Ingeborg Villinger | Rezension |

Appell zur Gewöhnung an die evolutionär vibrierende Gesellschaft

Rezension zu „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ von Armin Nassehi

Abbildung Buchcover Unbehagen von Armin Nassehi

Armin Nassehi:
Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft
Deutschland
München 2021: C.H.Beck
384 S., 26,00 EUR
ISBN 978-3-406-77453-9

Große Themen erfordern große Antworten! Armin Nassehi bietet sie und kommt mit seiner systemtheoretischen Perspektive auf die Gesellschaft zu einem mild optimistischen Ausblick – trotz des krisenhaften Unbehagens aus Überforderung. Seine Sicht auf die Dinge führt ihn also gerade nicht, wie das kulturelle Unbehagen seiner Referenz Sigmund Freud, zu einem resignativ-pessimistischen Verzicht, den das erzwingende Über-Ich dem Individuum im Namen der Kultur jederzeit (doch stets unzureichend bleibend) abverlangt, denn der Autor findet seine Kriterien weder in der Natur des Menschen noch in der Struktur einer ethisch-moralisch ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Gesellschaft. Er kehrt vielmehr die Denkrichtung um und nimmt die diagnostizierte Überforderung der Gesellschaft in der Moderne ernst. Damit rücken andere empirische Fragen in den Blick, etwa jene nach den gesellschaftsinternen Verarbeitungsregeln von Organisation, Information und Handlungsmöglichkeiten und deren Verhältnis zur Umwelt.

Krisen sind zuallererst Ereignisse, die sich nicht in die eingeübten institutionalisierten Reaktionsroutinen einordnen lassen, sondern Gewöhnung und Alltag unterbrechen.

Mit Nassehis Herangehensweise wird erkennbar, dass Krisen zuallererst Ereignisse sind, die sich nicht in die eingeübten institutionalisierten Reaktionsroutinen einordnen lassen, sondern Gewöhnung und Alltag unterbrechen. Nassehi demonstriert dies überzeugend am Beispiel von zwei Referenzkrisen: einmal der COVID-19-Krise, in der unter Bedingungen von Unwissenheit die Suche nach Verarbeitungsoptionen quasi in Echtzeit vor den Augen der Öffentlichkeit ablief, wobei permanent politische und institutionelle Steuerungsdefizite, aber auch fehlende Akzeptanz wissenschaftlicher Lösungen offenbar wurden. Als zweiten Anschauungsfall wählt er die völlig anders gelagerte Klimakrise: Ihre sachlichen Zusammenhänge (Ursache und Gegensteuerung) sind längst mehr als gut erforscht und bekannt. Dennoch kann diese Krise „radikale und apokalyptische Diagnosen hervorbringen – je öfter sie wiederholt werden, desto stärker sinkt ihr Informationswert“; alles scheint einfach so weiterzugehen wie bisher, Politik und Gesellschaft scheinen unerreichbar zu bleiben.

Die Beobachtung dieser beiden so verschiedenen Krisen zeigt in aller Schärfe die analytische Notwendigkeit einer Unterscheidung von Sach- und Sozialdimension der Gesellschaft, da nur ein solches methodisches tool eine präzise Beschreibung des Unbehagens der Krisenwahrnehmung, aber auch der sachlichen Realien leisten kann. Erst mit dieser Unterscheidung sieht man einerseits die Muster der Ordnungsbildung einer Gesellschaft und die innere Logik von Prozessen; und andererseits die Logik der meist normativ-ethischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Zugleich wird evident, dass die Problembezüge der beiden Dimensionen extrem unterschiedlich sind: In der Sachdimension geht es um das System unterschiedlicher sachlicher Bedürfnisse und Interessen, um den Eigensinn von Kompetenzen, Fertigkeiten, kurz: um die Eigendynamiken von Wirtschaft, Technik, Wissenschaft, Recht und zahlreichen anderen Teilbereichen der Gesellschaft. Sie alle sind durch eine hohe Eigenlogik gekennzeichnet, die die maßgebliche Voraussetzung ist, um den für die Lösung von Problemen nötigen Komplexitätsgrad zu erreichen, der die eigentliche Leistungsfähigkeit der Moderne ausmacht. In der Sozialdimension dagegen geht es um eine vereinende Erzählung, um die versöhnende Vermittlung von Freiheit und Individualität innerhalb eines Kollektivs, um die Erzeugung von Zeichen einer alle Probleme überragenden Gemeinsamkeit, um Solidarität und Werte wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Anerkennung – um das große Ganze. Während also in der Sachdimension permanent Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem herrscht, wird in der Sozialdimension – nicht selten mit entsprechender Dramatik – eine Art Überzeitigkeit des Gemeinsamen erzeugt.

Diese Heterogenität der beiden Dimensionen ist die eigentliche Quelle der permanenten Überforderung der Gesellschaft – sie wird verschärft durch eine zunehmend funktionale Differenzierung im Bereich der Sachdimension, die die Gesellschaft an die Grenzen des lebensweltlichen Verstehens bringt. Krisenhaft wird dies allzumal dann, wenn dafür keine semantische Erreichbarkeit in der Sozialdimension praktiziert wird, welche die Entlastung nach dem Prinzip der Ganzheitlichkeit bietet. Der Entlastungswunsch, den die Individuen an das familial gedachte Politikmodell als Narrativ an die Sozialdimension herantragen, besteht darin, beide Dimensionen „unter einem Himmel“ (S. 235) zu versammeln. Damit soll der hochgradige Eigensinn der Sachlogiken, der quer zu den (höchst heterogenen) Lebensformen liegt, einander angenähert werden, um auf diese Weise Überforderung und Krisenwahrnehmung der Gesellschaft abzumildern.

Zwar bringt die Gesellschaft Nassehi zufolge das Wissen und die praktischen Optionen zur Problemlösung hervor, sie produziert aber zugleich „die Bedingungen ihrer direktiven Nicht-Umsetzbarkeit“ – das meint sowohl die großen Themen der Gesellschaft (Klimakrise, Gleichheit) wie auch die individuellen Verhaltensdispositionen. Die Gründe dafür sind vielfältig, in jedem Fall steht der Eigensinn (auf der politischen Ebene oft die Logik der Mehrheit, der Ideologie etc.) ihrer Umsetzung entgegen.

Dennoch gibt es nicht wenige Überlegungen, wie beide Dimensionen „unter einen Himmel“ zu bringen sind: Nassehi skizziert mit dem Philosophen Zhao Thingyang die aktuellen meritokratischen Versuchungen des modernen China, das zur Bewältigung der COVID-19-Krise den gemeinsamen konfuzianischen ‚Himmel‘ bemühte, um mit machtstaatlichen Mitteln (höchst erfolgreich) durchzugreifen, während im demokratischen Westen anhaltend Legitimationsfragen staatlichen Handelns erörtert wurden.

Doch auch im Westen finden sich autoritativ-hierarchische Traditionen, um Ordnung zu behaupten, wie unter anderem die Spur des Gegenaufklärers Joseph de Maistre in die Moderne der 1920er-Jahre zeigt: Unter Verweis auf de Maistre transponierte Carl Schmitt die Theologie in machtstaatliche Souveränität, die – nach dem Modell der Theodizee – keiner weiteren Erklärung zugänglich ist und lediglich der Fähigkeit eigener Willensdurchsetzung bedarf. Das Muster für die „Soziodizee“ (Nassehi) Carl Schmitts war die juridisch-institutionelle Rationalität des Katholizismus, das er beispielsweise 1934 (sogenannter Röhm-Putsch) dem Führerwillen als souveränen Schutz der Rechte supponierte. Schmitt konnte damit Rechtskontinuität behaupten, obwohl das „Recht auf jedes Recht“ (Hannah Arendt) längst verabschiedet war.

Derartige Überlegungen sind, so betont der Autor, bis heute eminent lehrreich, denn Schmitts Berufung auf die theologisch-juridischen Grundlagen einer ebenso unüberbietbaren wie intransparenten Legitimation wendet sich gegen das drohende „Säkularisierungsrisiko des Politischen“ und versucht dessen Unbedingtheit zu retten. Nassehis Kontrastierung der meritokratischen und illiberalen Versuchungen, die er als Reaktionen auf das anhaltende Krisenszenario der Moderne schildert, kann den Lesern dringend anempfohlen werden – gibt sie doch profunde Antworten auf den Sirenengesang derartiger Lösungen.

Es stellt sich die Frage, ob es ein Zuviel an Pluralität, Diversität, Eigensinn, Komplexität und funktionaler Differenzierung geben kann, sodass Ordnung, Orientierung, Lösungskompetenzen und Routinen einer Gesellschaft ernsthaft bedroht sind.

Denn der Autor lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass solche Lösungen keine sind; bereits deshalb, weil nie sichergestellt ist, ob die Entscheidungsträger wirklich im Sinne des Ganzen handeln. Außerdem gehen mit einer solch Zwangsvereinigung von Sach- und Sozialdimension „unter einen Himmel“ genau jene Komplexität und Ausdifferenzierung, jener Eigensinn verloren, die die eigentliche Leistungsfähigkeit der Moderne ausmachen und eine evolutionäre Veränderung der Gesellschaft hervorbringen können. Allerdings stellt sich die Frage, ob es nicht doch ein Zuviel an Pluralität, Diversität, Eigensinn, Komplexität und funktionaler Differenzierung geben kann, sodass Ordnung, Orientierung, Lösungskompetenzen und Routinen einer Gesellschaft ernsthaft bedroht sind. Bereits in Böckenfördes berühmter Sentenz, dass der moderne liberale Staat von Grundlagen lebt, die er selbst nicht mehr garantieren kann, scheint dieses Risiko auf. (Die ängstliche Vermeidung des Wortes „Flüchtlinge“ im Wahlkampf 2021 indiziert die drohenden Verwerfungen der Routinen in der Sozialdimension, obwohl auf der Ebene Sachdimension ein echter Erfolg zu verbuchen ist.) Nochmals: Kann es in einer demokratischen Gesellschaft das Risiko eines Zuviel an Differenzierung geben, da sie keine Stoppregel dafür kennt?

Nassehi betont in diesem Kontext nachdrücklich, dass gesellschaftliche Praxis – weil ihre Ordnung kontingent ist – sich davor schützen muss, alles transparent zu machen. Doch kann es dabei nicht um Ausdifferenzierung und Komplexität infrage stellende Unbedingtheiten gehen, sondern vielmehr um einen scheinbar ‚natürlichen‘ Latenzschutz, der die Arbitraritiät des „Maschinenraums (S. 303) zu verdecken vermag. Denn nur so können Prozesse kontinuieren und die filigrane Ordnung aufrechterhalten, es gilt: Eine „durchschaubare Welt ist eine unsichere Welt“ (S. 328).

Tatsächlich sind die praktizierten unterkomplexen Funktionslogiken des Politischen, die einen Widerschein von familialer Unbedingtheit suggerieren, die mehr oder weniger intuitive „Benutzeroberfläche“ (bspw. S. 157, S. 196, S. 303) des verdeckten Maschinenraums. Sie ermöglichen angesichts der differenzierten Gesellschaftsstruktur eine Rekombination von Problemfeldern, indem sie für Kontinuität sorgen, Risikoarrangements bereitstellen, Muster der Ordnungsbildung über Teilsysteme hinweg aufzeigen und Kalkulierbarkeit strukturieren. Letztlich schaffen die vereinfachten Benutzeroberflächen Orte, Räume und Begründungsfelder, die eine evolutionäre Veränderung der Gesellschaft ermöglichen, weil sie beispielsweise Gefahren in Risiken verwandeln. Ethik, so Nassehi, ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass dabei die Logiken der beiden ansonsten getrennten Dimensionen aufeinandertreffen – operativ bleiben sie getrennt, doch organisatorisch finden sie zusammen.

Obwohl er umfänglich und informativ auf die Ideen von Parsons, Bourdieu, Weber, Schmitt und vielen anderen zurückgreift, verzichtet der Autor ärgerlicherweise auf ein Namensregister. Auch wenn die systemtheoretische Soziologie nicht an der Anordnung von Personen interessiert ist, bleibt dies ein beklagenswertes Defizit des Buches. Ansonsten ist das ungemein spannende, sehr informative und anhand vieler anschaulicher Beispiele aus unterschiedlichen Forschungsfeldern argumentierende Werk – trotz hoher Komplexität – ein großer Lesegenuss. Auf einer Metaebene bietet Nassehi damit einen orientierenden Blick auf die meist verstellten, doch grundlegenden Funktionsmodi von Politik und Gesellschaft – eine solche Kartografie der Bedingungen des „Unbehagens“ dient der Aufklärung im eminenten Sinn dieses Begriffs.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Moderne / Postmoderne Politik Systemtheorie / Soziale Systeme

Abbildung Profilbild Ingeborg Villinger

Ingeborg Villinger

Ingeborg Villinger studierte Politik- und Literaturwissenschaft, Geschichte und Komparatistik. Nach ihrer Promotion über Carl Schmitt und ihrer Habilitation über Ernst Cassirer war sie bis 2009 Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Freiburg.

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