Daniel Bultmann | Rezension |

Bruchlinien des Sinns

Rezension zu „Tradition und Reproduktion“ und "Habitus und Praxis“ von Pierre Bourdieu

Im Anschluss an sein Studium an der École normale supérieure wurde Pierre Bourdieu zum Wehrdienst eingezogen, den er von 1955 bis 1957 im damals noch unter französischer Kolonialherrschaft stehenden Algerien ableistete. Während dieser Zeit, die er größtenteils beim Nachrichten- und Dokumentationsdienst des französischen Generalgouvernements in Algier verbrachte, begann der junge Hochschulabsolvent sich für die Folgen des kolonialen „Zusammenstoßes der Zivilisationen“ (S. 7) zwischen Tradition und Moderne zu interessieren. Die Auseinandersetzung mit der kolonialen Erfahrung ließ Bourdieu auch nach dem Ende seiner Militärzeit nicht los. Er blieb in Algerien und setzte seine als Autodidakt begonnenen ethnografischen und statistischen Studien als Dozent an der Universität von Algier fort. Im Mittelpunkt seines Interesses stand dabei die Perspektive der Kolonisierten, insbesondere die der Berber in der Kabylei. Bourdieu zufolge wurden die algerischen Bauern von den Kolonisatoren vor eine scheinbar klare Wahl gestellt: Entweder sie bleiben ihrer rückständigen, irrationalen und für die Entwicklung des Landes hinderlichen Kultur des zyklischen Wirtschaftens, des Gabentausches, des Ehrgefühls und der Clanstrukturen verhaftet. Oder sie passen sich dem modernen kapitalistischen Fortschritt an und ordnen ihr Wirtschaften den Maximen des Profits, des Warentausches, der Gewinnsteigerung, der Langzeitplanung und der effizienten Buchführung für individuelle Haushalte auf der Basis von Privateigentum unter. Die Herausforderung der bestehenden Ordnung durch die mit dem Kolonialismus einher gehende kapitalistische Wirtschaftsweise macht dabei selbst vor der Zeit nicht halt: Denn die scheinbare Wahl zwischen der ,rückständigen‘ und der ,fortschrittlichen‘ Wirtschaftsweise impliziert die Entscheidung zwischen der zyklischen und der linearen, auf eine ewige Zukunft und ein ewiges Mehr hin ausgerichteten Zeitlichkeit. Wo zuvor das Leben als in eine natürliche und – in diesem Fall – kollektivistisch-zyklische agrarische Ordnung eingebettet wahrgenommen wurde, erscheint nun alles nur noch kontingent. Der vormals geordnete Lebensvollzug präsentiert sich als eine endlose Folge von Alternativen, als eine stete Frage der Wahl: „Faktisch bringt der Europäer [in der kolonialen Situation, D. B.] sein Universum mit sich; […] in all seinen Verhaltensweisen, in jedem seiner Worte repräsentiert er sein ganzes Wertesystem und stellt damit die Anhänger der traditionellen Zivilisation vor eine Unzahl an Alternativen; er lässt somit als kontingent erscheinen, was notwendig erschien, als Gegenstand einer Wahl, was ,naturgemäß‘ wirkte“ (S. 13). Es ist eine vergiftete Scheinwahl oder – um es mit Bourdieu selbst zu sagen – ein Akt der symbolischen Gewalt, die den Unterworfenen die Schuld an ihrer eigenen Unterwerfung aufbürdet. Ihre Unfähigkeit sich anzupassen und der Ausschluss wird als persönliche Wahl, im Mindesten aber als Versagen angesichts der Chancen und Forderungen der Moderne markiert. Natürlich – und das zu zeigen, ist letztlich ein Hauptverdienst des Bourdieu’schen Habituskonzeptes – haben die Bauern keine wirkliche Wahl abseits einer symbolischen Unterordnung. Doch die Kolonialmacht entreißt die Menschen nicht nur ihren vertrauten Strukturen. Sie macht aus Clans nicht nur Haushalte unter dem Diktat eines monetären ,Auskommens‘ und aus den Mitgliedern von Kollektiven rational mit Anderen auf Märkten um Gewinn konkurrierende Individuen. Vielmehr lässt sie die Marginalisierung, den Ausschluss, den Verlust der alten Ordnung und die Gewalt der Transformation als einen geradezu natürlichen Vorgang erscheinen, als einen notwendigen Prozess der Akkulturation an eine sich zwingend durchsetzende ,Moderne‘.

Pierre Bourdieus unlängst in zwei Bänden erschienene Schriften zur kollektiven Anthropologie versammeln Beiträge und Auszüge aus dem Frühwerk des französischen Soziologen. Inhaltlich kreisen die Arbeiten, die überwiegend bereits in früheren Publikationen auf Deutsch erschienenen sind, um die Bruchlinien des Sinns zwischen der lokalen soziokulturellen Ordnung und der Logik des kapitalistischen Systems, das sich als ,Moderne‘ im Kolonialismus Bahn bricht. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Gewalt kolonial-kapitalistischer Transformation entwickelt Bourdieu die Grundzüge von Denkfiguren wie Habitus, Reproduktion und Praxis, die in seinen späteren Werken eine zentrale Rolle spielen sollen. Es ist noch nicht alles da und etliches von dem, was er später expliziert, findet sich in diesem frühen Stadium nur angedeutet, aber dennoch sind hier die Anfänge, auf die Bourdieu im weiteren Verlauf seiner soziologischen Forschung immer wieder zurückkommt und die er im Verlauf seiner Theoriebildung fortschreibt und weiterentwickelt. Zwar lassen die beiden Bände die dezidiert politischen Beiträge der frühen Jahre aus, um stattdessen Arbeiten und Auszügen den Vorzug zu geben, „die sich auf der einen Seite mit der Logik des Arbeitens und Wirtschaftens in traditionellen Gesellschaften beschäftigen, auf der anderen Seite dort einzelne Gruppen – Bauern, Arbeiter, Subproletarier – im Zeichen tiefgreifender Transformationen der algerischen Gesellschaft zu charakterisieren versuchen“ (S. 421).[1] Dennoch wird deutlich, dass auch Bourdieus theoretische und empirische Interventionen als Instrumente der Kritik stets politisch sind. Beides – wissenschaftliches Erkenntnisinteresse und politische Wirkungsabsicht – lassen sich nicht voneinander trennen, ohne den Texten Gewalt anzutun. Das betonen letztlich auch die Herausgeber Franz Schultheis und Stephan Egger selbst.

Der erste Band mit dem Titel Tradition und Reproduktion widmet sich nicht nur dem »praktischen Sinn« der traditionellen Wirtschaftsweise und der Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung, die von der „Kolonialität der Macht“[2] erodiert, zermürbt und symbolisch entwertet wird. Sie versammelt neben Auszügen aus den Algerischen Skizzen[3] auch Schnipsel aus der Studie Junggesellenball,[4] für die Bourdieu zusammen mit seinem algerischen Assistenten Abdelmalek Sayad als ethnologischer Beobachter in seine Heimat, das Béarn, zurückkehrte, um die dort erodierenden Modelle des „Grundbesitzindividualismus“, der Heiratsregeln und der Tauschverhältnisse sowie die Regeln der Reproduktion gesellschaftlicher Ordnungen nachzuzeichnen. Dabei wandte Bourdieu seine Erfahrungen mit den Bruchlinien des Sinns in der algerischen Fremde auf die französische Heimat an – so wie er die Erfahrungen der französischen Heimat fortwährend bei sich hatte, als er in der algerischen Fremde war. So entwickelt sich sein Denken in einem ständigen »doppelten Bruch« als spiralförmiger Tanz zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Bourdieu zeigt, dass es keine natürliche Ordnung gibt, keine natürliche Rationalität der Ökonomie und des Wirtschaftens, sondern immer nur einen in symbolischen Ordnungen unterschiedlicher „Soziokulturen“ inkorporierten „praktischen Sinn“.[5] Jede Soziokultur, ganz gleich, ob vorkolonial, kolonial oder kapitalistisch, bringt – so ließen sich seine Überlegungen vielleicht umformulieren – ihre eigene „doxa“ oder „soziale Ontologie“ mit sich. Und erst in ihrem Rahmen erschließt sich, was Gesellschaft ist und bedeutet, wie sie funktioniert, nach welchen Prinzipien, nach welcher ,Logik‘ gehandelt, gewirtschaftet und geheiratet wird, wer dazu gehört und wer nicht, wer oben steht, wer unten – und warum.[6] Heiratsstrategien, Wirtschaftsweisen, Tauschsysteme und Handlungsrationalitäten machen als Verkörperung der jeweiligen sozialen Ontologie praktischen Sinn. Bourdieu spürt den Bruchlinien dieses Sinns in den soziokulturellen Zwischenräumen nach, um die Muster gesellschaftlicher Reproduktion freizulegen. Erst die Gewalt, die nötig ist, um die Anpassung des Habitus an sich ändernde Verhältnisse zu erzwingen, legt dessen Existenz und Beharrlichkeit und damit auch die in ihm inkorporierten und zur zweiten Natur gewordenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata und deren praktischen Sinn frei. Der praktische Sinn als inkorporierte Struktur bleibt erhalten und bildet die Grundlage für die Akkulturation neuer Soziokulturen, die aber in der Regel nicht einfach und konfliktfrei verläuft.

Der zweite Band mit dem Titel Habitus und Praxis versammelt vor allem verschiedene Texte aus den Jahren 1965 bis 1976, von denen die meisten bereits im Entwurf einer Theorie der Praxis auf Deutsch erschienen sind.[7] Der Band präsentiert in erster Linie Texte, in denen Bourdieu die Begriffskonstruktion des „Habitus“, die sonst in Monografien am Material selbst entwickelt wird, gesondert entfaltet. Bourdieu begegnet einem hier zunächst als aufmerksamer Leser Max Webers, der versucht, die Bedingungen der Möglichkeit kapitalistischer Rationalität als Erlernen eines „Ethos“ zu fassen. Anhand der versammelten Aufsätze lässt sich nachvollziehen, wie Bourdieu sich vom Strukturalismus seiner Zeit abhebt und sich weg von den starren Regeln eines Claude Lévi-Strauss hin zu einer von der Struktur geprägten, diese aber auch ihrerseits immer neu und anders strukturierenden Praxis bewegt; einer Praxis, in der es keine absolute Position, keine reine Struktur gibt, keinen vollkommenen Determinismus. Das wird in diesen Texten vielleicht noch deutlicher als in den populären Auslegungen der scheinbar so fixierten Strukturen des sozialen Raumes in seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede.[8] Anhand der Texte sieht man, wie Bourdieu schrittweise den Habitus als über die Praxis vermittelte und inkorporierte soziale Schemata und als unhinterfragte Selbstverständlichkeiten beziehungsweise als praktische Dispositionen der gesellschaftlichen Stellung ausarbeitet. Diese existieren nicht als starres Regelwerk, sondern als sich nur im Vollzug als modus operatum und modus operandi realisierende „generative Grammatik“ (S. 394). Das zeigt sich besonders anschaulich in Bourdieus Nachwort zu Erwin Panofskys Gothic Architecture and Scholasticism, das den „Regeln der Grammatik“ des scholastischen Habitus in der gotischen Architektur nachgeht (S. 384).

Ein zentraler Aspekt des praktischen Sinns liegt dabei für Bourdieu stets in der „Somatisierung der Herrschaftsverhältnisse“ (S. 305), bei der soziale Ungleichheiten als in der „Natur der Dinge“ (S. 298) liegend gedeutet werden. Diese wichtige Perspektive auf das Habitus-Konzept wurde von Bourdieu vor allem in seinen Studien zu Maskulinität und Herrschaft ausgearbeitet. Im zweiten Band der Schriften zur kollektiven Anthropologie ist sie in Form des Aufsatzes „Die männliche Herrschaft“ vertreten, der im Original zuerst 1990 in den Actes de la Recherche en Sciences Sociales erschien. Habitus ist Praxis. Er ist dabei indes immer auch eine Inkorporierung gesellschaftlich erzeugter Machtstrukturen, die von den Akteuren als Ausdruck einer vermeintlich natürlichen Ordnung der Dinge verkannt werden. Die Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern werden nicht nur über eine Naturalisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit legitimiert, sondern zudem in die Körper eingeschrieben und so zusätzlich als Passung zwischen symbolischen Hierarchien und Verkörperung fortgeschrieben und verfestigt. Bourdieu zeigt das unter anderem am Beispiel der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in der Kabylei. Dort werden die Männer nicht nur mit dem Offiziellen, dem Draußen, sondern auch mit dem Hohen und Aufrechten assoziiert, weswegen sie auf die Jagd gehen und Früchte von den Bäumen pflücken, während die Frauen als Gebeugte und Schwache die auf dem Boden liegenden Oliven sammeln und andere ,niedere‘ Tätigkeiten verrichten. Die gesellschaftliche Konstruktion geschlechtlicher Dichotomie findet ihre Entsprechung in einer dichotomen Praxis, die nicht nur die Körpererfahrung prägt, sondern letztlich die Körper selbst buchstäblich formt.

Die von den Herausgebern zusammengestellte Auswahl versammelt Texte, die sich durch Bourdieus intensive Begriffsarbeit auszeichnen und die Sattelzeiten seines frühen Denkens markieren. Zugleich macht ihre Auswahl aber auch deutlich, dass Begriffe, wie es Bourdieu im letzten Text „Zur Genese der Begriffe Habitus und Feld“ selbst betont, nur im Zusammengang mit einer »dichten Beschreibung« des Forschungsmaterials existieren; sie ergeben nur Sinn in der »wissenschaftlichen Praxis« (S. 393). Letztlich liefern die beiden Bände der Schriften zur kollektiven Anthropologie für Expert*innen nichts Neues. Sie geben einen verdichteten Überblick über die Genese zentraler Begriffe und Theoriebausteine, ohne dabei das Werk allzu sehr zu zerstückeln oder die wissenschaftliche Praxis auszublenden. Die komprimierte Darstellung der Theorieentwicklung eines der nach wie vor bedeutendsten Soziologen ist dabei sicherlich nicht nur für Leser*innen interessant, die einen Einstieg in Bourdieus Werk suchen, sondern auch für Fortgeschrittene oder jene, die vor allem mit den späteren Hauptwerken und der Sozialstrukturanalyse vertraut sind. Der didaktische Wert der Bände geht denn auch über den einer bloß einführenden Anthologie hinaus. Die beiden Herausgeber präsentieren mit den beiden Bänden eine gelungene Auswahl bislang verstreuter Texte, die in ihrer Zusammenschau eine ebenso verdichtete wie anschauliche Darstellung der in ständiger und engmaschiger Auseinandersetzung mit dem Material entstandenen Begriffs- und Theorieentwicklung bieten.

  1. So Mitherausgeber Stephan Egger in den „Editorischen Anmerkungen“ zum ersten der beiden Bände.
  2. Siehe Anibal Quijano, Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America, in: Nepantla: Views from the South 1 (2000), 3, S. 533–580.
  3. Vgl. Pierre Bourdieu, Algerische Skizzen, hrsg. und mit einer Einl. von Tassadit Yacine, übers. von Andreas Pfeuffer et al., Berlin 2010.
  4. Vgl. Pierre Bourdieu, Junggesellenball. Studien zum Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft, übers. von Eva Kessler und Daniela Böhmler, Konstanz 2008.
  5. Siehe Surinder S. Jodhka / Boike Rehbein / Jessé Souza, Inequality in Capitalist Societies, New York 2017.
  6. Vgl. Benjamin Baumann / Daniel Bultmann (Hg.), Social Ontology, Sociocultures, and Inequality in the Global South, New York 2020.
  7. Vgl. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übers. von Cordula Pialoux und Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 1976. Andere der in Habitus und Praxis versammelten Texte finden sich zuerst in Pierre Bourdieu, Der Tote packt den Lebenden. Schriften zu Politik und Kultur 2, übers. von Jürgen Bolder et al., Hamburg 1997; sowie in ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, übers. von Wolf H. Fietkau, Frankfurt am Main 1970.
  8. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt am Main 1982.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Soziale Ungleichheit Anthropologie / Ethnologie Geschichte der Sozialwissenschaften Interaktion Moderne / Postmoderne

Daniel Bultmann

Dr. Daniel Bultmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Er forscht unter anderem zu Fragen der Politischen Soziologie, der Wissens- und Körpersoziologie, der Sozialstrukturanalyse sowie der Konflikt- und Gewaltforschung. Den regionalen Schwerpunkt seiner Arbeiten bildet Südostasien.

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