Während Ricke in ihrem Beitrag nur kurz auf die Verbindung der Frauenarbeitsstudien mit Themen und Diskussionszusammenhängen der zweiten Frauenbewegung, zu deren Zentren ab Ende der 1960er-Jahre Frankfurt am Main und (West-)Berlin zählten, verweist, fokussiert Lena Reichardt dieses Verhältnis in ihrem Aufsatz. Sie verdeutlicht die Nähe der feministischen Arbeitsforschung, die ab den 1970er-Jahren am IfS und in dessen Umfeld betrieben wurde, zu politischen Fragen der Gegenwart, zu denen sie die feministische Kapitalismusanalyse mit der Reflexion und Kritik der gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnisse, der Bedeutung der Hausarbeit und der „Neubestimmung der Kategorie Arbeit“ (S. 184) zählt.
Stephan Voswinkel analysiert schließlich das Verhältnis der am IfS in den 1970er- und 1980er-Jahren durchgeführten Frauenarbeitsforschung zur seinerzeit am Institut dominierenden männlich geprägten Industriesoziologie. Dabei verdeutlicht er, dass die Untersuchungen der Frauenforscherinnen am Institut nur als ergänzend, nicht aber als zwingend relevant für eine Revision der vorherrschenden industriesoziologischen Grundannahmen wahrgenommen wurden, obwohl sich diese feministischen Beiträge später auch über das IfS hinaus als maßgeblich für die arbeitssoziologischen Debatten zur Subjektivierung der Arbeit erwiesen haben.
Das den Sammelband beendende Gespräch des Arbeitskreises Gender, Kinship, Sexuality am IfS gibt schließlich einen Einblick in gegenwärtige geschlechtertheoretische und feministische Sichtweisen am Institut. Die Quintessenz der darin erfolgenden Verhandlung des Verhältnisses von Kritischer und feministischer Theorie ist ein Plädoyer für einen produktiven Dialog der verschiedenen Perspektiven.
Mehr Licht auf den Schatten der Tradition
Die versammelten Beiträge vereint das Ziel, unsichtbar gemachte Personen und Wissensbestände des IfS, die bislang in dessen Tradierung im Schatten oder gar verborgen geblieben sind, aus feministischen Perspektiven sichtbar zu machen, und so eine andere Geschichte des Instituts zu schreiben. Dabei besteht das Vorhaben darin, „anlässlich des 100-jährigen Jubiläums nah an der Institutsgeschichte zu bleiben und abschließend einen Einblick in gegenwärtige feministische und geschlechtertheoretische Diskussionen am IfS zu geben“ (S. 12), so Speck. Es geht ausdrücklich nicht darum, eine Geschichte zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Feminismus oder aber zu feministischen Rezeptionen und Re-Visionen der Kritischen Theorie zu schreiben.
Das Projekt ist rundum gelungen. Das kleine, fast schon unscheinbar daherkommende Buch mit vergleichsweise großer Schrift hat es in sich, denn die durchweg interessanten wie gut lesbaren Texte liefern einen Fundus an bisher unbekannten Informationen. Sie geben weiterführende Denkanstöße, eröffnen zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschungen, warten teils sogar mit überraschenden Erkenntnissen auf, etwa hinsichtlich verschiedener Hinweise auf androzentrische Rezeptionen der im Original gegenüber feministischen Erkenntnissen offeneren Schriften. Die Impulse zum Weiterdenken und ‑forschen sind vielfältig. Gewinnbringend wäre etwa die Weiterentwicklung einer feministischen Historiografie zur Sichtbarmachung des unsichtbar Gemachten einschließlich der damit verbundenen Gefahr einer Reproduktion androzentrischer Sichtweisen (auch jenseits des IfS). Die im Buch präsentierten Forschungsergebnisse geben zahlreiche Hinweise auf weitere Frauen und andere nicht berücksichtigte Personen in der Geschichte des IfS selbst, einschließlich der Werdegänge der aus diesem hervorgegangenen Wissenschaftler:innen, die unter den Maßgaben einer feministischen Historiografie sichtbar zu machen sich gewiss ebenfalls lohnen würde. Und auch die Rezeption von weiteren, bisher in den Archiven des IfS verborgenen Beiträgen von Institutsmitgliedern zu feministischen und geschlechtertheoretischen Fragestellungen dürfte einige Überraschungen bereithalten.
Um im Bild des Buchtitels zu bleiben: Mit dem vorliegenden Band sind die Schatten der Tradition etwas lichter geworden, doch wird noch mehr Licht sicherlich noch mehr und anderes zur Geschichte des IfS zutage fördern.
Fußnoten
- Bis März 2025 war Sarah Speck als Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Goethe-Universität Frankfurt tätig. Seit April 2025 ist sie Professorin für Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und dem IfS weiter als Mitglied des Kollegiums verbunden. https://www.kuwi.europa-uni.de/de/professuren-mitarbeitende/vgl-kultursoziologie/index.html (18.7.2025).
- Siehe Sarah Speck und Barbara Umrath im Interview mit Johanna Niendorf: Die langen Schatten der Tradition des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 8.7.2025.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Diversity Epistemologien Erinnerung Feminismus Geschichte der Sozialwissenschaften Kritische Theorie Methoden / Forschung Rassismus / Diskriminierung Wissenschaft
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