Anna Daniel | Veranstaltungsbericht | 18.04.2023
Eine erste Verhältnisbestimmung
Bericht von der Tagung „Postkoloniale Perspektivierungen der Kultursoziologie“ vom 23. bis 24. März 2023 an der Universität Osnabrück
Am 23. und 24. März 2023 fand in Osnabrück die Tagung Postkoloniale Perspektivierungen der Kultursoziologie statt, ausgerichtet von der Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Es war die erste Tagung der DGS, die sich dezidiert einer postkolonialen Perspektive verschrieben hatte, wie die Veranstalter:innen MARIUS MEINHOF (Bielefeld), LARS GERTENBACH (Kassel) und HEIKE DELITZ (Regensburg) zu Beginn betonten, bevor sie mögliche Linien einer solchen Verhältnisbestimmung konturierten: Neben der postkolonialen Kritik und Erweiterung des grundbegrifflichen und analytischen Instrumentariums der Soziologie hoben sie die vielfältigen Überschneidungen der bearbeiteten Themenfelder (Moderne, soziale Ungleichheit, Identitäts- und Differenzproduktionen etc.) hervor. Darüber hinaus verwiesen sie darauf, dass die Kultursoziologie Debatten um die Restitution kolonialer Kulturgüter nicht ignorieren könne und dürfe.
Eine Ahnung davon, warum es in der Soziologie allgemein und auch in der Sektion Kultursoziologie so lange gedauert hatte, bis die international seit vielen Jahrzehnten sehr lebendig geführte Diskussion um Postkolonialismus Gegenstand einer Tagung wurde, konnte man durch den Vortrag von WOLFGANG ESSBACH, langjähriges Sektionsmitglied der Kultursoziologie, gewinnen: Er hielt es auch anlässlich eines solchen Tagungsthemas ganz offensichtlich nicht für notwendig, die Schriften der Wissenschaftler:innen, die einen postkolonialen Forschungsansatz vertreten, zur Kenntnis zu nehmen.
Wie instruktiv und bereichernd postkoloniale Ansätze sein können und welch vielfältigen Anknüpfungspunkte die Debatten um Postkolonialismus liefern, davon zeugten dann aber die anderen 14 Vorträge der Tagung. Mit MANUELA BOATCĂ (Freiburg), SERGIO COSTA (Berlin) und JENS KASTNER (Wien) kamen hier zunächst drei Wissenschaftler:innen zu Wort, die sich seit vielen Jahren für eine post- und dekoloniale Perspektive stark machen: Manuela Boatcă zeigte auf – unter anderem inspiriert durch Laura Doyles Buch Inter-imperiality (2020) –, wie hilfreich der multidimensional angelegte Ansatz der Kreolisierung sein kann, um die europäische Moderneerzählung und gängige sozialwissenschaftliche Analysemethoden zu dekolonialisieren. Im Zuge ihrer Untersuchung der historisch imperial umkämpften Region Siebenbürgen traten nicht nur die bestehenden Konfliktfelder und Überlagerungen von Machtverhältnissen und Ungleichheiten zutage. Solche Regionen und ihre Geschichten bekommen neue Relevanz, weil ihre globalgeschichtlichen Verflechtungen im Kontext von Interimperalität, Kolonialität und Moderne erforscht werden.[1]
Sergio Costa befasste sich in seinem Vortrag mit den komplexen Zusammenhängen von sozialer Ungleichheit und den (kulturellen, religiösen, ethnischen etc.) Produktionen von Differenz. In Abgrenzung zu der von Axel Honneth und Nancy Fraser geführten Debatte um Anerkennung oder Umverteilung arbeitete er heraus, dass Differenzen immer erst diskursiv erzeugt werden, weshalb man danach fragen sollte, wann sie politisch relevant werden. Er stützte sich dabei auf die Arbeiten Homi Bhabhas und Stuart Halls, die mithilfe des Konzepts der Artikulation einen Analyseansatz entwickelt haben, der imstande ist, die politische Eingebundenheit der Differenzproduktionen abzubilden. Dadurch könne man Differenzen und Ungleichheiten in Beziehung zueinander setzen.
Die dekolonialen Theorien aus Lateinamerika waren Gegenstand des Vortrags von Jens Kastner, der zudem auch Anlass bot, über die Unterschiede und Reibungsflächen zwischen post- und dekolonialer Theorie zu sprechen. Letztere sorgen, so war man sich in der anschließenden Diskussion einig, mit ihrer Konzentration auf die Kolonialisierung Amerikas für eine wichtige Fokusverschiebung. Ihr Interessensschwerpunkt lag zunächst sehr viel stärker auf den Zusammenhängen von Kolonialismus und Kapitalismus; die Hinwendung zu epistemologischen Fragestellungen sei in den dekolonialen Ansätzen zudem mit einer generellen Infragestellung der akademischen Wissensproduktion bei gleichzeitiger Betonung des außerakademischen Praxisbezugs einhergegangen. Genau dies kritisierte Kastner in seinem Beitrag: Schnell würden Universitäten als Orte westlichen Denkens verallgemeinert, dabei würde übersehen, dass diese stets auch Orte der Auseinandersetzung seien, in denen der Praxisbezug immer wieder eine wichtige Rolle gespielt habe (etwa bei Antonio Gramsci oder Pierre Bourdieu) – und immer noch spiele.
PHILIPP ALTMANN (Quito) verdeutlichte in seiner Auseinandersetzung mit der frühen Soziologie in Ecuador, dass sich bereits in der Rezeption und eigenständigen Anwendung der europäischen Klassiker ein „epistemischer Ungehorsam“ (Walter Mignolo) zeigen kann: Gemäß lokaler Problemstellungen beziehen sich ecuadorianische Soziolog:innen nämlich thematisch sehr eigenwillig und mit anderen (personellen) Schwerpunkten auf die europäischen Klassiker – Gabriel Tarde wird hier etwa viel häufiger rezipiert als Émile Durkheim.
Am Ende des ersten Veranstaltungstags fand eine Podiumsdiskussion statt, bei der sich Manuela Boatcă, Sergio Costa und Wolfgang Eßbach über ihre jeweiligen Verständnisse von Kultur austauschten; Heike Delitz und Lars Gertenbach führten durch die Veranstaltung. Während Wolfgang Eßbach die regionalen und sprachlichen Unterschiede sowie die Ausschlussmechanismen von Kultur hervorhob, betonte Sergio Costa den Aushandlungscharakter kultureller Prozesse. Costa konzentrierte sich damit auf die hybriden kulturellen Dynamiken und problematisierte ein Kulturverständnis, das einem Denken in festen Entitäten oder einem bestimmten kulturellen Repertoire verhaftet bleibt. Manuela Boatcă sprach über den Mehrwert der im lateinamerikanischen Diskurs entwickelten Konzepte der Transkulturation, Interkulturalität und Kreolisierung. Das ihnen zugrunde liegende Kulturverständnis denke Verflechtungen und Überlappungen konsequent mit, sodass essenzialistische Vorstellungen von Kultur, Religion oder Nation überwunden werden könnten.
Daraufhin versicherten verschiedene Vertreter:innen der Kultursoziologie, dass sich auch die Sektion – nicht zuletzt aufgrund poststrukturalistischer Einflüsse – beizeiten von einem essenzialistischen Kulturverständnis verabschiedet habe. Allerdings seien in der kultursoziologischen Auseinandersetzung bisher postkoloniale Aspekte kaum berücksichtigt und die Untersuchungsgegenstände nur bedingt globalgeschichtlich eingebettet worden. Insofern biete die postkoloniale Perspektive viele fruchtbare Anknüpfungspunkte. Insbesondere die dekolonialen Ansätze könnten umgekehrt vom begrifflichen und methodologischen Instrumentarium einer dezidiert global ausgerichteten Sozialwissenschaft profitieren. Die Kultursoziologie stelle ebenfalls interessante Konzepte für postkoloniale Analysen bereit, wie Boatcă mit Verweis auf das von Marius Meinhof im Rahmen seiner Forschungen zu China entwickelte Konzept der kolonialen Zeitlichkeit betonte.[2]
Wie gewinnbringend die Verbindung von postkolonialer Perspektive und Kultursoziologie sein kann, machten insbesondere die Vorträge von PHILIPP DEGENS mit LEO ROEPERT (beide Hamburg) und SOPHIA PRINZ (Zürich) deutlich. Degens und Roepert befassten sich in ihrem Beitrag mit Eigentumsdiskursen und rassistischen Zuschreibungen in den englischen Kolonien Nordamerikas im 17. und 18. Jahrhundert. Sie untersuchten die Wechselwirkungen in der Genese von bürgerlichen Eigentumsformen und rassifizierten Kollektividentitäten an den Beispielen der Landnahme und der Sklaverei.
Eine postkolonial perspektivierte Praxistheorie stellt außerdem interessante Einsichten für das Feld des Designs und der Gestaltung bereit – dies verdeutlichte Sophia Prinz von der Züricher Hochschule der Künste in ihrem Beitrag „Alternative Modernismen“. Gerade für ihre Arbeit als Kuratorin biete eine solche Perspektive die Möglichkeit, zum einen Alltagspraktiken stärker in den Fokus zu rücken, zum anderen nicht mehr kulturvergleichend vorzugehen. Vielmehr seien die transkulturellen Relationen und kolonialen Verflechtungen herauszuarbeiten, wie Prinz unter anderem anhand der Geschichte des Kautschuks und seiner Bedeutung für die Herstellung vielfältiger Alltagsprodukte veranschaulichte. Im Rekurs auf postkoloniale Studien und die Arbeiten von Lina Bo Bardi und Victor Papanek trat Prinz dafür ein, sich kritisch mit den praktischen Wirkungen von Design und Gestaltung auseinanderzusetzen.
Einen weiteren thematischen Schwerpunkt, den insbesondere ESTELA SCHINDEL (Frankfurt/Oder) und Heike Delitz in ihren Vorträgen vertieften, bildete die dekoloniale Kritik am Anthropozän beziehungsweise an einer anthropozentrischen Ausrichtung der (Kultur-)Soziologie. Estela Schindel beschäftigte sich mit dekolonialen Epistemologien, wie denen von Silvia Rivera Cusicanqui und Eduardo Viveiros de Castro. Sie stellen insofern Alternativen zum Anthropozän dar, als dass sie materielle Entitäten wie Sterne, aber auch Pflanzen, Tiere und Flüsse konsequent miteinbeziehen und insbesondere auf die sozialen Beziehungen zwischen Natur und Kultur abstellen. Eine solche Epistemologie ermögliche es, beispielsweise Flüsse als Rechtssubjekte anzuerkennen und dadurch eventuell Antworten auf die vielfältigen Krisen des Anthropozäns zu finden.
Heike Delitz’ Auseinandersetzung war von der Frage geleitet, inwiefern der ontological turn in der Anthropologie eine mögliche Alternative zum problematisch gewordenen Kulturbegriff bereitstellt. Auch sie setzt sich dabei unter anderem mit den Arbeiten Eduardo Viveiros de Castro auseinander. Er mache sich – gerade auch vor dem Hintergrund der fragwürdigen Trennung von Natur und Kultur – für eine globale Anthropologie stark, die dem Anderen auf Augenhöhe begegne. De Castro gehe somit von einer Vielzahl unterschiedlicher, aber prinzipiell gleichwertiger Ontologien aus. In der anschließenden Diskussion war man sich jedoch uneins hinsichtlich der Frage, inwiefern es einer solchen Perspektive gelänge, Essenzialismen zu vermeiden.
Ein weiterer Diskussionsschwerpunkt war die postkoloniale Herausforderung des soziologischen Kanons: ALEXANDER STINGL (Galway) und Lars Gertenbach machten in ihren Vorträgen deutlich, dass postkoloniale Kanonkritik nicht allein aus der kritischen Relektüre der Klassiker bestehen sollte, sondern wiederum auf sehr vielfältige Weise betrieben werden kann. Stingl verwies auf die Möglichkeit, den Kanon zu provinzialisieren und die bisher vernachlässigten Stimmen gezielt darin einzuschreiben. Zugleich sei die eigene Standortgebundenheit und deren Bedeutung für die Lehre, aber auch die eigene Verantwortung in Prozessen der Wissensvermittlung kritisch zu reflektieren. Er plädierte dafür, eine postkoloniale Perspektive nicht einfach in den Kanon aufzunehmen, sondern auf unterschiedlichen Ebenen mit ihr in Austausch zu treten, um langfristig „im und mit dem Kanon (un-)ordentlich Ärger zu machen“.
Lars Gertenbach setzte sich in seinem Vortrag exemplarisch mit den „kolonialen Anfangsgründen“ der Soziologie Pierre Bourdieus und Bruno Latours auseinander und zeigte auf, wie nachhaltig ihr Schaffen von ihren Aufenthalten in den französischen Kolonien geprägt war, diese jedoch lange nicht als explizit koloniale Erfahrungsräume galten: Während die Bedeutung von Bourdieus Feldforschungen in Algerien zwar werkgeschichtlich anerkannt wird, ist der koloniale Kontext in dem diese stattfanden nicht nur von Bourdieu selbst, sondern auch in der Rezeption bisher kaum reflektiert worden. Dass Latour während seines Militärdienstes in Abidjan (Elfenbeinküste) seine erste ethnografische Studie durchführte und sich hierbei bereits gezielt der materiellen Verfasstheit des Untersuchungsfeldes zuwandte, gerade um die rassistischen Diskurse der Kolonialmächte nicht zu reproduzieren, nahm man in der Auseinandersetzung mit Latour bisher kaum zur Kenntnis, wie Gertenbach durchaus selbstkritisch anmerkte.
In der anschließenden (Abschluss-)Diskussion einigte man sich darauf, dass man sich bezüglich der (post-)kolonialen Kontextualisierung der Soziologie nicht nur mit den kolonialen Räumen außerhalb Europas auseinandersetzen sollte. Weiterhin stand die Frage im Zentrum, wie eine postkoloniale Perspektive die eigene soziologische Arbeit auch noch über die genannten Beispiele, Dimensionen und Vorschläge hinaus herausfordern und bereichern kann. Post- und dekoloniale Ansätze halten offensichtlich weiteres Potenzial zur Erweiterung des kultursoziologischen Horizonts bereit. Es wurden jedoch auch kritisch angemerkt, dass durch die Hinwendung zu neuen Materialismen klassisch materialistische Fragestellungen im postkolonialen Diskurs der letzten Jahre vernachlässigt worden seien. Auch diesbezüglich ließe sich der Austausch vertiefen. In diesem Sinne wäre es sicherlich sehr gewinnbringend, die Auseinandersetzung an anderer Stelle, aber in ebenso konstruktiver Weise fortzusetzen.
Fußnoten
- Sie bezieht sich hierbei auf das gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin Anca Parvulescu veröffentlichte Buch: Anca Parvulescu / Manuela Boatcă, Creolizing the Modern. Transylvania across Empires, Ihaca, NJ 2022.
- Marius Meinhof, Die Kolonialität der Moderne. Koloniale Zeitlichkeit und die Internalisierung der Idee der ‚Rückständigkeit‘ in China, in: Zeitschrift für Soziologie 50 (2021), 1, S. 26–41.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Henriette Liebhart.
Kategorien: Epistemologien Geschichte der Sozialwissenschaften Kolonialismus / Postkolonialismus Kultur Moderne / Postmoderne Soziale Ungleichheit Universität
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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