Wolfgang Knöbl | Rezension | 20.03.2018
Populismus für alle!
Dirk Jörke und Veith Selk präsentieren eine lesenswerte Einführung in ein komplexes Thema
Ein schmerzhafter Mangel an deutschsprachiger Literatur zum Populismus lässt sich gegenwärtig wohl nicht beklagen. Während sich vor der sogenannten „Flüchtlingskrise“ und dem schnellen Aufstieg der AfD, also vor dem Jahr 2015, kaum jemand in den deutschen Sozialwissenschaften für den Populismus zu interessieren schien und die Maßstäbe setzenden Arbeiten etwa von Hans-Jürgen Puhle[1] oder Karin Priester[2] die sprichwörtlichen Ausnahmen von der Regel darstellten, hat sich die Sachlage inzwischen drastisch verändert. Kaum ein Sozialwissenschaftler, der Autor dieser Zeilen inklusive, der sich derzeit nicht bemüßigt fühlt, zum Thema Stellung zu nehmen. Dabei dominiert vielfach ein alarmistischer Ton die Debatte, den man nicht vernimmt, ohne sich zu fragen, ob er eigentlich der Bedrohlichkeit des neuen Phänomens geschuldet ist oder der Überraschung, dass sich im prosperierenden Merkel-Deutschland, jenem Hort politischer wie ökonomischer Stabilität, etwas breit gemacht hat, das die meisten Beobachter nach wie vor erheblich irritiert. Ausgerechnet Deutschland, die Insel der Seligen, wird von den gleichen politischen Problemen ‚heimgesucht‘, welche die benachbarten Länder zum Teil schon seit Jahrzehnten plagen. Immerhin, die Irritation erwies sich als fruchtbar, kommt doch nun auch hierzulande das übliche Instrumentarium der Sozialwissenschaften in der Absicht zum Einsatz, auch noch die geringsten Spurenelemente von Populismus begrifflich zu fassen, einzuordnen und zu erklären. Das Problem war und ist freilich, dass die ganze Vielzahl der mittlerweile vorliegenden und nicht selten doch ziemlich heterogenen Deutungsversuche nicht gerade dazu beigetragen hat, das Phänomen schärfer zu fassen und klarer hervortreten zu lassen. Umso dankbarer sind wir für Texte, die beanspruchen dürfen, eine Schneise durch das Dickicht der wissenschaftlichen Diskurse über den Populismus zu schlagen. Genau diesen Anspruch erhebt auch der Band von Dirk Jörke und Veith Selk – und im Übrigen völlig zu Recht, wie nach der Lektüre dieses von den beiden Darmstädter Politikwissenschaftlern verfassten schmalen Bandes festzustellen ist! Denn auf knapp 200 Seiten gelingt es den Autoren, die wesentlichen Erscheinungsformen des Populismus zu skizzieren und die wichtigsten Theoriedebatten nachzuzeichnen. Deshalb liefert das Buch genau diejenige Orientierung, die man sich von den Einführungsbänden aus dem Junius Verlag erwartet Das heißt nun nicht, dass die LeserInnen – zumindest dann, wenn sie die einschlägige Populismus-Literatur kennen – den Urteilen und Einschätzungen von Jörke/Selk immer zustimmen müssten. Nein, davon kann bestimmt nicht die Rede sein, allerdings ist dem Autorenduo zugutezuhalten, dass ihm eine ebenso faire wie nüchterne und gut lesbare Bestandsaufnahme geglückt ist.
Dabei sieht es zu Beginn des Buches durchaus nicht nach einer überzeugenden Darstellung aus, fallen die Autoren in der Einleitung doch mit einigen Thesen ins Haus, die nicht von vornherein einleuchten dürften. Zwar werden die meisten Leserinnen und Leser sofort der Forderung zustimmen, dass es in den Populismus-Debatten darum gehen sollte, normative Stellungnahmen zunächst hintan zu stellen, um einen analytisch möglichst unvorbelasteten Begriff von Populismus entwickeln zu können (S. 10f.). Doch dürften keineswegs alle mit der eher weichen und deshalb allzu weit gefassten Populismus-Definition zufrieden sein, wonach der Populismus ganz generell „eine Reaktion auf nicht-eingehaltene Versprechen der Demokratie“ (S. 13) und in jüngster Zeit insbesondere eine auf den „postdemokratischen Liberalismus“ sei (S. 15). Wo und wann – so wäre skeptisch einzuwenden – sind jemals die Versprechungen der Demokratie wirklich eingehalten worden? Und wenn die Demokratie, wie ihre Geschichte lehrt, immer auch ein Versprechen, ein Projekt, bleibt, müsste sich der Populismus doch stets und überall in demokratisch verfassten Gesellschaften einstellen. Da von diesem Befund offenkundig aber nicht ausgegangen werden kann, spricht wenig für eine derart weite Begriffsfassung. Schließlich: Ist nicht auch die Formel vom „postdemokratischen Liberalismus“ allzu wohlfeil? Sie scheint doch alles Mögliche erklären zu können, ohne letztlich irgendetwas zu erklären. Bekanntlich hat die in sozialwissenschaftlichen und linken intellektuellen Kreisen beliebte und durchaus verwandte Redeweise vom „Neoliberalismus“ auch nicht zu sonderlich präzisen Argumentationsfiguren geführt, so dass bezweifelt werden darf, ob man mit dem „postdemokratischen Liberalismus“ sehr viel weiter kommt.
Glücklicherweise bewahrheiten sich die angesichts gewisser Thesen der Einleitung aufkommenden Befürchtungen aber nicht. Vielmehr gehen die Autoren im Rest des Bandes, und das bedeutet: in den fünf Hauptkapiteln, sehr viel nüchterner und präziser zu Werke, so dass der Verdacht gar nicht erst entsteht, hier hätten sich zwei Ideenhistoriker und politische Theoretiker bei ihrer Beschäftigung mit dem Populismus im Ideenhimmel verirrt. Ganz im Gegenteil, das 2. Kapitel zu den Facetten des Populismus gibt nicht nur einen guten Überblick über die vergleichsweise lange Geschichte des Populismus in den USA; ausgespart werden auch nicht die populistischen Strömungen Südamerikas und die seit den 1950er-Jahren zu beobachtenden Wellen populistischer Bewegungen in Westeuropa. Natürlich würde man sich immer noch mehr Details zu den einzelnen Fällen wünschen, und selbstverständlich wird den Leserinnen und Lesern auffallen, dass die Kenntnisse der beiden Autoren etwa zu den USA sehr viel umfassender (und solider) sind als diejenigen zu Südamerika (Brasilianer dürften sich etwa wundern, sollten sie erfahren, ihre Landsleute hätten 1944 auf der Seite der Deutschen und Italiener Krieg geführt, S. 29). Insgesamt bietet dieses Kapitel auf knappem Raum aber doch einen aufschlussreichen Überblick über die Spielarten populistischer Strömungen, zumal die starke und plausible These den Auftakt bildet, wonach der Populismus in dem Sinne ein Produkt der Demokratie sei, als er die prinzipielle Akzeptanz der Demokratie voraussetze.
Ob eine weitere These zutrifft, der zufolge der (moderne) US-amerikanische Populismus bereits einen massiven Wandlungsprozess durchlaufen habe, weil der ursprünglich wirksame, offene und flexible Volksbegriff mit der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert in den Hintergrund gerückt und zunehmend durch ein „ethnisch fundierte(s) Volksverständnis“ (S. 23) ersetzt worden sei, mag dahingestellt bleiben. Erwägenswert ist die Beobachtung allemal. Und richtig ist sicherlich auch die Beobachtung, dass sich zumindest in Westeuropa die jüngsten populistischen Bewegungen national-protektionistisch gerieren (S. 42), was in der Vergangenheit eben nicht immer der Fall war.
Wie diese Metamorphosen des Populismus, seine Wendungen und Volten, zu erklären sind – mit derartigen Herausforderungen haben die Autoren erheblich zu kämpfen, was ihnen freilich allein schon deshalb nicht wirklich anzukreiden ist, weil sich die gesamte Literatur zum Populismus mit eben diesen Schwierigkeiten herumschlägt. Ganz offensichtlich tut sich die gesamte Populismusforschung enorm schwer, den Populismus nicht sofort im Bezugsrahmen von Moderne und Modernisierung zu denken. Die These einer Verbindung, wenn nicht gar einer Teilidentität von Modernisierungsverlierern und Populisten (S. 42) scheint so evident und zwingend zu sein, dass sie selten auf Vorbehalte stößt. Demgegenüber sind Jörke und Selke jedoch klug genug, um einzusehen, dass die Rede von Modernisierungsverlierern und -gewinnern in Wahrheit nicht besonders weit trägt: Wer verfügt über eine so objektive Definition von Moderne, das trennscharf zwischen Gewinnern und Verlierern unterschieden werden könnte? Und welcher Akteur (um nun den Standpunkt des objektiven sozialwissenschaftlichen Beobachters zu verlassen) hat nicht schon einmal das Gefühl gehabt, vom Prozess sozialen Wandels ungerecht behandelt worden und damit Modernisierungsverlierer zu sein, jedenfalls schlechter gestellt zu sein als der Nachbar, Freund oder Kollege? Sind damit die Gefühlslagen erfasst, aus dem Populisten erwachsen? Wenn ja, dann dürfte es nie eine (demokratische) Epoche ohne Populisten gegeben haben. Ergo ist Skepsis fällig, zumal sich angesichts solcher Diagnostik zudem die Frage stellt, ob sie nicht aus der Soziologie herausführt, um sich allzu sehr eher vagen, sozialpsychologischen Erklärungsmustern zu überlassen – ein Punkt, der auch im noch zu besprechenden 4. Kapitel auftaucht.
Zunächst aber – und das ist dann der Inhalt von Kapitel 3 – fragen die beiden Darmstädter Politologen, was Populismus überhaupt ist und wie er sich von anderen, vielleicht verwandten Phänomenen abgrenzen lässt. Ihre grundlegende Behauptung ist, dass der Populismus mindestens mit einer dyadischen Struktur arbeitet, insofern seine Protagonisten eine Kluft zwischen dem anständigen Volk einerseits und einer (korrupten) Elite andererseits konstruieren (S. 68). Eine solche Struktur kennzeichne insbesondere den Populismus der Mitte, aber auch denjenigen auf der linken Seite des politischen Spektrums. Im derzeit in vielen ‚westlichen‘ Ländern aufblühenden Rechtspopulismus – so die Autoren – nimmt die Bewegungsform nochmals eine andere Gestalt an, insofern in die dyadische Kluft gewissermaßen ein „Drittes“ eingebaut wird, nämlich der Fremde, die Ausländerin, der Asylsuchende etc. „Rechtspopulisten konstruieren in ihrer politischen Mobilisierung und Rhetorik das eigene Volk als eine gute Gemeinschaft, die von zwei Seiten bedroht werde: von einer korrupten Elite und von Fremden.“ (S. 69) Dem wird man vermutlich zustimmen können und damit auch noch der These, dass Populisten mit Vorstellungen von „Volkssouveränität“ und „demokratischer Gleichheit“ spielen (der Populismus ist ja den Autoren zufolge – siehe oben – ein Produkt der Demokratie), auch wenn diese Vorstellungen oftmals recht fragwürdig erscheinen mögen. Freilich rückt bei einer solchen Definitionsweise sofort auch die Frage in den Mittelpunkt, wie sich Rechtspopulisten eigentlich von Faschisten und Rechtsradikalen abgrenzen lassen. Und mit der Antwort darauf haben die beiden Autoren wie übrigens die meisten Populismus-TheoretikerInnen so ihre Probleme. Denn wenn sie zunächst darlegen, dass der Faschismus ein einmaliges Phänomen, ein nicht-wiederholbares „historisches Epochenphänomen“ (S. 77) war, der Populismus aber ein zyklisches, das heißt ein wiederkehrendes war und ist, so vermag dies schon deshalb nicht recht zu überzeugen, weil jedes Phänomen ein Epochenphänomen und damit unwiederholbar ist. Zudem ist der Rückgriff auf ein solches Argument gerade dann merkwürdig, wenn es von politischen Theoretikern oder ‚intellectual historians“ vorgebracht wird, sollten diese doch am besten wissen, dass Ideen nie unverändert auftauchen, sondern stets transformiert werden, wodurch die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass faschistisches Gedankengut der 1920er- bis 1940er- Jahre in irgendeiner Form neu belebt werden kann, und sei es in Form eines Rechtsradikalismus, der für sich selbst das Etikett „Faschismus“ gar nicht in Anspruch nimmt.
Aber auch die andere von Jörke/Selk vorgebrachte Argumentation bezüglich der Differenz zwischen Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus/Faschismus vermag nicht so recht zu überzeugen: Es ist zwar richtig, dass dem Faschismus wie dem Rechtsradikalismus die Rhetorik der Demokratie fremd war und ist, die Demokratie vielmehr als Gegner bekämpft wurde und wird; aber zumindest Vorstellungen von einer Gleichheit der ‚Volksgenossen‘ sind auch im Faschismus/Rechtsradikalismus zu finden, ganz zu schweigen von der im Faschismus/Rechtsradikalismus propagierten Notwendigkeit des Ausschlusses ganzer Bevölkerungsgruppen aus der ‚Volksgemeinschaft‘. Das aber bedeutet, die Differenz zwischen Rechtsradikalismus/Faschismus einerseits und Rechtspopulismus andererseits schrumpft auf den feinen Unterschied zwischen Gleichheit und Demokratie zusammen. Es wird sich zeigen, ob sich diese Differenz wird aufrechterhalten lassen. Zweifel sind angebracht, weil diese zudem nur dann intuitiv plausibel ist, wenn man einen einigermaßen unhistorischen Blick sowohl auf den Faschismus wie auf den Rechtspopulismus hat, unhistorisch in dem Sinne, wenn man – wie die Autoren suggerieren – nämlich zum einen unterstellt, der Faschismus sei etwas gewesen, dessen Essenz von den 1920ern bis zum Ende des 2. Weltkriegs unverändert geblieben sei, und wenn man zum anderen glaubt, die Gestalt des heutigen Rechtspopulismus sei gewissermaßen schon sein Endziel. Letzteres kann man natürlich erhoffen, aber eine solche Gutgläubigkeit könnte sich auch rächen! – Damit ist nun selbstverständlich nicht gemeint, dass man nicht massive Differenzen zwischen unterschiedlichen Bewegungen auf der rechten Seite des politischen Spektrums finden könne. Im Gegenteil! Aber die sowohl von den beiden Autoren wie vom Gros der Populismusforscher vorgebrachten Differenzkriterien scheinen so besonders plausibel nicht zu sein. Jörke und Selk scheinen dies auch selbst zu ahnen, diskutieren sie doch am Schluss des Kapitels überwiegend zustimmend AutorInnen, welche mit Bezug auf den Populismus entweder (sozialpsychologisch) von besonderen Denkstilen oder Mentalitäten (S. 84) oder (mobilisierungstheoretisch) von spezifischen Machteroberungsstrategien (S. 85) sprechen, Aspekte, die für die Analyse sozialer Bewegungen ganz generell interessant sein dürften, die sich freilich nicht immer gut eignen, um etwa Rechtspopulisten von Rechtsradikalen abzugrenzen.
Wie auch immer, das von Jörke und Selk aufgeworfene Problem der Definition des Populismus führt nun nahtlos zur Frage, warum Populismus überhaupt entsteht (das ist – wie schon angesprochen – das Thema des 4. Kapitels), eine Frage, die je nach Definitionsweise des Phänomens dann auch unterschiedlich beantwortet werden wird. Jörke und Selk halten sich klug mit klaren und eindeutigen Stellungnahmen zurück und konstatieren lediglich, dass sich in der Fachliteratur grundsätzlich makro-, meso- und mikrotheoretische Erklärungstypen voneinander abgrenzen lassen. Während etwa marxistische oder modernisierungstheoretische Analysen (letztere etwa mit dem schon genannten Verweis auf Wandlungsprozesse in der Moderne und die hierbei unvermeidlich generierten sogenannten Modernisierungsverlierer) auf der Makroebene argumentieren, arbeiten Populismusforscher, die ‚ihr‘ Phänomen mit Verweis auf neuartige oder sich wandelnde Parteistrukturen oder Umstrukturierungen in der Medienlandschaft erklären wollen, eher auf der Mesoebene. Mikroanalytisch unterwegs sind demgegenüber dann sozialpsychologische Ansätze, die auf kollektive Enttäuschungserfahrungen oder Ressentiments abheben. Jörke und Selk sind offen (und auch belesen) genug, um allen derzeit verwendeten Erklärungsansätzen eine gewisse Plausibilität zuzuschreiben, wobei insbesondere auffällt, wie sehr sie sich für den mikroanalytischen Zugang stark machen und bei der Beleuchtung von Ressentiments Autoren wie Nietzsche, Scheler oder Adorno bemühen. Diese theoretische Offenheit und Zurückhaltung von Jörke und Selk mag man vielleicht als Eklektizismus kritisieren, es bleibt aber doch der stärkere Eindruck, dass es ihnen – Vertretern der politischen Theorie und Ideengeschichte – in erster Linie darum geht, die Leserinnen und Leser umfassend über Theorieansätze zur Erklärung eines empirischen Phänomens zu informieren.
Die Stärken ihrer (sub-)disziplinären Herkunft können sie dann tatsächlich eher in den letzten beiden Kapiteln ausspielen, wenn es darum geht, den Populismus normativ einzuschätzen (5. Kapitel) und die Frage zu diskutieren, ob der politische Diskurs, so wie er in den westlichen Demokratien während der letzten Jahrzehnte in der Regel geführt wurde, nicht selbst zu bestimmten Defiziten führte, die populistische Bewegungen geradezu hervorrufen mussten (6. Kapitel). In diesem Zusammenhang (und hier stützen sie sich zumindest teilweise auf die Zeitdiagnose einer Chantal Mouffe) schreiben Jörke und Selk insbesondere linksliberalen und sozialdemokratischen Kritikern des Populismus ins Stammbuch, dass der von ihnen dominierte politische Diskurs nicht selten Machtverhältnisse ausgeblendet und eine Stimmung der Politik- und Alternativlosigkeit herbeigeredet habe, die dann nicht zuletzt von populistischen Agitatoren erfolgreich aufgenommen und gewendet werden konnte (S. 148). Jener oben schon angesprochene und scheinbar so tolerante „postdemokratische Liberalismus“ habe bestimmte Diskussionsverbote über die EU, über den Freihandel oder über den Kosmopolitismus errichtet (S. 160), die aber – mit einigem Recht – beileibe nicht nur rechte Populisten erzürnt, sondern auch linke Kritiker, die sofort unter Populismusverdacht gestellt werden. Jörke und Selk verweisen also darauf, dass die in linksliberalen Kreisen oft gehegte Empörung über den (zumeist rechten) Populismus insofern scheinheilig bis schief ist, weil man dort den eigenen Beitrag zur Entstehung populistischer Bewegungen partout nicht sehen will. Mit dieser Mahnung zum Schluss – und mit positiven Bezugnahmen auf die Analysen von Nancy Fraser oder des späten Richard Rorty (S. 164f.) – plädieren Jörke und Selk letztlich für eine klassentheoretische oder zumindest für soziale Ungleichheiten und Machtstrukturen sensible Öffnung der bisherigen Populismusdebatte, weil sich nur so die derzeitigen Probleme demokratischer Gesellschaften angemessen analysieren lassen. Ob damit auch schon das Phänomen des Populismus umfassend in den Griff zu bekommen ist, darüber wird man trefflich streiten dürfen, ebenso wie über das oben schon bezweifelte Erklärungspotential solcher Begriffe wie „postdemokratischer Liberalismus“. Aber das von den beiden Autoren vorgelegte Büchlein kann immerhin dazu verhelfen, die Frontlinien des Streits zu klären, was man einem Einführungsband hoch anrechnen sollte.
Fußnoten
- Siehe Hans-Jürgen Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975; ders., Was ist Populismus?, in: Helmut Dubiel (Hg.), Populismus und Aufklärung, Frankfurt am Main 1983, S. 12–32; ders., Zwischen Protest und Politikstil. Populismus, Neo-Populismus und Demokratie, in: Nikolaus Werz (Hg.), Populismus. Populisten in Übersee und Europa, Opladen 2003, S. 15–43.
- Vgl. Karin Priester, Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt am Main/New York 2007; dies., Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt am Main/New York 2012.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Demokratie
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