Niels Werber | Literaturessay | 29.04.2025
Krachts Air(s)
Literaturessay zu „Air“ von Christian Kracht

1. Reisen und Experimentieren
Christian Krachts Debütroman Faserland (1995) fädelt seine Episoden entlang einer Reise auf, die den Ich-Erzähler von Sylt nach Zürich führt. 1979, der zweite Roman (2001), führt von Teheran in ein chinesisches Arbeitslager. Im dritten Roman, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), gelangt der Politkommissär der Schweizer SR aus Neu-Bern über Italien nach Südost-Afrika. Imperium (2012) folgt dem Nudisten und Kokosnuss-Pionier August Engelhardt auf seinen Fahrten durchs deutsche Reich zum Bismarck-Archipel und den Salomonen. Auch der Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli, Protagonist des vierten Romans, Die Toten (2016), reist: aus dem nationalsozialistischen Berlin ins kaiserliche Japan, zurück in die Schweiz und schließlich in die USA. In Eurotrash (2021) begleitet ein Erzähler namens Christian Kracht seine Mutter auf einer tour de mémoire durch die Schweiz, während die Mutter sich auf dem Weg nach Tansania wähnt. Und Paul, der Held der Aventiure Air (2025), unternimmt gleich zwei Reisen, eine von den Orkney-Inseln nach Norwegen zum „perfekten Weiß“ und eine zweite vom Eismeer in ein Bild von James Archer (Merlin and Lancelot, 1871). Die erste Reise spielt in einer Welt der feinen Unterschiede und Distinktionen, die zweite Reise in einer Welt des existenziellen Kampfs ums Überleben und der einfachen Dinge. Mit dieser Zweiteilung des Romans kommt man allerdings nicht allzu weit.
Reisen also. Sieben Romane in dreißig Jahren, und jeder nutzt die Ortveränderungen, die die Reisen des Protagonisten ermöglichen, für überraschende Kontraste, bizarre Vergleiche, unterhaltsame Unterscheidungen. Christian Kracht darf man sicher einen vielgereisten Mann nennen, und sein weltgewandtes ‚Air‘[1] wird immer wieder betont und bewundert. Viele seiner Veröffentlichungen, von Ferien für Immer (1998) über den Gelben Bleistift (2000) und Die Totale Erinnerung (2006) bis zur Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal (2009), haben das Reisen zum Thema, auch wenn es keine Berichte sind, denn die Unterscheidbarkeit zwischen „Fiktion und Fakten“ zu unterlaufen, gehört auch in den ‚journalistischen‘ Publikationen zum Kernbestand seiner Poetologie.[2] Es ist nämlich „oft fraglich, ob die beschriebenen Reisen tatsächlich stattgefunden haben oder ob diese Rückbindung an die Reisebiografie der Autorperson für die Verfasstheit der Texte überhaupt relevant ist“.[3] Es wäre leichtsinnig, die in den Romanen erzählten Reisen als Fortbewegung einer Person von Ort zu Ort zu verstehen. Gerade deshalb lohnt es sich, dem Vorschlag von Oliver Jahraus noch einmal Beachtung zu schenken, die „Reise“ als „Handlungssubstrat“ und Trägermedium jener „Erzählexperimente“ zu verstehen, die Kracht von allen westlichen Autor:innen der Gegenwartsliteratur „am weitesten und am radikalsten vorangetrieben“ habe[4]. Dies traf nicht nur 2009 einen Punkt, sondern auch heute, vier Romane später. Air führt das Experiment weiter.
Ein seriöser Experimentator wird in einer Versuchsreihe nicht die Medien wechseln, das würde die Vergleichbarkeit der Versuchsergebnisse erschweren. Daher also Roman für Roman: Reisen. Allerdings nicht in der strengen Form eines Itinerars; auf die gut motivierte Fahrt von einem konkreten Ort zu einem anderen Ort, dem Ziel, kommt es nicht an. Kracht schreibt keine Reiseromane, das scheint nur so. Die Reise stellt vielmehr das Vehikel dafür dar, beliebige Orte zu verketten, um dann Tokio mit Hollywood, ein Hotel in Phnom Penh mit dem Adlon in Berlin oder eine Party in Teheran mit einem KZ in China vergleichen zu können: hier wird der Selbstmord von der Kamera ästhetischer festgehalten, dort gibt es das bessere, kühlere Bier, da kann man leichter eine schlanke Linie halten. Und überall ist alles möglich, selbst in der Mongolei.[5] In Phnom Penh kann es um Stuttgarter Imbissbuden gehen, in Tokio wird in einem von Frank Lloyd Wright entworfenem Hotel argentinischer Tango getanzt, und in Stromness schneidet Paul sein Sauerteigbrot mit einem „Riffelmesser aus Kyoto“ und würzt es mit „Blackthorn Salt, aus der Salzplantage im westschottischen Ayrshire“ (S. 20). Und überall kann man damit rechnen, dass jemand in den Romanen so unerwartet auftaucht wie Franz Kafka und Thomas Mann, Charlie Chaplin oder Heinz Rühmann.
Oder Günter Grass. Adam Soboczynski ist eigens nach Indien gereist, um mit Christian Kracht über seinen neuen Roman zu sprechen. „Man kann mit Christian Kracht sehr gut über seinen Roman sprechen, allerdings nicht, wenn man eine Deutung erwartet. Dann wirkt er aufrichtig ratlos, fast beschämt. Schriftsteller, meint Kracht, seien womöglich die schlechteren Interpreten ihrer Werke als gewöhnliche Leser. Je konkreter man aber fragt, desto auskunftsfreudiger wird Kracht“, konstatiert der Literaturredakteur der ZEIT. Über den Text des Romans erfährt man zwar nicht viel, schon gar nichts Konkretes, wohl aber über „eine Fährfahrt über den Hugli, den Mündungsarm im westlichen Gangesdelta“, über Krachts Outfit: „hellblaues Hemd, eine beige Chino-Hose und ein, wenn man genau hinschaut, hier und da leicht beschädigtes, kariertes Tweedjackett“, und über das Hotel, in dem sie sich treffen: „eine englische Villa aus dem 18. Jahrhundert mitten in der Innenstadt gelegen, prachtvoll eingerichtet mit schweren, blumig bespannten Sofas, mächtigen Lüstern und hellen Lampenschirmen. Alte Marmorböden im Foyer, weiß gestrichene Holzdecken, an denen eine ganze Armee schwerer Ventilatoren hing“. Wozu das alles? Sagt nicht „der kleine Makel“ am Jackett viel über Krachts Schreiben aus, da er „auch in seinen Texten an prägnanten Stellen mutwillig schiefe Bilder oder surreale Unwahrscheinlichkeiten einbaut, wie um einen kleinen, kaum merkbaren Riss in der Schöpfung anzuzeigen“? Und ist eine alte Kolonialvilla nicht der rechte Ort, um über die „Heimatlosigkeit“ zu sprechen, die Krachts Leben und Werk kennzeichnet?
Vor Ort führt Kracht sein experimentelles Verfahren am Beispiel des nach Kalkutta gelockten Journalisten vor:
„Er zeigt mir im Hotel Elgin Fairlawn das eingerahmte, schon etwas verblichene Foto von Günter Grass, das zwischen Bildern anderer berühmter Gäste des Hotels an einer der Wände hängt. Es muss aus den Achtzigerjahren stammen, da hat Grass mehrere Monate in der Stadt gelebt und über seinen Aufenthalt das Erinnerungsbuch Zunge zeigen geschrieben und es mit Illustrationen von Krähen versehen (ein Buch, das Kracht für ausnehmend misslungen hält). Das Haar von Grass ist noch ganz schwarz, der Oberlippenbart sehr mächtig, der Blick sehr ernst. Der auf dem Foto verziert umrandete Aufdruck des Namens besticht zur hellen Freude Krachts durch einen Tippfehler: ,Günte Grass'.“[6]
Dass Grass dort gewohnt hat, wird in jedem Reiseführer erwähnt, und eine touristische Besichtigung führt auch zum Foto des Nobelpreisträgers.
Grass hängt dort tatsächlich gerahmt und im Passepartout, rechts neben Patrick Swayze, aber doch recht weit oben, so dass anders als auf einem hochaufgelösten Instagram-Foto nur schwer zu erkennen sein mag, dass dort keinesfalls „Günte Grass“ steht. Die Freude Krachts über diesen wunderbaren ZEIT-Artikel kann man sich ausmalen. Und aus dieser Episode erfährt man mehr über Krachts Ästhetik als aus seiner Mitteilung an Soboczynski, er habe „die Märchenwelt des Romans zunächst mit zwei Monden konzipiert, sich aber schließlich gegen diesen groben planetarischen Hinweis entschieden“.[7]
Vier Wochen nachdem ich den vorausgehenden Absatz geschrieben habe, ist eine Korrektur nötig: Adam Soboczynski hat ein hochauflösendes Foto an SOZIOPOLIS und mich geschickt, das er selbst von der Fotowand im Elgin gemacht hat und das überaus deutlich zeigt, dass auf einem feinen Aufdruck tatsächlich „Günte Grass“ steht. Ich bin selbst auf meine These hereingefallen, es werde sich wohl hier über einen der meisterhaften Streiche Krachts handeln, zumal auf Instagram von dem Aufdruck nichts zu sehen war. Bei Adam Soboczynski möchte ich mich für diesen Irrtum entschuldigen und mich für sein Foto bedanken.
Was bedeutet das für meinen Lektürevorschlag, den ich hier vorstellen möchte? Ich würde sagen: nichts. Es war ja gerade der springende Punkt, dass ein Foto mit der Aufschrift „Günte Grass“ im Elgin Hotel als Lektürehilfe von Krachts „Air“ nicht weit führt, sondern das ganze prächtige indische Setting die Analyse des Romans eher verhindert.
2. Schelmentum und Verweisverfahren zweiter Ordnung
„Kracht verfolgt ein kompliziertes Schelmentum“, bringt es Ingo Niermann auf den Punkt, nachdem er eine lange Reihe von Simulationen und Dissimulationen, plausiblen Falschheiten und unglaublichen Geständnissen aufgelistet hat. Niemand, „auch Freunde“ nicht, finden bei ihm „festen Grund“. Nicht nur sein literarisches Werk, sondern alle seine Äußerungen seien „rigoros unauthentisch“.[8] Dies darf inzwischen wohl zum Konsens der Krachtforschung gezählt werden. Unauthentisch also, aber zugleich alles andere als zufällig, denn alle öffentlichen Äußerungen Krachts nehmen an einem ästhetischen Experiment teil, das auch jene Bilder einschließt, die er – wie kürzlich im Hotel Elgin Fairlawn – von sich als Autor produziert. Es sind zahlreiche Bilder von Christian Kracht im Umlauf, seit er 1995 mit seinem literarischen Erstlingswerk Faserland an die Öffentlichkeit getreten ist, ja eigentlich schon seit seiner ersten Publikation in der Salemer Abiturzeitung von 1985. Manche zeigen ihn als jungen Mann, das blonde Haar ordentlich gescheitelt, im Anzug, Polohemd oder Trenchcoat, andere mit Bart und Pfeife; manche mit nerdiger Brille, andere nach Art eines Einsiedlers auf filigrane Art zerzaust. Einige haben geradezu ikonische Qualität und fungieren im Archiv der populären Kultur als Topos: Kracht mit Stuckrad-Barre in einer Werbung für Anzüge; Kracht mit einer AK-47 Maschinenpistole im Arm auf dem Umschlagfoto von Mesopotamia; Kracht im Anzug, barfuß, auf einer Wiese vor einem indischen Schloss Sitar spielend; Kracht auf einer Gebirgsstraße im Hindukusch.[9] Oder auch Kracht in braunen Reitstiefeln, weißer Hose und blauem Hemd auf der Terrasse einer Ranch, Pfeife rauchend, ein Kind im Arm; Kracht mit skinheadartig rasiertem Kopf; Kracht im Kreis des „popkulturellen Quintetts“[10]; Kracht im Arm seiner Frau oder Kracht im Arm von Dietmar Dath. Diese Peri- und Epitexte zählen nicht nur zu seinem Werk, sondern auch zum Raum der Fiktion, den Kracht mit seinen Texten, Auftritten, Interviews und Fotografien eröffnet.
Eckhard Schumacher hat ganz recht damit, wenn er die Präsenz des Autors in Krachts Texten, Paratexten und Kontexten als „Autorfiguration“ bezeichnet und feststellt, dass alle Versuche, hier Gewissheit darüber zu erlangen, was figuriert, fingiert, gefaked ist und was nicht, in die Irre führen. Tatsächlich verschwindet der Autor Kracht, je mehr man nach ihm sucht.[11] Und es ist nur konsequent, wenn für den Schutzumschlag von Air ein Porträt gewählt worden ist, das den Autor geradezu entrückt. Das Foto von David Lieske trifft Krachts Ästhetik viel besser als alle Anekdoten, die (von ihm, seinen Bekannten oder Journalist:innen) aus seinem Leben erzählt werden. Das Verschwinden Krachts aus dem Autorenfoto des Air-Peritextes passt natürlich zum Verschwinden des Protagonisten aus einem verschlossenen Hochsicherheitsraum. Das gehört zur Komposition, die viel mehr als den Text erfasst.
Kracht hat schon immer gezaubert,[12] und die Frage, wo der Protagonist des neuen Romans, Paul, geblieben ist, kann von Wachpersonal und Wissenschaftlern des bombensicheren und videoüberwachten Datenbunkers bei Stavanger nicht beantwortet werden. Es ist wie ein Wunder, unerklärlich, eine Suspendierung der Naturgesetze. Poetologisch geht es einfach darum, Paul aus einer Welt, in der er Häuser einrichtet und passende Wandfarben findet, in eine Welt zu versetzen, in der er vor den Armbrüsten und Bluthunden des grausamen Herzogs von Tviot an den eiskalten Rand der Welt flieht. Womöglich sind die beiden Welten dort verbunden wie bei Tolkien Valinor und Endor im Ersten Zeitalter. Paul scheint eine solche Rückkehr in seine Welt für möglich zu halten (S. 166).
Passagen von einer Welt in eine andere kennt man aus Alice's Adventures in Wonderland oder Matrix. Genau wie in den Matrix-Filmen weisen in Air glitches darauf hin, dass es mehr als eine Welt geben muss: wenn etwa das Mädchen Ildr in der mediävalen Welt eine Stahlschraube findet (S. 118 f.) oder das Wort „Maschine“ benutzt (S. 100), das sie niemals zuvor gehört hat. Diese Vorfälle werden von Ildr und Paul durchaus thematisiert. „Eigentlich dürfte es solche Dinge hier nicht geben. / Das verstehe ich nicht. / Ich auch nicht“ (S. 119) Es geht aber nicht darum, diesen Sachverhalt zu verstehen, sondern um eine ästhetische Frage, die auch so formuliert werden könnte: Wie wird aus Paul der Zauberer Merlin? Oder umgekehrt: Wie wird aus einem Bild, das den Zauberer Merlin zeigt, ein Roman?
Das sechzehnte, vorletzte Kapitel von Air zeigt uns Paul und Cohen, den Herausgeber des Magazins Kūki, in dessen Auftrag Paul überhaupt nach Norwegen geflogen ist, wo er ein Datenzentrum weiß streichen soll, im „Abendlicht“.
„Vor den beiden Freunden rieselte eiskaltes Wasser durch das Gras die Hügel herunter. Abermals erschien die Welt flach und wie gemalt. Cohen saß auf einem schwarzen Pferd, die Schultern gesenkt. Er trug die Rüstung, die er in der Festung des Herzogs gefunden hatte, und die Lanze über der Schulter. An deren Spitze hing der Fetzen einer zerschlissenen roten Fahne. Er klammerte sich an der Lanze fest, weil ihm die Wunde so schrecklich weh tat.
Eine furchtbare Schwere und Müdigkeit umgab ihn. Immer wieder fielen ihm die Zügel aus der Hand. Es war spät, er hatte Schmerzen, die Sonne war nun fast untergegangen. Der restliche Rand des Himmels war orangerot, bald würde es Nacht werden. Paul, in seine weiße Kutte gekleidet, deren Kapuze ihm tief ins Gesicht hing, schritt Cohen voraus, um ihm den Weg in die Berge zu zeigen. Wohin ging es nur. Wer waren sie.“ (S. 214)

Dieses Gemälde hängt, siehe Kapitel I, in Pauls Haus in Stromness an der Wand (S. 12). Paul hat es von einem etwas unheimlichen Herzog von Cumberland bekommen, das Haus Cumberland ist ausgestorben, für dessen „großen Salon in seinem Jagdschloss“ er das „passende, richtige Rot“ gefunden hatte (S. 45–47). Seitdem das Bild in seinem Haus an der Wand hing, sprudelten Pauls Aufträge und Honorare, als wäre es nicht von Archer, „sondern von der Göttin Fortuna selbst“ (S. 48). Das Bild ist also von Anfang an mehr als das Werk eines „etwas ungelenken Schotten“ (ebd.). Es scheint magische Qualitäten aufzuweisen, und es bleibt nicht einmal brav an seinem Ort.
Das Kapitel XVII, das letzte im Roman, beginnt nämlich so: „Das Ölgemälde von Merlin und Lancelot hing nun nicht mehr in Pauls Haus im Stromness, sondern an der Wand des Schlafzimmers in Barnhill“ (S. 213), also in einem Haus „auf der Insel Jura“, in dem Paul niemals gewesen ist, das ihm aber „nie aus dem Kopf gegangen war“, weil es „abgelegen [war] wie wohl kein zweites Haus auf den Hebriden“ (S. 68). Selbst wenn man es auf die Insel Jura schaffen sollte, Barnhill war nur äußerst mühselig zu erreichen. Die Reise, die Paul nie unternommen hat, wird so eindringlich geschildert wie Barnhill, das Paul nie betreten hat. Kein Strom, kein Telefon, keine Heizung, keine Straße, nur ein Feldweg: „das perfekte Haus war das“ (S. 69).
Man möchte nun wieder zuerst fragen: Wie kommt das Bild denn dorthin? Man erfährt aber mehr, wenn man anders fragt – und zwar gerade deshalb, weil der Erzähler Pauls Vorlieben und Beruf ja so entwirft, dass man sich kaum wundern mag, dass er von einem Haus am Ende der Welt träumt: Fair Isle, das wäre was, noch einsamer und abweisender als Stromness (S. 66). Statt darüber zu rätseln, wie ein Gemälde von Archer den Ort wechseln kann, möchte ich fragen: Wieso Barnhill?
„It is a perfect setting“, so steht es im Telegraph (12.7.2003) in einem Bericht, der Barnhill auf der Insel Jura als Reiseziel anpreist.[13] Der einsame Landsitz lässt sich für 1000 britische Pfund die Woche mieten, es lohne sich, schreibt Rob Crossan im Guardian:
“In the late 1940s, Barnhill, a stout, white-washed house, on the Scottish island of Jura in the Inner Hebrides, was exactly what George Orwell was looking for: a remote retreat unreachable by vehicle. He described it as in an extremely un-get-atable place“.[14]
Genau das inszeniert Kracht, ungetatability (S. 68 f.), und jedes Detail der von Paul nie unternommenen Anreise (ebd.) lässt sich in Gavin Bells Reisereportage The road to Big Brother's house für den Telegraph nachlesen.[15] Sogar über das unerklärliche, feenhafte Verschwinden und Auftauchen von Gegenständen (glitches!) erfahren wir etwas in diesem Bericht, man denke an die rätselhafte Erwähnung einer „blauen Fee“ (S. 106), darüber hinaus vom Ruderboot, das George Orwell gehörte, und von gälischen Namen. Alles wie im Roman. Müsse uns Pauls sentimentalische Eloge auf Barnhill, „dessen Reproduktionen über die ganze Welt verbreitet sind“, nicht skeptisch machen, fragt Tilmann Spreckelsen (FAZ vom 13.3.2025, S. 10) zurecht[16].
Pauls Ruderboot heißt „Dóchas Hoffnung“ (S. 65). Auf der Insel finden in der Jura Village Hall regelmäßig Treffen unter dem Titel „Dóchas Coffee“ statt. In House & Garden ist am 15.8.2018[17] über die Ausstattung von Barnhill zu erfahren, es gebe in der Küche einen alten, kohlebefeuerten Herd und für funzeligen Strom einen winzigen Generator, „expect to be sharing the garden with goats and deer“. Alles wie in Air (S. 69). Auf dem Foto, das den Reisebericht von Leanne Walstow für House & Garden begleitet, ist der „Feldweg“ zu sehen, der zum Haus führt, und auch „verwilderte, langmähnige Pferde […] in den Wiesen daneben“ (S. 69).
„Pauls Gedanken an dieses Haus waren so zärtlich wie an eine große Liebe, die verflossen war. Ihm war traurig, wenn er daran dachte, aber es war auch schön, wie etwas, das nicht mehr zu fassen war, weil es nur noch in der Vorstellung existierte. Es gab einen alten verschrammten Ofen in der Küche...“ (S. 69)
Es geht nun gar nicht darum, ob Christian Kracht die Insel selbst besucht hat oder nicht. Der Witz liegt vielmehr darin, dass Barnhill, Pauls Traum von einem Haus, das noch abgelegener, einsamer, aller Zivilisation entzogener wäre als Pauls Haus in Stromness, ein gut vermarkteter Hotspot für wohlhabende Touristen ist, die gerade für die Illusion bezahlen, dass Barnhill authentisch gealtert und „abgelegen“ sei wie „kein zweites Haus auf den Hebriden“ (S. 68). Die Verblüffung darüber, dass Archers Gemälde nun in Barnhill hängt, verhindert (einen Moment zumindest) die Beobachtung des poetologischen Verfahrens.
Nach Roland Röttel handele es sich um „ein Verweisverfahren zweiter Ordnung, um ein Verweisen auf das Verweisen selbst und damit um ein Kenntlichmachen des eigenen poetologischen Programms.“[18] Worauf wird verwiesen? Wie das Bild den Ort wechselt – ist es Magie? Sind es Feen? Ist es ein Quantenphänomen? Eine Zukunftsvision? –, ist gar nicht so wichtig. Das Bild erlaubt es, die Orte zu vergleichen, an denen es an der Wand hängt: Stromness und Barnhill also. House & Garden schreibt über Barnhill:
“Virtually untouched since Orwell's day, the house is still owned by the Fletcher family, who rented it to Orwell in the 1940s. The house is almost totally off-grid, ‘you'll still need a boat or a 4x4 to get there.’“[19]
Und die „Insel Jura“ (S. 68)? Die kennt nun jeder – und zwar als brand, jedenfalls jeder, der ab und an die Gelegenheit hat, im Flughafen in einen tax free shop zu schauen. Man muss kein frequent flyer und kein Whisky-Liebhaber sein. Die Brauerei wird in jedem Reiseführer erwähnt. Ob Barnhill oder Jura, das Allerabgelegendste entpuppt sich als ziemlich naheliegend.[20] Was hat dies mit Paul zu tun, dessen Job als Innenarchitekt es ist, Orte genau so auszustatten, wie er es sich in seinem Haus in Stromness von Barnhill erträumt (S. 16, S. 42–49)? Und mit Krachts poetologischem Verfahren?
Paul erwirbt sein Brot nicht irgendwo, sondern bei der „Orkney Sourdough Bakery“, die vom „Kūki Magazin“, das wie eine hypersnobistische Variante von „Manufactum“ („Es gibt sie noch, die guten Dinge“) überall auf der Welt die letzten und besten Erzeugnisse für den distinguierten Lebensstil auftreibt und inszeniert, lobend erwähnt worden ist. Kūki war „zum Beispiel zu Besuch bei einem der letzten japanischen Bürstenbinder gewesen, der im Hida-Gebirge auf Honshu in einer Holzhütte seine Handbürsten noch von Hand knüpfte“. Exklusiver und authentischer geht es nicht, sollte man meinen. Aber auch die Alliteration (Hida, Honschu, Holz, Hand) ist ihr Geld wert – und zeigt, worauf es bei Literatur ankommt, nämlich auf die Projektion des „Prinzip[s] der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“, also auf den Soundeffekt einer gut kombinierten Abfolge von phonetisch ähnlichen Worten.[21] „Es war in diesem Magazin immer um Exklusion gegangen“ (S. 17). Es ist das Kūki-Magazin, das Paul beauftragt, für die Hallen eines gigantischen, unterirdischen Datenspeichers das „perfekte Weiß“ zu finden (S. 16).
Auf den ersten Blick könnte man im Selektionsprogramm des Kūki-Magazins Krachts eigene Poetologie wiederfinden, die – auf den ersten Blick wohlgemerkt – ja auch das Abgelegene, Besondere, Eigenartige schätzt und valorisiert. Aber bei diesem Verweisverfahren erster Ordnung, in dem man gerne den Kracht zugeschriebenen Snobismus und Elitismus wiedergefunden hat, bleibt Kracht nicht stehen. Moritz Baßler hat in seiner Besprechung in der taz einen zweiten Blick darauf geworfen:
„Da ist der Inneneinrichter Paul, der Lost Places zu Luxusimmobilien mit nordischem Flair umdesignt, mit viel Holz, Glas, Fell und Naturstein. Natürlich weiß er selbst, dass er eigentlich nicht auf die Orkneys gehört, dass der wahre Nordmann Kia Diesel fährt und Goretex trägt und nicht, wie er selbst, die authentischen Schafwollpullover wie aus dem Film mit Colin Farrell neulich. Ihm ist klar, dass seine Manufactum-Ästhetik das als begehrenswert abbildete, was die Moderne selbst vorher zerstört hatte, nur um es im Postkapitalismus neu als Ware anbieten zu können, allerdings zum hundertfachen Preis. Um mit Cohen, dem Herausgeber eines exklusiven Designmagazins, das Paul schätzt, zu sprechen: Das war alles so erbärmlich, aber das Gegenteil war natürlich noch viel schlimmer.“[22]
Nicht gerade Paul selbst, wie Baßler meint („Ihm ist klar, dass ...“), aber der Text reflektiert, und man muss die Überlegungen Cohens ja nur lesen (S. 126), dass gerade die einfachsten Dinge, die Kūki auftreibt und inszeniert, keinen Ausweg bieten, sondern den „Postkapitalismus“ (S. 126) mit der Singularisierung, Valorisierung und Vermarktung noch von alten Schafwollteppichen (S. 41) und vergilbten Postkarten (S. 44), mit denen Paul für viel Geld Wohnräume ausstaffiert, auf seine nächste Stufe hebt, die sich kein abgelegenes Dorf, keine Einmannmanufaktur und keine selbstgefangene Muschel entgehen lässt.[23] Auch die archaische Steinstadt (S. 155–171), die Paul und Ildr nach einer langen, entbehrungsreichen Reise erreichen, wäre vom Interior Design über die Outfits bis zum Sustainable Cooking perfekt zu vermarkten.
Kracht kennt sich selbstredend unvergleichlich gut aus in dieser Welt der Marken und feinen Unterschiede, aber er hat die Reflexion eine Stufe weitergetrieben. Air ist darauf angelegt, in den „klaren“, „bescheidenen“, „kristallinen“, „vollendeten“, „sauberen“, „harmonischen“ Meisterwerken der Steinstadt (S. 170 f.) nichts Authentisches zu sehen,[24] sondern das marktgerechte Plädoyer für „Nachhaltigkeit“, „asketischen Verzicht“ und die „sanfte, leicht verschrobene, antikapitalistische Metaphysik“ des Kūki-Magazins (S. 17). Paul „fühlte“ das durchaus, „aber niemand sonst wußte, was er meinte“ (S. 172).
Was Paul nur fühlt, wenn er von Barnhill träumt, aber nicht klar artikuliert, das kann die Leserin durchaus bemerken, aber nur dann, wenn sie nicht auf Krachts (Selbst-)Inszenierungen hereinfällt. Tilman Spreckelsen hat über Air und die „einsame Hütte auf den Hebriden“ resümiert: „im poetischen Vermögen Krachts steht das Entwerfen von Sehnsuchtsorten ganz weit oben.“[25] Es spricht viel dafür, dass Kracht die Konstruktionsbedingungen des „Entwerfens von Sehnsuchtsorten“ freilegt und wie ein transzendentaler Buffo all jene verspottet, die das völlig durchkommerzialisierte Barnhill auf der Insel des Jura© für einen authentischen Ort halten. Vom Jura Whisky führt über die Flaschenetiketten, die Heroen aus der Edda zeigen, ein Verweis in den mythischen Norden. Immerhin wohnt Paul auf einer Insel, auf der „früher das inzwischen ausgestorbene Norn“ gesprochen wurde, eine „altnordische Sprache“ (S. 21). Auf dieser Insel beginnt die Saga, die Paul und Cohen nach zahlreichen Abenteuern schließlich in jenes Bild hineinführen, das erst in Pauls schönem, ruhigen Haus in Stromness an der Wand hängt (S. 12) und am Ende des Romans „an der Wand des Schlafzimmers in Barnhill“ (S. 215). Das Setting darf man sich wohl genauso vorstellen, wie BBC Radio es in einer Reportage über eine Reise zu Orwells einsamen Haus nahelegt.[26] „[D]raußen die Wiese. Heidefelder, soweit das Auge reicht. Drüben auf der anderen Seite der Meerenge das Festland.“ (S. 215) Auch Barnhill steckt „im Weltspeicher des kollektiven Gedächtnisses“ (S. 127), den Cohen weißen beziehungsweise aufräumen lassen will. Ein authentischer „Sehnsuchtsort“ ist das nicht, sondern ein touristisches Angebot.

3. Flache Fantasy?
Dort hängt nun Archers Ölgemälde an der Wand. Wie sind Cohen und Paul in dieses Bild gelangt? Die Frage ist so nur zu stellen, weil es Literatur gibt und die literarischen Möglichkeiten andere sind als die der Physik.
Handelt es sich um einen Ausflug in die „Fantasy“, wie Moritz Baßler annimmt? Dieses Genre hätte dann das Erbe der „Heldenreise“ und ihres doppelten Kursus angetreten, wäre aber auch, Paul thematisiert es mehrfach in der mittelalterlich-nordischen Parallelwelt, „flacher“ (S. 171 f.), „zweidimensional“ (S. 171), „flach“ (S. 214). Was man aus Papier alles machen kann, dem Medium der „zweiten Dimension“ (S. 55), das zeigt Paul Ildr an einigen Beispielen, nur vom Schreiben ist nicht oder nur als Absenz – „nichts Geschriebenes“ (S. 168) – die Rede. Aber genau im Medium der Schrift ist ja all das möglich, man denke etwa an Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray oder die lebenden Gemälde von Toten in Rowlings Harry-Potter-Serie.
Mit seinem Hinweis auf das Fantasy-Genre spielt Baßler auf die These an, die er in seiner aufsehenerregenden Monografie über den Populären Realismus vorgelegt hat, dass nämlich Fantasy deshalb das populärste Genre unserer Zeit sei, weil es dort nicht auf literarische Verfahren ankomme, sondern Fantasy völlig „unbelastet von den Prätentionen der Midcult-Varianten“ gut konsumierbare, um die Form der Zeichen nicht allzu bemühte, daher leicht zu übersetzende und „international erfolgreiche All-Ages- und Crossover-Literatur“ schaffe.[27] Fantasy sei „flach“, so die Wertung auf der high/low-Achse. Der „Weg in die Genrewelten der Fantasy [sei] nicht folgenlos“, meint Baßler in seiner Rezension von Air, man wandele nicht ungestraft unter Helden. Das „Flache“ des Textes wäre dann also die Strafe für die „Heldenreise“ mit doppeltem Kursus, die Baßler als Indiz für mediävale Fantasy nimmt. Er scheibt:
„Es wird alles immer flacher. Der Text nimmt das wörtlich, und so verwandeln sich Paul und Cohen zusehends in ein Gemälde, das Paul einst von einem Herzog (!) für seinen ersten innenarchitektonischen Coup erhalten hatte. Es handelt sich dabei um Merlin und Lanzelot (1871) von James Archer, einem schottischen Maler aus dem Umfeld der Präraffaeliten. Das ist jene Malschule, die sich aus den unübersichtlichen Zusammenhängen der Moderne in ein fantastisches Mittelalter zurücksehnte, noch bevor diese Moderne überhaupt richtig begonnen hatte.“[28]
Dass der zweite Teil der Heldenreise in ein zweitklassiges Gemälde aus dem Artussagenkreis führt, ließe sich so als weiterer Hinweis für diesen Deutungsvorschlag anführen, der in Air eine Auseinandersetzung mit dem „ästhetischen Dilemma“ sieht, moderne Literatur mit dem „flachen“ Genre der Fantasy zu verbinden. Denn die Popularität, die Merlin und Lancelot zweifellos zukommt, haben sie nicht dem ästhetischen Rang James Archers zu verdanken, sondern der hundertfachen Weiterverwertung der gut etablierten Artus-Welt in der Massenkultur. Und die Verfahren? Altbekannt, bewährt, populär – und deshalb gefällig, aber anspruchslos: „Die bewährte Heldenreisestruktur mit ihren Helferfiguren, treuen Tieren und weisen Alten. Man kann sie in noch so dicke Anführungszeichen setzen, sie schlägt uns doch immer aufs Neue zuverlässig in ihren Bann.“ Hohe Kunst wäre das nicht. Fantasy wird von Baßler „als Teil einer marktförmigen populären Attraktionskultur angesehen, dessen Erzeugnisse nicht im engeren Sinne als Literatur einzuordnen sind.“[29]
Mein Vorschlag wäre, das „Flachwerden“ nicht auf Krachts Ausflug in die Fantasy zu beziehen und womöglich als Selbstbestrafung („man wandelt halt nicht ungestraft unter Helden“) zu lesen, sondern als Hinweis darauf, dass alle Verweisverfahren zweiter Ordnung bei ihm wieder in den Text hineinführen, in „sein Medium Text, im Sinne von schwarzen Zeichen auf weißem Papier“.[30] Die Referenzen, die aus dem Text herausführen, sollen ja in die Lektüre des Textes einbezogen werden; nur so, in einem doppelten Kursus, können Verweisverfahren zweiter Ordnung überhaupt beobachtet werden. Und wenn wir einmal generalisieren, was am Beispiel Barnhill gezeigt werden konnte, dann handelt es sich um Bilder, auf die verwiesen wird. Und genau darum geht es bei den Cloud-Servern bei Stavanger, in denen Paul verschwindet.
4. Bilder, Geschichten und Texte
Die „Geschichten“, die in den „Datenbanken“ abgelegt sind (S. 107), sind Bilder: „Und in ihnen vibrierten Trillionen von Bildern, eine so unvorstellbare Menge an Geschichten, daß sie ein eigenes Universum darstellten, Quadrilliarden von Leben, mit allem was dazuzählte.“ (S. 104) Aus diesem Universum von Geschichten lassen sich Texte machen, man muss nur selektieren und kombinieren.
„Wir sind wie gemalt.“ / „Wie in einem Bild? Das kann doch nicht sein. Du bist einfach müde und erschöpft“, entgegnet das Mädchen Ildr Paul (S. 172), und sie hat eigentlich völlig recht, wenn man nicht gerade Stringtheoretiker:in ist und sich damit beschäftigt, ob die „dreidimensionale“ Welt der „Schatten“ (S. 96) einer höherdimensionalen Welt sein könnte.[31] Paul antwortet: „Ich habe so ein Bild zu Hause“ (S. 172). Ildrs Nachfrage, wo das sei, beantwortet er nicht (S. 172). Dabei wäre es so einfach: Zuhause ist dort, wo das Bild hängt. Im Text kommt das „Gemälde vom Zauberer Merlin und dem Ritter Lancelot“ (S. 106) noch ein drittes Mal vor, und es ist, wie vieles andere, abgelegt in den Datenspeichern der Höhle voller Cloud-Computer, jener Kaverne also, die Paul im Auftrag Cohens mit „Hunderttausenden Litern“ der Firma Farrow & Ball in „Fünflitereimern“ weiß streichen sollte (S. 105).
„Paul schritt langsam die Reihen ab und fuhr im Gehen mit der Hand über die glatten Plastikoberflächen, über die gespeicherten Erinnerungen des Planeten. Wie beeindruckend das alles war. Cohen hatte recht gehabt. Er erinnerte sich. Er sah sein kleines gemietetes Haus am Meer in Stromness […] Die sauber aufgestapelten Ausgaben von Kūki, obenauf das Cover mit der Schale und den hellen Muscheln und den Nüssen darin. […] der Unterteller […], das Fahrrad, die Gummistiefel. Dann das Geschenk des Herzogs, das Gemälde […]. Das alles würde er weiß malen. Er lief eine ganze Weile lächelnd unter den Hängelampen, immer weiter in die Kaverne hinein, ohne daß vor ihm ein Ende der Speicherreihen abzusehen war.“ (S. 105 f.)
Dann schlägt der EMP ein, es knackt, es blitzt, es riecht – und Paul war verschwunden. Wo ist sein Zuhause? Wo hängt das Bild? Nicht als singuläres, materielles Original in seinem Haus in Stromness. Es befindet sich vielmehr, wie vieles, ja eigentlich alles andere auch in den „Datenbanken“ (S. 107) der Kaverne. Wie jeder mit der Bildersuche einer Plattform wie Instagram oder einer Google-Suche ausprobieren kann, ist es im Internet tausendfach abgelegt. Cohen hatte vermutet, dass die „Erinnerungsschwärme“ auch „nach Auflösung des Körpers“ als „Entität im Datenspeicher“ eine neue Identität annehmen könnten, von der wir nicht wüssten, ob es „ein Ich, ein Selbst habe oder nicht“ (S. 81). Esse est servari. Paul ist sich vor seinem Verschwinden sicher, dass „Cohen […] recht gehabt“ habe (S. 105).
Womit hat er recht gehabt? Der Ort der Bilder ist das Netz. Es ist alles in der Cloud des Green Mountain Datenzentrums gespeichert, so wie „alle Hochzeiten, die Kirschblütenzeit in Japan, alle Geburten, Reaktorunfälle, Insektenschwärme, kleine Katzenbabys […], Kriegsversehrte, Palmen im Sonnenuntergang, 5 Milliarden Fotos am Tag“ (S. 80) Leben, mit allem was „dazuzählt“ (S. 104)! Und selbstredend sind auch alle Bilder vom Green Mountain Data Center daselbst gespeichert,[32] was in Air eigens notiert wird (S. 103 f.). Alles, was man über diese Datenkaverne wissen muss, wissen wir aus den Bildströmen, die in der Cloud abgelegt und auf den Plattformen abgerufen werden können.[33]
Nicht nur das Gemälde Archers ist den meisten aus dem Internet bekannt, das Gleiche gilt für Barnhill, die schottischen Meersalzflocken von Thornhill[34] und für die Orkney Sourdough Bakery.[35] Auch in diesem Fall ist es nicht der springende Punkt, ob Kracht jemals in Stavanger, auf den Orkneys oder in der Thornhill Salzmanufaktur gewesen ist oder nicht. Entscheidend für die Auswahl gerade dieses Salzes für den Roman scheint mir die simple Tatsache zu sein, dass die Herstellung in Ayr stattfindet: Blackthorn Salt, Saltpans Road, Ayr. Man muss der Achse der Äquivalenzen folgen, wenn man wissen will, wie die Dinge in Air versammelt werden.
Ayr klingt nicht nur ähnlich, es ist das gälische Wort für Air, und dass Kūki ebenfalls Air bedeutet (auf Japanisch nämlich: 空気), ist von Sebastian Hammelehle im Spiegel (Nr. 12, 15.3.2025) bereits festgehalten worden. Man muss den Zeichen folgen, nicht der Bedeutung. Es geht nicht um eine autobiografische Aufladung von Thornhill, deren erlesene Flocken jemand aus „Distinktionssehnsucht“[36] (Tobias Rüther, FAZ, 8.3.2025) in Schottland aufgetrieben hat, sondern um die paradigmatische Logik des Verweises. Ja, zunächst darf man gerne in den schottischen Meersalzflocken von Thornhill, die Paul auf das mit Sauerrahmbutter bestrichene Brot der Orkney Sourdough Bakery streut, ein Distinktionsspiel sehen; aber man sollte doch den Verweisen des Textes auf das Verweisen folgen und in einem zweiten Schritt sehen, dass zwischen diesen exklusiven, distinguierten, singulären Bildern und den Bildern der populären Massenkultur kein substanzieller Unterschied besteht. Ob Katzenfotos oder das Schweizer Armeevelo (S. 12)[37]: In der Cloud ist alles nur „Energie“, die in „Geschichten“ verwandelt werden kann (S. 79, 107).
5. Air
Am 13. März, an dem Tag, an dem Air erscheint, bringt der NDR ein Interview mit dem Autor, das den Roman so vorstellt:
„Schauplatz für den Roman Air ist ein bewachtes Rechenzentrum in Norwegen. Als Protagonist Paul es betritt, wird durch eine Sonneneruption der Planet verschluckt und Paul findet sich in einer Fantasy-Welt wieder.“[38]
Im Rückblick, nach der Lektüre des Romans, könnte man fragen, ob diese kurze Charakterisierung der Handlung überhaupt zutrifft. Ja, eine „Sonneneruption“ löst einen „schockwellenartigen Magnetsturm“ aus, der „gerade einmal acht Minuten später die Oberfläche der Erde erreicht“ und dort „massive Ausfälle der Satelliten- und Mobilfunkverbindungen“ (S. 106) bewirkt. Aber nein, „der Planet“ wird keinesfalls „verschluckt“. Das „bewachte Rechenzentrum“ ist auch nach dem elektromagnetischen Impuls noch da, denn der Raum wird von Soldatinnen und Wissenschaftlern nach diesem Zwischenfall gründlich untersucht, ohne dass diese „fast achtzig Menschen“ Paul finden konnten: „er war nicht mehr da“ (S. 108). Paul hatte sich in Luft aufgelöst. Die riecht denn auch entsprechend „nach verschmortem Gummi und Federn“, aber auch „sauerstoffreich“, „wie nach einem Sommergewitter“ (S. 107), deren bis zu 30.000 Grad heiße Blitze die Luft ionisieren. Findet sich hier ein Hinweis auf den Titel des Romans? Die Frage ist berechtigt, eine Anspielung auf Jon Krakauer, Autor des Bestsellers Into thin air (1997), ist für die Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal belegt.[39] Knut Cordsen hat den Autor für den NDR nach dem Titel Air gefragt:
„Wie kam es dazu? ‚Das weiß ich auch nicht‘, sagt Kracht. ‚Das kann ich Ihnen nicht erklären. Es gab eine Menge Titel, und irgendwann habe ich dann diesen gefunden. Lustigerweise gibt es keinen einzigen Roman auf der Welt, der ‚Air‘ heißt. Obwohl das ja eigentlich so ist, als ob man einen Roman ‚Wasser' nennt oder ‚Nebel‘ oder ‚Schnee‘ – aber ‚Air‘ gab es noch nicht, und das fand ich dann sehr gut. Dann sagte meine Tochter: Schau mal, Papa, in dem Titel ist ‚AI‘ drin, das fand ich dann auch gut. Aber da war es schon entschieden.“[40]
Gerade weil Kracht behauptet, es gebe „keinen einzigen Roman auf der Welt, der ‚Air‘ heißt“, muss man dies als Hinweis lesen im Sinne seines Verweisverfahrens zweiter Ordnung. Selbstverständlich gibt es einen Roman, der Air heißt, und, weil für Krachts Verweispraxis nicht nur andere literarische Werke eine Rolle spielen, sondern audiovisuelle Medien aller Art,[41] wäre durchaus interessant, was alles den Titel Air trägt:
Da wäre erstens ein japanisches Video-Game, das den Titel Air trägt, im Original natürlich Kūki beziehungsweise 空気. Dass diese Referenz überhaupt von Belang ist, liegt an der Gamelogik, die sich durch die Quest von Paul und Ildr zur Steinstadt zieht. Sie finden immer zur rechten Zeit genau das, was sie benötigen, um weiterzukommen. Als es allzu arg steht, treffen sie Ut, die die beiden vor dem Hungertod rettet: „Was für ein Zufall, daß sie diese Frau getroffen hatten, die ihnen gezeigt hatte, wie man die Steinwüste überlebt.“ (S. 136 f.) Dieser „Zufall“ ist in einem Video-Game freilich erwartbar. Auch wärmende „Decken“ und „Wolfsfelle“ finden sie genau dann, wenn es nötig wird: „Was für ein schier unglaubliches Glück.“ Nicht wahr! Und als sich eine Flotte des Herzogs nähert, um die Steinstadt zu erobern, erhalten Paul und Ildr „ein Gewehr und einen Patronengürtel“ als Bonus. Die mit Schwert und Lanze, Bogen und Armbrust bewaffneten Truppen haben keine Chance. Das Gameplay von Air wurde angelegt „ to show a range of different possibilities the player character Yukito Kunisaki could take in “parallel universes in fiction. “[42] Auch das passt.
Zweitens ein dystopischer Science-Fiction-Film, der in unterirdischen Bunkern spielt, 2015 als Air in die Kinos kommt. Im Kampf ums Überleben bleiben eine ganze Reihe von mehr oder minder anonymen Gegnern auf der Strecke, was der in postapokalyptischen Welten bewährte Daryl Dixon in seiner Rolle als Bauer so kommentiert: „It's not murder, it's survival.“ Paul und Ildr töten erst drei, dann noch einmal vier, später Dutzende der Schergen des Herzogs. „‚Ildr, wir können nicht laufend Menschen töten.‘ ‚Wir mußten es tun.‘“ (S. 100) „Es ging nicht anders.“ (S. 188) It’s survival.
Drittens bezeichnet Air in der Musikwissenschaft die Form eines liedartigen Instrumentalstücks, die im England des 16. Jahrhunderts in Mode war. Es gibt einige explizite „Air“-Passagen in Händels Oratorium Judas Maccabaeus, das er zu Ehren des dritten Herzogs von Cumberland und seines Sieges über den Jacobinischen Aufstand in Schottland geschrieben hat. Ungläubige beziehungsweise Rebellen ließ er summarisch exekutieren. Das „Blut“ an den „Handschuhen“ und „Hosen“ des Herzogs von Cumberland (S. 46), der Paul den Archer (engl. Bogenschütze, arch: schelmisch, schurkisch) schenkt, und die Verfolgung all jener, die nicht den Glauben des Herzogs teilen, der durch einen roten Kreis symbolisiert wird (S. 33), verweisen auf jenen historischen Herzog, den man „The Butcher“ genannt und dem man musikalisch mit „Airs“ gehuldigt hat.
Viertens der ikonische Sneaker der 1990er-Jahre der Nike-Air von Nike ist.[43]
Fünftens Paul, so würde ich wetten, ein Macbook Air verwendet, als er „mit einer Fingerspitze das Mail links hinunter in den Ordner für Unerledigtes schob“ (S. 16).
Und sechstens gibt es, wie erwähnt, eben doch einen Roman, der den Titel Air trägt, einen preisgekrönten Science-Fiction-Roman von Geoff Ryman aus dem Jahr 2005. Im Zentrum des Plots stehen Experimente in einem abgelegenen Bergdorf mit einer neuartigen Informations-Technologie namens Air, die im menschlichen Gehirn implementiert wird und zur drahtlosen und weltweiten Vernetzung aller Menschen und Maschinen bestimmt ist. Personen sterben und leben als „artificial soul“ im Air-Netz weiter. So wie Paul und Cohen. „Schau mal, Papa, in dem Titel ist ‚AI‘ drin“. Die Protagonistin Mae scheint wie Paul und Cohen in mehr als einer Dimension zu existieren. Plausibilisiert wird dies mit einer Mischung aus String-Theorie und Magie. „Out of energy things were made“, heißt es in Rymans Air. Aus der Sicht von Ildr ist eine Pistole aus dem 3D-Drucker das Werk eines „Magiers“ (S. 133 f., 162, 201), für Cohen stellt sich dagegen nur die Frage, wo man sich „eine solche Waffe drucken lassen“ könnte (S. 127).
6. Das Experiment
„Alles was zitiert wird, wird auch gleichzeitig durchgestrichen“, jede „intertextuelle Referenz [wird] zugleich subversiv desavouiert“, fasst Jahraus die Verfahren von Krachts „ästhetischem Fundamentalismus“ zusammen.[44] Man muss den Verweisen (was zitiert wird, den Referenzen) folgen, um bemerken zu können, dass dieser Verweis entwertet und desavouiert wird. Man muss also erst einmal verstehen, welches Distinktions- und Valorisierungsspiel Air mit all den kostbaren Salzen und Sauerteigen, Schafswollteppichen und Gemälden aus dem 19. Jahrhundert inszeniert. Aber um das zu verstehen, muss man den Verweisen nachgehen, den „Verweisen auf das Verweisen“[45] – und man erkennt, dass es alles nur einen Klick auf dem Touchpad voneinander entfernt liegt, gespeichert in der Cloud, anzuschauen, zu bestellen, zu reservieren, zu buchen und zu kaufen im Internet, alles online. Der erste Blick bekommt sozusagen den „Inhalt“ ins Visier, das Setting, die Marken, die Kleidung, das Distinktionsspiel. Der zweite Blick dagegen das poetologische Programm, das immer wieder allem den Grund entzieht. Diese Lehre ließ sich schon aus Eurotrash ziehen, die die unzähligen Versuche, Faserland als Autobiografie zu lesen, der Lächerlichkeit preisgibt:
„Tatsächlich knüpft Eurotrash jedoch weniger an Faserland an als an dessen Fehllektüren. Indem die Hauptfigur jetzt den Autornamen trägt, den man ihr damals fälschlich unterschob, schließt Kracht ganz bewusst den autofiktionalen Kosmos.“[46]
Die Fehllektüren fühlen sich allerdings allzu plausibel an, und sie werden befeuert von Krachts Autorinszenierungen. Air führt das einerseits konsequent fort, andererseits geben der Autor und sein Werk einen Hinweis nach dem anderen auf die Verweisverfahren zweiter Ordnung. Barnhill? Ein wie überall inszeniertes Reiseziel für eine bestimmte Touristengruppe, die sich 1000 Pfund die Woche und einen Jura© leisten kann? Ein einfaches Mahl aus rohem Fisch und Muscheln, angerichtet auf nacktem Stein? Das Gourmetangebot eines exklusiven Veranstalters. Air, der Roman mit dem einzigartigen Titel?
Was ist also der Zweck dieser Versuchsreihe, die die Leser:innen, Literaturkritiker:innen und Literaturwissenschaftler:innen immer wieder – schelmisch[47] – vorführt, dass es unmöglich ist, „in der von Kracht vorgefundenen ‚Welt‘ einen ‚echten Kern‘ freizulegen“?[48] Schelmisch deshalb, weil jeder Text dazu einlädt, den Verweisen zu folgen und so „festen Grund“[49] für eine plausible Deutung zu finden, um diesen Lektüren dann genau diese vermeintliche Grundlage zu entziehen. Faserland ist keine Autobiografie, trotz Salem und P2, Barbourjacke und Alexander. Und Paul ist sicher nicht „so etwas Ähnliches wie sein Alter Ego“, wie Sebastian Hammelehle im Spiegel vermutet und als Gründe aufzählt: „Wie Kracht ist Paul Schweizer; jetzt wohnt er auf einer schottischen Insel. Auch Kracht hat eine Beziehung zu Schottland“.[50] Dann wäre wohl auch Nägeli ein Alter Ego Krachts, denn schließlich hat er wie Kracht Japan bereist? Und der schweizerische Architekt aus Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten wohl auch, weil Kracht „eine Beziehung“ zu Ostafrika hat, wo der Architekt baut und stirbt? Air ist auch kein „Hilferuf“ oder ein „Abgesang auf die Popliteratur“[51]. Es hilft auch nicht, Krachts Statements, er sei wirklich auf der Insel Jura gewesen, die „tatsächlich die einsamste Insel der Inneren Hebriden“ sei, als Lektürehilfen zu verwenden und den Text mit biografischer Authentizität aufzuladen. Barnhill ist ein „Sehnsuchtsort“ (Kracht im NDR, 13.3.2025), für Paul, aber es ist eben zugleich ein Reiseziel, „dessen Reproduktionen über die ganze Welt verbreitet sind“[52]. Deshalb ist es ja überhaupt erst ein Sehnsuchtsort, weil Barnhill entsprechend inszeniert, valorisiert und vermarktet wird. Das Experiment, das Air mit seinen Leser:innen anstellt, ist gelungen. Und gelungen ist Kracht, wenn man den vielen Verweisen aufs Verweisen nicht folgen mag, ein wundervoller, schöner, poetischer Text.
Fußnoten
- Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, Air, https://www.dwds.de/wb/Air#2 (25.04.2025)
- Oliver Ruf, Christian Krachts New new Journalism. Selbst-Poetik und ästhetizistische Schreibstruktur, in: Johannes Birgfeld / Claude D. Conter (Hg.), Christian Kracht. Zu Leben und Werk, Köln 2009, S. 44–60, hier S. 49, S. 52.
- Christine Riniker, In Search of a Character. Christian Krachts Selbstinszenierungspraktiken im Autorenfoto, in: Susanne Komfort-Hein / Heinz Drügh (Hg.), Christian Krachts Ästhetik, Stuttgart 2019, S. 57–78, hier S. 60.
- Oliver Jahraus, Ästhetischer Fundamentalismus. Christian Krachts radikale Erzählexperimente, in: Brigfeld / Konnter (Hg.), Christian Kracht. Zu Leben und Werk, Köln 2009, S. 13–23, hier S. 13.
- Maria Kuberg, DJ Bobo in Ulan Bataar. Ein Weg aus dem Ganzen in Christian Krachts Ästhetik?, in: Komfort-Hein / Drügh (Hg.), Christian Krachts Ästhetik, Stuttgart 2019, S. 27–36.
- Adam Soboczynski, Weit hinter die Grenzen unserer Welt. Auf nach Indien. Ein paar Tage mit Christian Kracht über seinen neuen Roman ,Air' sprechen, in: ZEIT 10/2025.
- Ebd.
- Ingo Niermann, Die Erniedrigung im Werk und Leben Christian Krachts, in: Birgfeld / Conter (Hg.), Christian Kracht, Berlin 2018, S. 179–186, hier S. 182 f.
- Vgl. die Abbildungen in Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 116 f., S. 130 sowie Niels Werber, Formkrise und Kulturkritik. Karl Heinz Bohrer und Christian Kracht, in: Pop. Kultur und Kritik (2014), 5, S. 140–161 und Riniker, In Search of a Character, S. 57–78.
- Jörg Döring, Paratext Tristesse Royale, in: Alexandra Tacke / Björn Weyand (Hg.), Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne, Köln 2009, S. 178–198.
- Eckhard Schumacher, Omnipräsentes Verschwinden, in: Birgfeld / Conter (Hg.), Christian Kracht. Zu Leben und Werk, Köln 2009, S. 187–203, hier S. 190.
- Vgl. Christian Kracht im Gespräch mit Felicitas von Lovenberg: Der Mann mit den vielen Jacketts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.04.2015, S. 13: „Im zweiten Kapitel trägt das Ich Kiton; das Jackett wird mit Rotwein besudelt. Der Erzähler trinkt im Zug von Sylt nach Hamburg weiter. Als er in Hamburg den Zug verlässt und in ein Taxi steigt, trägt er aber ein Jackett von Davies & Sons, ohne sich umgezogen zu haben. Der Ich-Erzähler erwähnt später eigens seinen Koffer (eher klein, denn er geht als Bordgepäck mit ins Flugzeug), in dem sich ein anderes Jackett befinde, aber als er das anzieht, ist es weder von Kiton noch von Davies & Sons, sondern ein schottisches Fischgrätjackett ,von der Stange‘. Im Haus von Rollos Eltern am Bodensee holt das Ich völlig ungerührt ,meinen einreihigen nachtblauen Blazer‘ aus ,meinem Koffer‘, demselben Koffer, in dem sich aber nach Auskunft des Erzählers nur ein Jackett befindet. Es ist ein wahrer Zauberkoffer, aus dem sich der ständig mit Erbrochenem beschmierte, beschmutzte, besudelte Protagonist ein neues Jackett und ein frisches Hemd nach dem anderen zieht. In Zürich trägt er jedenfalls plötzlich ein ,Tweedjackett‘.“ – Kracht nimmt hier Bezug auf Niels Niels Werber, Krachts Pikareske. Faserland, neu gelesen, in: LILI. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (2014), 175, S. 119–129.
- Gavin Bell, Scotland: The road to Big Brother's house, in: The Telegraph, 12.7.2003.
- Ron Crossan, A tour of Orwell's Jura, where he wrote 1984, in: The Guardian, 8.6.2019.
- Bell, The road to Big Brother's house.
- Tilman Spreckelsen, Ausflug in die Schattenwelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.3.2025, S. 10.
- Leanne Walstow, Did you know you can rent the house where George Orwell wrote 1984?, in: House & Garden, 15.8.2018.
- Ronald Röttel, Ästhetik der Paratexte bei Christian Kracht. Zitate, Coverdesigns, Autorfiguren, in: Komfort-Hein / Drügh (Hg.), Christian Krachts Ästhetik, Stuttgart 2019, S. 45–55, hier S. 50.
- Walstow, Did you know you can rent the house where George Orwell wrote 1984?.
- Wikipedia, Barnhill, Jura, en.wikipedia.org/wiki/Barnhill,_Jura (25.04.2025)
- Roman Jakobson, Linguistik und Poetik (1960), in: Elmar Holenstein / Tarcisius Schelbert (Hg.), Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Berlin 1993, S. 83–121, hier S. 94.
- Moritz Baßler, Unter Helden, in: taz, 13.3.2025, https://taz.de/Neuer-Roman-Air-von-Christian-Kracht/!6071798/ (25.04.2025).
- Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017; Luc Boltanski / Arnauld Esquerre, Bereicherung. Eine Kritik der Ware, aus dem Fraunzösischen von Christine Pries, Berlin 2018.
- Ice Hotel, A frozen icon since 1989, https://www.icehotel.com/ (25.04.2025).
- Spreckelsen, Ausflug in die Schattenwelt.
- BBC News, The Scottish island where George Orwell created 1984, https://www.bbc.com/news/uk-scotland-43821334.amp (25.04.2025).
- Moritz Baßler, Populärer Realismus. Vom International Style des gegenwärtigen Erzählens, München 2022, hier S. 110.
- Baßler, Unter Helden.
- Baßler, Populärer Realismus, S. 111.
- Marvin Baudisch, Von allen Romanen schätz ich doch am meisten die interessanten. Ästhetik des Vorbehalts und Poetik des Interessanten in Christian Krachts Die Toten, in: Komfort-Hein / Drügh (Hg.), Christian Krachts Ästhetik, Stuttgart 2019, S. 149–163, hier S. 155.
- Stefan Theisen/ Markus Pössel, Wie viele Dimensionen hat die Welt?, Potsdam-Golm 2007.
- Green Mountain, SVG-Rennesøy, https://greenmountain.no/data-center/svg-rennesoy/ (25.04.2025): „SVG-Rennesøy is a unique Tier III certified mountain hall data center in a former high security NATO ammunition storage facility.“
- Vgl. den Videorundgang von der Security bis zu den Kavernen www.youtube.com/watch
- Blackthorn, Scottish Sea Salt Flakes, www.blackthornsalt.co.uk (25.04.2025).
- Orkney.com, Orkney Sourdough Co., www.orkney.com/listings/orkney-sourdough-co (25.04.2025).
- Tobias Rüther, Der größte Roman seit der Erfindung von Bofrost, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.3.2025.
- Schweizer Militärvelo, https://www.xn--schweizer-militrvelo-pzb.ch/ (25.04.2025).
- Knut Cordsen, Zwischen Fantasy und modernem Märchen, in: NDR, 13.3.2025.
- Matthias N. Lorenz / Christine Riniker, Störung und Entstörung in Christian Krachts und Eckhart Nickels Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal (2009/2012), in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, (2018), 3, S. 561–586, hier S. 572: Dies gelingt Lorenz und Riniker nur, weil sie der Schreibweise „Krakauer“ nachgehen, statt allein von einer Anspielung auf Kracauer auszugehen.
- Cordsen, Zwischen Fantasy und modernem Märchen.
- Vgl. etwa Caspar Battegay, Mediologie des Kontrafaktischen in Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, in: Komfort-Hein / Drügh (Hg.), Christian Krachts Ästhetik, Stuttgart 2019, S. 117–126.
- Wikipedia, Air (video game), en.wikipedia.org/wiki/Air_(video_game) (25.04.2025).
- Joachim Bessing (Hg.), Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre, Berlin 1999, hier S. 70.
- Jahraus, Ästhetischer Fundamentalismus. Christian Krachts radikale Erzählexperimente, hier: S. 18.
- Röttel, Ästhetik der Paratexte bei Christian Kracht, S. 50.
- Baßler, Populärer Realismus, S. 284.
- Vgl. Niels Penke, Pikaros Rückkehr. Rezension zu: Christian Kracht, Eurotrash, Köln 2021, in: Soziopolis, 14.4.2021.
- Ruf, Christian Krachts New new Journalism, S. 52.
- Niermann, Die Erniedrigung im Werk und Leben Christian Krachts, S. 182.
- Sebastian Hammelehle, Die Erinnerung als postume Cloud, in: Der Spiegel, 12/2025.
- Jan Küveler, Das einzige Mittel, dem Kapitalismus zu entkommen, in: Welt am Sonntag, 15.3.2025.
- Spreckelsen, Ausflug in die Schattenwelt.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.
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