Florian G. Mildenberger | Nachruf | 24.02.2023
Volkmar Sigusch
Ein Nachruf
Rund 850 wissenschaftliche Publikationen, darunter 51 Monografien, brachte Volkmar Sigusch im Laufe seines unermüdlichen Gelehrtenlebens hervor. Zudem prägte er Fachausdrücke („Cisgender“) und Epochenbegriffe („neosexuelle Revolution“), die in der wissenschaftlichen Diskussion seither geläufig und etabliert sind. Die letzten Jahre seines Lebens waren allerdings von dem bestimmt, was er selbst früher als „geistige Umnachtung“ ironisiert und wovor er sich immer gefürchtet hatte.
Geboren am 11. Juni 1940 als Sohn eines Bankdirektors im beschaulichen Bad Freienwalde,[1] begann er nach dem Ende seiner Schulzeit ein Medizinstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin. Kurz vor dem Mauerbau 1961 floh er zunächst nach West-Berlin, bevor er sein Studium in Frankfurt am Main fortsetzte. Neben Medizin interessierte er sich für Literatur und die Sozialwissenschaften, hörte Vorlesungen bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. In Frankfurt, dem Zentrum der Kritischen Theorie, erhielt Sigusch erste Impulse für sein späteres Lebenswerk: die Verbindung von ärztlicher Forschung, sozialwissenschaftlicher Themendurchdringung und politischer Betätigung. Ein solcher Impuls war der 1963 erschienene Sammelband Sexualität und Verbrechen,[2] in dem die Juristen Herbert Jäger und Fritz Bauer gemeinsam mit den Psychiatern Hans Bürger-Prinz und Hans Giese sowie zahlreichen anderen Gelehrten wie Adorno für eine Reform des Sexualstrafrechts warben. Sigusch fühlte sich thematisch angesprochen, wechselte nach Hamburg, wo Bürger-Prinz und Giese wirkten, und wurde dort 1966 mit einer Studie über die Genese von Vorurteilen zum Dr. med. promoviert.
In den folgenden Jahren folgte unter gütiger Förderung von Bürger-Prinz die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie. Zugleich wirkte Sigusch an der Seite von Hans Giese an der Entwicklung der Sexualforschung mit. Die von Giese und Bürger-Prinz dominierte Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) bewegte sich zu dieser Zeit auf wissenschaftlich dünnem Eis. Das Erbe der von Magnus Hirschfeld begründeten Sexualwissenschaft hatte man ebenso ausgeschlagen wie die Erkenntnisse der Psychoanalyse. Stattdessen verließ man sich zur Einordnung der Menschen einerseits auf die zur Erklärung von Perversionen entwickelte Lehre von der „Süchtigkeit“ des Arztes Viktor Emil v. Gebsattel, andererseits setzte man auf die Idee phänomenologisch festgelegter Faktoren menschlichen Handelns, aus denen sich eine Norm ableiten lasse. Die Gemeinschaft und ihre Werte standen in diesem System über den Individualrechten. Um nicht in den Verdacht zu geraten, Konzepte der Rassenbiologie weiter zu tragen, lehnten sowohl Bürger-Prinz als auch Giese einen Rekurs auf genetische und konstitutionelle Vorbedingungen menschlichen Handelns strikt ab. Dadurch beraubten sie sich allerdings des zeitgenössisch wichtigsten Arguments zur Widerlegung der Strafwürdigkeit homosexuellen Begehrens.
In der ersten Phase seiner wissenschaftlichen Tätigkeit orientierte sich Sigusch an diesen diskursbestimmenden Vorgaben, nutzte sie aber zu eigenen Ansätzen. So widerlegte er zusammen mit Gunter Schmidt in der Studie Arbeiter-Sexualität das überkommene Vorurteil von den sexuell enthemmten Unterschichten[3] und spielte eine Schlüsselrolle bei Import und Rezeption des von William H. Masters und Virginia E. Johnson entwickelten Konzepts der Paartherapie. Grundsätzlich lehnte Sigusch jeden „Zwang zur Gesundheit“ ab und überwarf sich folgerichtig gemeinsam mit Gunter Schmidt und Eberhard Schorsch mit dem Lehrmeister Giese, als dieser 1969/70 den Anhängern stereotaktischer Hirnoperationen zur Behandlung abweichenden Sexualverhaltens ein Forum in der DGfS bot. Nach dem Tod Gieses im Sommer 1970 war es Bürger-Prinz, der durch seinen Einfluss die weiteren Karrieren des Trios förderte, wodurch er sich selbst wiederum unantastbar machte. Sigusch wurde 1972 an der Universität Hamburg in Sexualwissenschaft habilitiert und Ende des Jahres auf einen neu geschaffenen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main berufen.
Hier entfaltete er nun sein Œuvre als Propagandist einer kritischen Sexualwissenschaft. Er lehrte gleichzeitig an der Medizinischen Fakultät und im Fachbereich Soziologie, etablierte die Ärztefortbildung in Sexualwissenschaft und gab ab 1979 das Periodikum Sexualität konkret mit heraus; zudem begleitete er die Debatten um Sexualreform im Deutschen Bundestag als Gutachter und geladener Experte und koordinierte die Arbeit der DGfS. Neueste Forschungsergebnisse wurden zügig in der Zeitschrift Sexualmedizin publiziert. In manchen Dingen aber blieb Sigusch ein stolzer Sohn seiner Lehrmeister. Obwohl ihm bewusst war, dass insbesondere im Zeitalter des New Age Heilpraktiker und Gesundheitsberater eine zentrale Rolle bei sexologischer und psychosomatischer Ratsuche spielten, lehnte er jedes Kooperationsangebot aus dieser Richtung ab. Auch weiterhin sollte nur Ärzten die Hoheit über die menschliche Psyche und den Körper zustehen. Diese Doktrin setzte sich in der Beratung und Verabschiedung des Transsexuellengesetzes 1980 fort.
Kritik an den Grundfesten der eigenen Wertordnung und des eigenen Wissenschaftsverständnisses verbat sich Sigusch in dieser Zeit. Infolgedessen widersetzte er sich hartnäckig der so genannten „Hirschfeld-Renaissance“ zu Beginn der 1980er-Jahre, indem er Hirschfeld zum (unfreiwilligen) Präzeptor der nationalsozialistischen Rassenhygiene kürte. Das fiel ihm wenige Jahre später auf die Füße, als auf einer Tagung der DGfS in Hannover 1985 sein Kollege Friedemann Pfäfflin kritische Fragen nach der Rolle von Bürger-Prinz im Dritten Reich stellte. Dabei machte Pfäfflin auch geltend, dass bestimmte Elemente Siguschschen Denkens ihren Ursprung in den 1930er-Jahren besäßen. Siguschs Zorn war gnadenlos. Es folgten verheerende, die DGfS fast zerreißende Dispute. Tatsächlich sollte es bis zum Jahre 2019 dauern, ehe sich Siguschs Mitstreiter Gunter Schmidt zu der Aussage durchrang, dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Einflüsse auf die westdeutsche Nachkriegssexualforschung mit den Recherchen von Friedemann Pfäfflin begann.[4]
Die sich ebenfalls in den 1980er-Jahren entfaltende Debatte über den Umgang mit HIV/AIDS unterbrach den ausgebrochenen Streit. Sigusch schwang sich erneut zum Verteidiger der sexuellen Freiheit auf, suchte und fand erfolgreich politische Verbündete und richtete gemeinsam mit Schorsch und Schmidt die DGfS neu aus. Außerdem zerlegte er erfolgreich die Lehren des DDR-Endokrinologen Günter Dörner, der mit seinen Ausführungen zu Homosexualität als hormonell bedingter und heilbarer Krankheit für Furore gesorgt hatte. Doch Sigusch hatte erkannt, dass er die Einlassungen seiner Lehrer hinter sich lassen musste. Zielsicher versöhnte er die psychiatrische Sexualwissenschaft mit der Psychoanalyse und avancierte 1987 zum Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift Psyche. Ein Jahr später lancierte er mit seinen Mitstreitern im Thieme-Verlag die Zeitschrift für Sexualforschung.
In den 1990er-Jahren rezipierte Sigusch die neuesten Erkenntnisse internationaler sozialwissenschaftlicher Forschungen, integrierte die Gender-Studies in die sexualwissenschaftlichen Lehrwerke, begleitete kritisch die Entwicklung des Sexualstrafrechts und ließ nebenbei durch Peter von Rönn die Verwicklungen seines vormaligen Lehrers Bürger-Prinz in den Nationalsozialismus erforschen.[5] Sigusch wurde so deutlich, wie wichtig es war, nicht nur die Gegenwart zu erforschen, sondern auch die Geschichte zu beherrschen. Infolgedessen begann er mit Vorarbeiten zu einer Geschichte der eigenen Disziplin und ihrer wichtigsten Vertreter. Beide Werke sollten 2008 beziehungsweise 2009 erscheinen.[6] Darüber hinaus rettete Sigusch mit finanzieller Unterstützung durch Jan Philipp Reemtsma zahlreiche sexualhistorisch wertvolle Bücher und Zeitschriften und machte sie Forschern zugänglich. An den sexualgeschichtlichen Debatten der frühen 2000er-Jahre nahm er regen Anteil durch eine Publikation über den Juristen Karl Heinrich Ulrichs, den er zum „ersten Schwulen der Weltgeschichte“ kürte.[7]
Doch nicht nur Vergangenheit und Gegenwart beschäftigten Sigusch, er stellte auch Fragen nach zukünftigen Entwicklungen. Sigusch nahm die 2000er-Jahre als Projektionsfläche: Alte Streitpunkte um sexuelle Befreiung, marxistische und alternative Gesellschaftsentwürfe oder der Wunsch nach Emanzipation von der kapitalistischen Gesellschaft hatten an Bedeutung verloren zugunsten von Wünschen nach Homo-Ehe, Integration in die postmoderne Dienstleistungsgesellschaft oder zumindest Teilhabe an politischer Macht. Dadurch veränderte sich das Diskursfundament, welche sexuelle Variationen als gesellschaftsgenehm oder pathologisch angesehen wurden. An die Stelle fester Vorstellungen von Werten oder Normen rückten variable Begriffe und so entwickelte Sigusch das Konzept von den „Neosexualitäten“.[8]
Nur eines entging ihm bei seinen rastlosen Bemühungen: dass auch er selbst kein vollkommen autonomer Akteur, sondern ebenfalls ein Produkt des Zeitgeistes war. Seine Professur und das Frankfurter Institut waren nicht aus dem Nichts entstanden, sondern weil die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen der frühen 1970er-Jahre die Errichtung einer solchen Institution begünstigt hatten. Sigusch vernachlässigte spätestens seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre den wissenschaftlichen Austausch mit den Kollegen an der Frankfurter Universität und ignorierte die Trends der genetischen Forschung. Darüber hinaus überging er die Tatsache, dass seine eigenen Einschätzungen zur Jugendsexualität zunehmend in die Kritik gerieten. Stattdessen sammelte er Meriten und ließ sich auf internationalen Tagungen feiern. 2005 erhielt er sein eigenes Stichwort im Brockhaus.
Umso größer war der Katzenjammer, als die Goethe-Universität Frankfurt und das Land Hessen nach Siguschs Emeritierung im Jahr 2006 keinen Zweifel daran ließen, dass sie das Institut für Sexualwissenschaft nicht erhalten würden. Erleichtert wurde die von Protesten begleitete Entscheidung durch die Tatsache, dass es Sigusch in 30 Jahren nicht gelungen war, einen Nachfolger aufzubauen. Sämtliche möglichen Kronprinzen hatten nacheinander das Handtuch geworfen oder waren entlassen worden. So blieben Sigusch die Rolle des Historiografen seiner Selbst und die Tätigkeit als niedergelassener Arzt. An der Entscheidung von Universität und Land sparte er nicht mit Kritik. So sei die Sexualwissenschaft nun dazu verdammt, wieder Teil der Psychiatrie zu werden. Aber war das nicht die Position, die Sigusch als Schüler von Giese und Bürger-Prinz ursprünglich selbst vertreten hatte?
So bleibt sein Erbe zwiespältig. Die von ihm koordinierten Lehrbücher und Forschungsarbeiten sind von bleibendem Wert, ebenso seine Verdienste als gesellschaftlicher Aufklärer und Vorkämpfer für eine Liberalisierung der Sexualität, über die heute anders und freier gesprochen wird als vordem. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Sexualwissenschaft wieder im wissenschaftlichen Prekariat angelangt ist. Sigusch ist nun selbst Geschichte und wird bald Gegenstand historiografischer Forschungen sein. Die Zeit wird zeigen, was von seinem Erbe bleibt.
Fußnoten
- Nachtrag vom 14. März 2023: Nach Erscheinen des Nachrufs erhielt ich von Frau Dr. Marita Keilson-Lauritz, der Witwe des verstorbenen Psychoanalytikers Hans Keilson (1909–2011) Mitteilung, dass sie auf den Spuren ihres in Bad Freienwalde geborenen und aufgewachsenen Mannes das dortige Stadtarchiv aufgesucht habe. Bei der Gelegenheit habe sie in Erfahrung gebracht, dass Volkmar Sigusch bei der Berufsbezeichnung seines Vaters ein wenig unpräzise war. Sigusch senior war demnach mitnichten Bankdirektor, sondern Revisor bei einer lokalen Sparkasse. Er gehörte also zu den mittleren Angestellten. Diese Verortung war wichtig in der frühen DDR, denn der Sohn eines Bankdirektors hätte vermutlich keinen Studienplatz für Humanmedizin erhalten.
- Fritz Bauer / Hans Bürger-Prinz / Hans Giese / Herbert Jäger (Hg.), Sexualität und Verbrechen. Beiträge zur Strafrechtsreform, Frankfurt am Main / Hamburg 1963.
- Gunter Schmidt / Volkmar Sigusch, Arbeiter-Sexualität. Eine empirische Untersuchung an jungen Industriearbeitern, Neuwied/Berlin 1971.
- Gunter Schmidt, Aufbruch und Umbruch. Anmerkungen zu Hans Giese und das Hamburger Institut für Sexualforschung in den 1950er und 1960er Jahren, in: Peer Briken (Hg.) Perspektiven der Sexualforschung, Gießen 2019, S. 61–70, hier S. 67.
- Peter von Rönn, Politische und psychiatrische Homosexualitätskonstruktion im NS-Staat: 1. Die politische Genese des Homosexuellen als Staatsfeind, in: Zeitschrift für Sexualforschung 11 (1998), 2, S. 99–129; ders., Politische und psychiatrische Homosexualitätskonstruktion im NS-Staat: 2. Die soziale Genese der Homosexualität als defizitäre Heterosexualität, in: Zeitschrift für Sexualforschung 11 (1998), 3, S. 220–260.
- Volkmar Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, Frankfurt am Main / New York 2008; ders. / Günter Grau, Personenlexikon der Sexualforschung, Frankfurt am Main / New York 2009.
- Volkmar Sigusch, Karl Heinrich Ulrichs. Der erste Schwule der Weltgeschichte, Berlin 2000.
- Volkmar Sigusch, Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion, Frankfurt am Main / New York 2005.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Diversity Gender Geschichte der Sozialwissenschaften Gesundheit / Medizin Lebensformen Psychologie / Psychoanalyse Queer Wissenschaft
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