Berthold Vogel | Essay | 26.07.2018
Was Sozialforschung heute leisten muss!
Eine programmatische Skizze
Der Text ist die leicht überarbeitete Fassung des von Berthold Vogel gehaltenen Vortrags auf der aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) e. V. veranstalteten Konferenz "Polarisierung(en). Zur Zukunft von Arbeit, Unternehmen und Gesellschaft", die am 24. und 25. Mai 2018 in Göttingen stattfand. Wir danken dem Autor für seine freundliche Bereitschaft, uns den Text zur Publikation auf "Soziopolis" zu überlassen. - Die Red.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
das Privileg und das Verdienst meines Vorredners kommen mir nicht zu - die positive Energie des Biographischen und die Kraft einer Gründungsgeschichte, von der die nachfolgenden Generationen profitieren! Auf der Brücke, die Michael Schumann aus dieser Geschichte heraus gebaut hat, gehe ich gerne weiter und schließe in meinem Beitrag mit der Normativität des Programmatischen an. Es geht mir um eine Ortsbestimmung – was kann, was sollte, was muss Sozialforschung, zumal Sozialforschung Göttinger Prägung heute leisten? Damit sind drei Fragen verknüpft: Gibt es einen Göttinger Weg der Sozialforschung? Und wenn es diesen Weg gibt, welche Aufgaben sind heute auf diesem Weg anzupacken? Und schließlich: Wie können wir diesen Weg auch in Zukunft begehbar halten?
(I) Ortsbestimmung
Beginnen wir mit der ersten Frage. Gibt es eigentlich so etwas wie einen Göttinger Weg der Sozialforschung? Unsere Antwort lautet, ja, es gibt diesen Göttinger Weg. Zwei Begriffe sind besonders gut geeignet, um eine Anschauung von diesem Göttinger Weg zu bekommen. Michael Schumann hat mit diesen Begriffen gearbeitet, als er vor einigen Jahren über die wissenschaftlichen Spuren sprach, die Hans Paul Bahrdt in der Arbeits- und Industriesoziologie hinterlassen hat. Die beiden Begriffe sind „Wirklichkeitshunger" und „Weltanschauungsskepsis". Beide Begriffe markieren eine intellektuelle Position und eine wissenschaftliche Haltung. Sie zeigen an, was wissenschaftlich zu leisten ist: Möglichst viel über die gesellschaftliche Wirklichkeit in Erfahrung bringen, auf die Monotonie einer Weltanschauung verzichten und den Fehler vermeiden, gute Gesinnung mit guter Forschung zu verwechseln.
Wirklichkeitshunger und Weltanschauungsskepsis – das sind Signalbegriffe einer offenen, verstehenden, qualitativ und phänomenologisch orientierten Soziologie; einer Soziologie, die mit Leitfragen verbunden ist: Wie muss eine Gesellschaft und wie müssen ihre Institutionen gebaut sein, wie müssen Betriebe und Arbeitsplätze beschaffen sein, damit Menschen darin würdig, ihren Interessen und Bedürfnissen angemessen leben können? Ja, noch mehr: Damit Menschen sich in ihren und aus ihren sozialen Gegebenheiten und Lebenssituationen heraus entwickeln und entfalten können?
In diesem verstehenden Zugriff auf Wirklichkeit kommt der Wunsch zum Ausdruck, sich mit gesellschaftlichen Verhältnissen vertraut zu machen, Menschen mit ihren Erfahrungen zum Sprechen zu bringen; und es zeigt sich das Interesse, soziologische Expertise in Beziehung zur „Gesellschaft“ zu bringen und durch Soziologie, durch Sozialforschung interessante und interessierte Öffentlichkeiten zu schaffen. Und spricht nicht heute einiges dafür, dass dieser Göttinger Weg, dieser Weg einer verstehenden Soziologie erneut an Gewicht gewinnt - in Zeiten autoritärer Versuchungen, in Zeiten digitaler Phantasien, in Zeiten neuer sozialer Bruchlinien und in Zeiten der Verwundbarkeit der Demokratie?!
Verstehen als Prinzip - Verstehen, um offene gesellschaftliche Situationen gestaltbar zu machen; das war von Beginn an der wissenschaftliche Anspruch und das methodische Ziel von SOFI- Forschung. Das führt mich zu meiner zweiten Frage. Welche Aufgaben liegen für eine Sozialforschung dieser Provenienz auf dem Weg? Wo müssen wir anpacken?
(II) Was Sozialforschung heute leisten muss
Michael Schumann hat das in seinem Beitrag offensiv formuliert - Gestaltungschancen aufzeigen. Aufklären über das, was in der Gesellschaft vor sich geht. Bereitschaft zur Zeitdiagnose. Und es stimmt. Sozialforschung zählt. Wir sind im Gespräch mit den Menschen in der Arbeit, wir hören von ihren Wünschen an Arbeit, an berufliche Wertschätzung und von ihrer Freude, sich in ihrer Arbeit wieder zu finden - im Übrigen auch in ihrer Arbeit jenseits von Betrieb und Büro, die sie im Rahmen ihres Engagements für Vereine, für lokale Initiativen, für Gewerkschaften oder Kirche leisten.
Aber wir hören eben auch von der Sorge, es selbst nicht mehr in der Hand zu haben, wie es weitergeht, und wir hören von dem Gefühl, dass immer nur die Probleme der „Anderen“ im Vordergrund stehen. Dieses Gefühl an „Empathiemauern“ zu stoßen, die eigenen Bedürfnisse und Befürchtungen nicht äußern zu können, lähmt jede Idee gesellschaftlichen Fortschritts; dieses Gefühl beflügelt autoritäre Lösungen, es ist ein Nährboden für menschenfeindliche Ressentiments, die auch in der Verrohung der öffentlichen Sprache zum Ausdruck kommen.
Um hier Gegengifte zu entwickeln, müssen wir mehr sein als eine Wissenschaft, die gute Ratschläge auf freundlichen Veranstaltungen verteilt. Wir müssen ein Ort sein, der Potenziale und Spielräume für eine vitale Demokratie auch in der Arbeitswelt entwickelt; und wir müssen ein Ort sein, der aus der Forschung heraus Maßstäbe formuliert für eine humane Gestaltung der gesellschaftlichen Arbeit.
Lassen Sie mich exemplarisch diesen einen Begriff, diesen einen Gedanken herausgreifen: "Humanisierung". Dieser Begriff baut Brücken, denn das 70er- und 80er-Jahre-Programm „Humanisierung der Arbeitswelt“ ist eng mit der Gründungs- und Entwicklungsgeschichte des Instituts verknüpft. Die Lage heute ist allerdings eine andere: Wenn wir jetzt den Gedanken der „Humanisierung“ wieder in die Debatte bringen, dann geht es nicht darum, die Geister und die Begriffe der Vergangenheit zu beschwören, auf dass sie das Institut in die Zukunft tragen; nein, es geht darum, Begriffen ein neues, ein eigenes Gewicht zu geben, damit sie zum Verstehen unserer Gegenwart beitragen. Was könnte es also bedeuten, Humanisierung zu einem strategischen Begriff zu entwickeln? Folgende Aspekte sind wichtig.
Über Arbeit zu forschen heißt heute mehr denn je, die Veränderung der Arbeit mit lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen zu verknüpfen. Die Arbeitslandschaften der Gegenwart und Zukunft sind in einer Ökonomie, in der öffentliche und private Dienstleistungen dominieren, sehr viel stärker als noch in der Industriegesellschaft mit dem Alltag unserer Lebensführung verknüpft. Mit Pflege und Gesundheit, mit Beratung und Kommunikation, mit Mobilität und Freizeit. Privates und Öffentliches, Häusliches und Betriebliches verbinden sich enger und in neuer Weise. Das ist – um in der Diktion aktueller Arbeitsanalysen zu sprechen – für viele Menschen „lousy“ und „lovely“ zugleich. Wir sind daher gefordert, die Menschen nicht nur als Teil eines Betriebs oder einer Behörde wahrzunehmen, sondern als Teil ihrer Familie, als Teil ihrer Nachbarschaften und ihres lokalen Umfelds, als Aktive in ihren Vereinen und Initiativen.
Um eine Idee zu entwickeln, was heute „Humanisierung der Arbeit" bedeuten kann, braucht es zudem sehr viel stärker den Zugang zu den gesellschaftlichen Umwelten, in denen wir uns bewegen und begegnen. Zu diesen Umwelten zählen soziale Infrastrukturen, die Gestalt öffentlicher Räume, die Verfügbarkeit öffentlicher Güter. Humanisierung der Arbeit muss mit Fragen des Gemeinwohls, mit dem Bedürfnis nach einem verlässlichen Staat und Gemeinwesen, mit dem Wunsch nach einem möglichst intakten öffentlichen Raum in Verbindung gebracht werden.
Und schließlich: Was heißt für uns am SOFI (mit unserer Tradition) eigentlich „Humanisierung der Arbeit" im digitalen Zeitalter? Diese Frage führt weg von der Logik der Verwertung technischer Innovation hin zur Bewertung sozialen Fortschritts. Es ist die Frage nach dem Maßstab. Machen wir das, was wir machen können, oder das, was wir machen wollen? Unsere Forschung jedenfalls zeigt, dass Menschen keine disruptiven Wesen sind, die einfach nur technologischen Zyklen folgen. Sie sind in ihren Arbeits- und Lebensvollzügen soziale Wesen, die nach Bindung und Verbindlichkeit verlangen, die in ihrer Entwicklung zu selbstsicheren und selbstbewussten Akteuren in einer offenen und demokratischen Gesellschaft institutionenbedürftig sind.
Außerdem zeigt unsere Forschung, dass Erwerbsarbeit auch im Zeitalter digitaler Technologien weiterhin im Mittelpunkt steht - als sinnstiftende, als in der Welt orientierende, als die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten anerkennende Tätigkeit. Ein Abschieben in Alimentierung jedenfalls, davon ist jetzt ja immer mal wieder die Rede, verträgt keine demokratische Gesellschaft. Die Aufgabe, die ansteht, ist nicht die Abfindung von Menschen mit ihrem ökonomischen Schicksal, sondern die Erfindung von Institutionen, die auch in Zukunft sozialen Ausgleich und wechselseitige
Wertschätzung ermöglichen.
Diese Herausforderung wird Sozialforschung nur durch intellektuelle Neugier und konzeptionelle Offenheit lösen können. Sozialforschung ist ein Kooperationsangebot – an andere Disziplinen, aber auch an Aktive in Betrieb, Verband oder Politik. Sozialforschung macht Gesprächsangebote und steigt über akademische Gartenzäune. Wir suchen im SOFI diesen Dialog. Die Projekte in Kooperationen und Verbünden sind schon heute zahlreicher als projektbezogene Einzelforschung. Das muss auch der Weg für die Zukunft sein. Wir als Institut setzen auf die Organisation des öffentlichen Gesprächs. Soziologie ist eine Wissenschaft der Kommunikation, des In-Beziehung-Tretens, des Ins-Gespräch-Kommens. Diese Fähigkeit der Soziologie wird wichtiger - in Zeiten wachsender Empathiemauern und sich selbst bestätigender Weltanschauungsgemeinschaften. Doch wie halten wir den skizzierten Weg begehbar?
(III) Der Göttinger Weg - wie können wir ihn begehbar halten?
Die Antwort sollte wohl sein: Das wird von der Leistungsfähigkeit dieses Instituts abhängen, von den Personen, die dort forschen, von den Profilen, die sich heraus bilden, die sich jetzt neu herausbilden – das Institut steht nicht still, das sieht man an Themen und Präsentationen auch dieser Tagung, an der Methodik der Projekte, an der Vielzahl junger und neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Und klar ist auch, dass wir als Institut gefordert sind, uns sichtbar zu machen, mit unserer Forschungsarbeit Öffentlichkeit zu schaffen, zeitdiagnostisch auf der Höhe zu sein. Wir spüren es, dass Sozialforschung zählt. Diese Gunst der Stunde gilt es zu nutzen. Wissenschaftliche Potenziale gilt es, zu mobilisieren. Wer würde bestreiten wollen, dass es hier nicht noch Spielräume gäbe?!
Doch ebenso klar ist, dass diese Mobilisierungsfähigkeit Grundlagen hat. Das SOFI – und das kann man sicher nach 50 Jahren sagen – lebt als Forschungsinstitut von seinen Kontinuitäten und Stabilitäten, bisweilen auch von seiner Sturheit und den Trägheitsgesetzen, die eine Institution eben entwickelt. Das ist halt so … Das gilt für das hartnäckige Verfolgen von Fragestellungen, das gilt für das Festhalten an der Zentralität von Erwerbsarbeit, das gilt für den Anspruch, gesellschaftlich „zu wirken“, und es gilt auch für das Setzen auf personelle Kontinuität.
Themen brauchen ihre Zeit, grundlagenorientierte Forschung braucht ihre Zeit, forschungsstrategische Interventionen brauchen ihre Zeit – kurz: Forscherinnen und Forscher brauchen Verbindlichkeiten. Wir wünschen uns als Institut, dass wir mit Unterstützung des Landes Niedersachsen und mit Unterstützung unserer Fördermittelgeber weiterhin verbindliche und langfristige Forschungsbedingungen sicherstellen können; in einem Umfeld, in der Wissenschaft oftmals nur noch Projektzyklen kennt. Forschung für eine neue Kartographie der Arbeit, für Ideen einer humanen Gestaltung unserer Gesellschaft braucht verlässliche Rahmenbedingungen – das war die Gründungsidee 1968; und das ist heute 2018 die Voraussetzung zur Fortentwicklung einer Sozialforschung, die die Zeichen der Zeit erkennt …
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Arbeit / Industrie
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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