Marc Ortmann | Rezension | 01.10.2024
Literarische und soziologische Reflexionen
Rezension zu „Une conversation“ von Annie Ernaux und Rose-Marie Lagrave
Die Schriftstellerin Annie Ernaux ist nicht nur bei Literaturinteressierten sowie im Feuilleton bekannt, und dies auch nicht erst, seitdem sie 2022 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat. Schon seit längerer Zeit gehört sie ebenso zum akademischen Kanon, insbesondere eine Disziplin setzt sich mit ihr intensiv auseinander: die Soziologie. Die Publikation Une conversation, ein Gespräch zwischen Ernaux und der französischen Soziologin Rose-Marie Lagrave, bietet interessante Einblicke in die Leben der beiden, bildet ihre biografischen Reflexionen ab und beinhaltet eine komprimierte Zusammenstellung der Arbeiten Ernaux’ und Lagraves.
Dabei dreht sich die Unterhaltung der beiden Autorinnen immer wieder um die zwischen ihnen bestehenden Ähnlichkeiten und Unterschiede, um ihre soziale Herkunft und die jeweiligen Lebenswege, um feministische Kämpfe, intellektuelle Orientierungen und um die jeweilige Beschäftigung mit dem Alter. Bei all diesen Themen stehen Annie Ernaux und Rose-Marie Lagrave auch stellvertretend für die Felder der Soziologie und Literatur sowie deren Schnittmenge. Das charmante, kollegiale und bisweilen intime Gespräch geht nicht zuletzt um die Grenzen zwischen Literatur und Soziologie sowie um (literarisches/soziologisches) Schreiben über das Soziale. Wer mit den Arbeiten Ernaux’ und Lagraves vertraut ist, bekommt nicht unbedingt neue Einsichten vermittelt. Für einen Einstieg in die genannten Themen und für den Versuch, das eigene Leben in ähnlicher Weise zu analysieren, bietet sich Une conversation allerdings wunderbar an.
Im Rahmen der CIERA Juniorkonferenz „Machtverhältnisse in der Literatur. Manifestationen und Inszenierungen von Stigmatisierungs-, Herrschafts- und Widerstandsformen im literarischen Bereich“[1] luden die Organisatorinnen Sarah Carlotta Hechler, Claire Mélot und Claire Tomasella Ernaux und Lagrave 2021 zu einem Podiumsgespräch ein,[2] damit sie aus feministischer Perspektive über ihre Erfahrungen mit Klassenübergängen berichten. Im Anschluss initiierte die EHESS-Paris 2022 das Zwiegespräch, das in Une conversation abgedruckt ist. Es ist gerahmt von einer Einführung der Herausgeberinnen Hechler, Mélot und Tomasella (S. 7–28) und einem Nachwort von Paul Pasquali (S. 115–136). Laut den Herausgeberinnen ist Une conversation das Produkt einer kollektiven Arbeit (S. 31), in deren Zentrum die gegenseitige Anerkennung und Freundschaft Ernaux’ und Lagraves stehen. Im Folgenden werde ich das Gespräch anhand von vier Aspekten vorstellen.
Kampf und Emanzipation
Sowohl Ernaux, Jahrgang 1940, als auch Lagrave, Jahrgang 1944, sind hauptsächlich in der Nachkriegszeit aufgewachsen und sozialisiert worden. Beide stammen aus einer ländlichen Gegend der Normandie; zwischen ihrer sozialen Herkunft und ihrer heutigen Position besteht eine große Differenz. Ernaux wuchs als Einzelkind auf, die Eltern betrieben ein kleines Café und Lebensmittelgeschäft in Yvetot. Lagrave dagegen war Teil einer Großfamilie, sie hat zehn Geschwister und wurde in einem kleinen Dorf im Département Calvados groß. Beide entwickelten bereits im Laufe ihrer Kindheit ein großes Interesse fürs Lesen und Schreiben, beide erfuhren Literatur, etwa von Simone de Beauvoir oder Virginia Woolf, als Befreiung: eine Befreiung von den Einschränkungen durch die eigene Klassenzugehörigkeit, dazu eine andauernde Emanzipation von unterschiedlichen Formen der männlichen Herrschaft. So führt Ernaux in Bezugmit Verweis auf Lagraves Arbeiten aus:
„Man kann nicht von einem universellen Feminismus sprechen, wenn man den feministischen Kampf vom sozialen Kampf trennt. Für mich ist Intersektionalität eine Evidenz: Frauen leiden nicht überall gleich unter männlicher Dominanz, sie erleben ihre Situation nicht auf dieselbe Weise, sondern je nach ihrer sozialen Klasse, je nachdem, ob sie rassifiziert werden oder nicht.“ (S. 52, meine Übers., M.O.)
Feminist:in zu sein, bedeutet, wie Lagrave schreibt, sich immer auf einen Kampf vorzubereiten (ebd.). Für beide wird erst durch das Lesen das eigene Beherrschtsein erkennbar, während das Schreiben Emanzipation bedeutet und Teil der feministischen Kämpfe ist. Neben dem Schreiben waren es für beide aber nicht zuletzt die Sozialwissenschaften, die dem Leben eine neue Orientierung gaben und regelrecht einen Raum der Möglichkeiten [3] eröffneten.
Transformation durch Sozialwissenschaften
Beide Autor:innen gehen davon aus, dass die Sozialwissenschaften in der Lage sind, das Zusammenleben der Menschen zu verändern. Denn sie können erklären, warum die sozialen Verhältnisse so und nicht anders sind. Das Potenzial der Sozialwissenschaften zeigt sich, wie beide anerkennen, auch in Ernaux’ und Lagraves Lebenswegen als Klassenaufsteigerinnen. Die Sozialwissenschaften machen deutlich, warum der Aufstieg so schwerfällt, warum er mit so viel Scham und Ausgrenzung belastet ist und am Ende regelrecht eine Zerrissenheit bedeutet. Sozialer Aufstieg geht für die Aufsteiger:innen mit einem Riss in der Welt einher – dem einen entstiegen, im anderen nie ganz angekommen. Aus dieser Perspektive werfen die Gesprächspartnerinnen gewissermaßen einen Blick zwischen die Klassen und auf die damit verbundenen sozialen Konsequenzen, wie Lagrave dies formuliert:
Nach einem Klassenaufstieg darf man nicht zulassen, dass die eigene Perspektive von der Perspektive der Bourgeoise bestimmt wird, zu der ich jetzt zwar objektiv gehöre, deren Werte und Verhaltensweisen ich aber entschieden ablehne.“ (S. 90, meine Übers., M.O.)
Lagrave und Ernaux sprechen über innere Zerrissenheit, Aufstieg und persönliche Veränderung durch die Soziologie, ihr Vokabular macht dabei schnell deutlich, an welchem Denker sie sich orientieren. Darüber hinaus beziehen sie sich in Une conversation immer wieder direkt auf ihn: „C’est pas Dieu, c’est Bourdieu!“ Die Wirkmacht der Sozialwissenschaften hängt, so ist Ernaux überzeugt, entscheidend mit den Erkenntnissen Pierre Bourdieus zusammen (S. 78 f.). Er habe ihnen (und vielen anderen) Mittel an die Hand gegeben, um die soziale Welt zu deuten und zu verstehen, ganz besonders die eigene Position darin. Er habe männliche Herrschaft[4] bearbeitet und konzeptualisiert und der von ihm entwickelte Begriff des habitus clivé[5] – des gespaltenen Habitus, der Aufsteiger:innen auszeichnet – verdeutliche, warum ein sozialer Aufstieg so schwer sei und wo die Grenze zwischen den Klassen verlaufe.
Soziologie und Literatur
Es sind aber nicht nur die Übergänge zwischen den sozialen Klassen, die Ernaux und Lagrave besprechen, sondern auch die Grenze zwischen Soziologie und Literatur. Beide gewähren in Une conversation Einblick in ihre Werkzeugkästen, wobei deutlich wird, dass sie die Arbeiten der jeweils anderen gut kennen, schätzen und sich auf sie beziehen. Ernaux greift außerdem auf historisch-soziologische Studien zurück; es ist ihr wichtig, ihre literarischen Arbeiten entsprechend einzubetten (S. 94).
Ähnlich wie Ernaux mit ihrer auto-socio-biographie hat auch Lagrave in ihren soziologischen Arbeiten eine Methode entwickelt, bei der das eigene Leben Gegenstand der Untersuchung ist – die enquete autobiographique. Für Lagrave ist Literatur nicht nur ein für die soziologische Arbeit wichtiges Mittel der Erkenntnis, auch die Frage der literarischen Gestaltung des soziologischen Textes gewinnt an Bedeutung. So blickt sie beispielsweise auf den Einsatz der Ich-Form in soziologischen Texten und wie dieser gelingen kann (S. 59 f.). Insgesamt sind sich Ernaux und Lagrave in ihren Arbeiten seit Jahrzehnten einig: Beide gehen von einer gewinnbringenden und zum Teil notwendigen Beziehung zwischen Soziologie und Literatur aus.
Auch im Alter: Der Kampf geht weiter
Das freundschaftliche Gespräch endet mit einer Reflexion über das Alter(n). Die beiden verbindet ein Streben nach Selbstbestimmung, vor allem danach, selbst über das eigene Ableben entscheiden zu dürfen. So stellen sich Ernaux und Lagrave im fortgeschrittenen Alter die Frage, wie sie aus der Welt gehen können und wollen. Ernaux sagt dazu:
„Wie gesagt, ich möchte das Alter zu einer Zeit des Genusses erklären. Das bedeutet auch, dass ich, wie du, die Freiheit haben möchte, zu entscheiden, ob ich es beenden möchte, wenn es nur noch aus Leid und Verfall besteht. Der Kampf darum muss heute geführt werden.“ (S. 114, meine Übers., M.O.)
Konsequent deuten sie auch dies als einen Kampf, und zwar um die legitime Gestaltung, wie das eigene Leben zu Ende geht. Der rote Faden – in Une conversation, aber auch in allen Arbeiten von Ernaux und Lagrave – ist: das soziale Leben als Kampf und als Spiel zu verstehen, wie Bourdieu es beschrieb. Lagrave und Ernaux rangen und ringen bis heute um Emanzipation und Selbstbestimmung. Sie betonen den Ermöglichungscharakter, den das Schreiben für sie persönlich hatte, zugleich haben sich die Zwänge ihrer Herkunft unauslöschlich in die Autorinnen eingeschrieben.
Fußnoten
- Das Programm der Juniorkonferenz ist online unter: http://www.ciera.fr/sites/default/files/document_joint/Programme_JE_Rapports%20de%20pouvoir%20en%20littérature.pdf [6.8.2024]. Einige Beiträge der Konferenz wurden in einer Ausgabe der trajectoires – Revue de la jeune recherche franco-allemand 2022 [6.8.2024] veröffentlicht.
- Ein Videomitschnitt ist online unter: https://www.youtube.com/watch?v=6M-2KAeuFes [6.8.2024].
- Mit dem Begriff Raum der Möglichkeiten umschreibt Bourdieu die Chancen und Unmöglichkeiten, die mit einem spezifischen Feld oder einer gewissen Position im Sozialraum verbunden sind. Siehe bspw. Pierre Bourdieu et al., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft [1993], Köln 2017 , S. 657.
- Pierre Bourdieu, Die männliche Herrschaft [1998], übers. von Jürgen Bolder, Frankfurt am Main 2012.
- Siehe bspw. Bourdieu et al., Das Elend der Welt, S. 656.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Bildung / Erziehung Erinnerung Familie / Jugend / Alter Feminismus Gender Kunst / Ästhetik
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