Jens Bisky | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im Oktober 2025

Born to Rule nannten die Soziologen Aaron Reeves und Sam Friedman ihr 2024 erschienenes Buch über The Making and Remaking of the British Elite. Für ihre Studie untersuchten sie die Karrieren von 125.000 Personen, die seit 1897 im Who’s Who verzeichnet wurden, sie schätzten deren Vermögen, organisierten eine Umfrage, führten über 200 qualitative Interviews mit Angehörigen der Elite. An der Spitze der Gesellschaft, so ihr Ergebnis, habe sich weniger verändert, als meist angenommen. Gewiss gab es Fortschritte bei der Inklusion von Frauen wie von nicht-weißen Briten, doch nach wie vor bleibt Herkunft entscheidend. Wer im einen Prozent an der Spitze geboren wurde, hat ebenso gute Chancen auf eine Elitenposition wie vor 125 Jahren. Verändert habe sich laut den beiden Soziologen von der London School of Economics die Selbstdarstellung der Eliten: Sie versuchen, den Eindruck zu erzeugen, ganz normal zu sein.[1] Born to Rule fand viel Beachtung, The Economist und The Times zählten es zu den besten Büchern des Jahres.

Die obszöne Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung, die populistischen Angriffe auf „die da oben“, die Blockaden von sozialem Aufstieg in der „Abstiegsgesellschaft“ (Oliver Nachtwey), die anhaltende Diskussion um Ostdeutsche in Führungspositionen, Veränderungen im Elitenhabitus, auch der Erfolg der spanischen Netflix-Serie Élitesprechen dafür, dass elitensoziologische Fragen und Untersuchungen in den kommenden Jahren mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen können. Wer sich für die Verhältnisse in der Bundesrepublik interessiert, für deren Selbstbild Mittelschichtstugenden und Aufstiegserwartungen wesentlich sind, kommt an Michael Hartmann nicht vorbei. Hartmann hat sich über drei Jahrzehnte mit den deutschen Eliten befasst und wurde dabei nicht müde, über die demokratiegefährdende Parallelgesellschaft der Abgehobenen aufzuklären. Im Berliner Journal für Soziologie greift er jetzt zeitlich weiter zurück und behandelt die soziale Rekrutierung der deutschen Eliten über anderthalb Jahrhunderte, „vom Kaiserreich bis heute“. Der Titel seines Aufsatzes fasst das Ergebnis prägnant zusammen: „Mehr Kontinuität als Wandel“.

Für die Studie wurden Angaben zu 2400 Personen recherchiert, die zwischen 1871 und dem 30. Juni 2024 den „vier zentralen Eliten des Landes“ (S. 191) angehörten. Für Hartmann sind das Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Justiz. Wenig überraschend ist der Befund, dass der alte Adel die politische Elite des Kaiserreichs dominierte, gut 44 Prozent der Spitzenpolitiker gehörten dieser Schicht an (S. 193). In der Verwaltung lag der Anteil des Adels niedriger, doch stellten „Sprösslinge von bereits vor 1800 geadelten Familien“ im Durchschnitt bis zu 60 Prozent der einflussreichen preußischen Oberpräsidenten, „und bei weiteren knapp 15 % waren die Väter im 19. Jahrhundert neu Nobilitierte“ (S. 194). In der Justiz überwogen Söhne aus bürgerlichen und großbürgerlichen Familien. Unter den Generaldirektoren der hundert größten deutschen Unternehmen des Jahres 1907 stellten Firmenerben mit 31,8 Prozent die größte Gruppe, 30,6 Prozent entstammten dem Großbürgertum. „Aus bürgerlichen Verhältnissen kam fast jeder Fünfte, aus dem Kleinbürgertum immerhin noch fast jeder Neunte und nur gut jeder Dreißigste aus der Arbeiterklasse.“ (S. 195)

Mit den Revolutionen des Jahres 1918 verlor der Adel seine „zentrale Machtstellung“ – wenigstens bis zu Franz von Papens „Kabinett der Barone“. Hartmann unterscheidet „hinsichtlich der sozialen Rekrutierung der politischen Elite“ drei Phasen: In den fünf Kabinetten zwischen Juni 1919 und November 1922 „waren Arbeiterkinder so stark repräsentiert wie danach nie wieder. Sie stellten mit 18,2 Prozent fast jeden fünften Minister.“ (S. 196) 48 Prozent stammten aus den Mittelschichten. Als am 22. November 1922 der parteilose Wilhelm Cuno Reichskanzler wurde, änderte sich dies auffallend. In den zehn Kabinetten bis zum März 1930 waren nur noch 6 Prozent der Kabinettsmitglieder Arbeiterkinder, 42 Prozent kamen aus Mittelschichtsfamilien. In den Präsidialkabinetten Brünings, Papens und Schleichers fehlten Arbeiterkinder ganz, „die aus dem Bürger-, dem Großbürgertum und dem Adel stammenden Politiker stellten nun eine Dreiviertelmehrheit“ (S. 196).

In der Verwaltung herrschte im Großen und Ganzen Kontinuität: Es dominierten Männer aus bürgerlichen- und großbürgerlichen Verhältnissen, der Adel stellte mit 10,3 Prozent mehr Spitzenbeamte als die Mittelschichten mit 8,6 Prozent (S. 197). In der Justiz sank der Anteil der Adelssprösslinge zugunsten der Großbürgerkinder. In der Wirtschaft stieg der Anteil der Firmenerben auf fast die Hälfte, der Anteil der Mittelschichtskinder wuchs um 5 Prozentpunkte (S. 197).

Die politische Elite des Dritten Reiches war, so Hartmann, im Vergleich zur Weimarer Republik „sozial erheblich exklusiver“ (S. 199). Zwar ging der Adelsanteil zurück, dafür stieg der Anteil von Bürger- und Großbürgertum auf über 69 Prozent (S. 199). In der Verwaltung gewannen die Beamten aus Mittelschichtsfamilien, sie stellten 27 Prozent der Staatssekretäre und konnten ihren Anteil damit verdreifachen. Ähnliches lässt sich in abgeschwächter Form in der NS-Justiz beobachten. Der Anteil von Juristen aus den Mittelschichten wuchs – zuungunsten der Söhne aus Adel und Großbürgertum. In der Wirtschaftselite veränderte sich die Aufstiegsmobilität nur wenig, allerdings stellten Bürgerkinder „nun mehr als jeden dritten statt wie im Kaiserreich nur knapp jeden sechsten Generaldirektor“ (S. 200).

Kennzeichnend für die Bundesrepublik ist die scharfe politische Zäsur am Beginn. Keiner der wichtigen NS-Politiker konnte eine Position in der neuen politischen Elite erlangen. Dass es andererseits in der Justiz, der Verwaltung und der Wirtschaft erhebliche Kontinuitäten gab, ist über Jahrzehnte skandalisiert und analysiert worden – zuletzt besonders eindrucksvoll in der Behördenforschung. Ausgehend von dieser Beobachtung vermutet Hartmann eine „Hierarchie der sozialen Exklusivität mit der Wirtschaftselite ganz oben, gefolgt von der Justizelite, dann der Verwaltungselite und am unteren Ende der politischen Elite“ (S. 201).

Von 1949 bis 2024 stammten fast 53 Prozent der Kabinettsmitglieder aus den Mittelschichten und der Arbeiterklasse. Allerdings sind zwei Perioden zu unterscheiden: Bis Ende des 20. Jahrhunderts kamen 55 Prozent der Regierungspolitikerinnen und -politiker „aus der breiten Bevölkerung“ (S. 203), 45 Prozent dagegen waren in bürgerlichen oder großbürgerlichen Familien aufgewachsen. Seit der Jahrhundertwende hat sich dieses Verhältnis verkehrt: Eine im Herkunftssinne bürgerliche Kabinettsmehrheit war in den ersten fünfzig Jahren der Bundesrepublik eine Ausnahme. Inzwischen sei sie zur Regel geworden. Bis 1999 stellten soziale Aufsteiger und Aufsteigerinnen mit knapp 56 Prozent die Mehrheit der politischen Elite, seitdem ist ihr Anteil um beinahe 9 Prozentpunkte zurückgegangen (S. 203). Umfassende Zahlen für die Verwaltungselite fehlen. Fragt man nach der Herkunft der Staatssekretärinnen und Staatssekretäre, lässt sich, so Hartmann, „eine ganz leichte soziale Öffnung erkennen“. Die soziale Rekrutierung erweise sich „als sehr stabil“ (S. 203).

Wenig anders sieht es in der Justizelite aus. 2012 stammten zwei Drittel der Präsidentinnen und Präsidenten, der Vorsitzenden Richter und Richterinnen der Bundesgerichte aus dem Bürger- und Großbürgertum. Aus diesem rekrutiert sich zu vier Fünfteln auch die Wirtschaftselite. Erheblich gestiegen ist vor allem die Zahl der Firmenerben unter den Vorstandsvorsitzenden: von 12,1 Prozent im Jahr 1970 auf 20,5 Prozent im Jahr 2020.

Im Rückblick fällt zuerst das Verschwinden des Adels auf, der in den zentralen Eliten keine große Rolle mehr spielt. Ob und wie er seinen Macht- und Bedeutungsverlust auf anderen Gebieten zu kompensieren, wenigstens teilweise auszugleichen vermochte, wäre zu untersuchen, so Hartmann. Ansonsten konstatiert er geringe und sehr langsame Veränderungen, die deutschen Eliten zeichnen sich „alles in allem durch eine überraschend geringe soziale Mobilität aus“: „Trotz des massiven Wachstums der Mittelschichten ist die Herkunft aus den oberen drei bis vier Prozent der Bevölkerung – bürgerlichen und großbürgerlichen sowie anfangs auch noch adligen Familien – über eineinhalb Jahrhunderte der entscheidende Faktor für den Zugang zu Elitenpositionen geblieben.“ (S. 209) Darüber werde, sagt Hartmann, zu wenig gesprochen. Sein in vielen Details erhellender Aufsatz wäre eine gute Grundlage für eine Längsschnittuntersuchung der deutschen Eliten in Buchform. Dort fände auch hier aus guten Gründen Vernachlässigtes seinen angemessenen Platz: die militärische Elite und die Eliten in der DDR.

Ganz anders und mit großem Gewinn untersuchen Lars Vogel und Christian Schneickert in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie die „Elitenzirkulation in Deutschland“ Sie fragen nach Veränderungen in den Positionseliten in zwölf relevanten gesellschaftlichen Sektoren, nämlich: Politik, Wirtschaft und Arbeitgeberverbände, Verwaltung, Wissenschaft, Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände, Justiz, Militär, Sicherheit, Medien, Kultur, Zivilgesellschaft, Religion. Sie untersuchen die vertikale Elitenzirkulation zwischen 2018 und 2022, also das „Ausscheiden von Personen aus den höchsten Führungspositionen der wichtigsten Organisationen und Institutionen“ (S. 149). Dabei beziehen sie sich auf Daten des Elitenmonitors: biografische Informationen zu über 2375 Personen, die 2018 eine Elitenposition einnahmen. Als Eliten gelten „die Inhaber und Inhaberinnen der Führungspositionen zentraler gesellschaftlicher Organisationen“. Ihre Position erlaubt es ihnen, „gesellschaftlich relevante Entscheidungen regelmäßig und substanziell“ zu treffen oder zu beeinflussen. Im Untersuchungszeitraum endete die Ära Merkel, die Ampelregierung nahm ihre Arbeit auf – es lässt sich also ein „,most-likely case‘ für Elitenzirkulation außerhalb von Systemwechseln“ beobachten (S. 153).

Der Aufsatz sei auch deswegen empfohlen, weil er einen guten Einblick in Thesen und Argumente sozialwissenschaftlicher Elitentheorien bietet. Aus konflikttheoretischer Sicht entscheiden Machtverhältnisse über Rekrutierung und Zirkulation von Eliten. Wer einmal eine Führungsposition erreicht hat, dürfte vieles daransetzen, sie zu behalten: „So gesehen könnte das Ausmaß an Elitenzirkulation ein Indikator für die Fähigkeit der Eliten sein, den Zu- und Abgang aus Elitenpositionen zu beeinflussen – und damit auch ein Indikator für eine Form von Macht.“ (S. 156) Vogel und Schneickert entwickeln daraus die Annahme, dass die Teileliten in den einflussreichsten Sektoren – Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Justiz – die geringste Elitenzirkulation aufweisen.

Aus funktionalistischer Perspektive besitzt jeder der Sektoren Autonomie, keiner nimmt eine hegemoniale Stellung ein, wohl aber kann „eine funktional begründete Hierarchie der Eliten“ bestehen (S. 157). Aufgrund der Eigenlogik in jedem Sektor existieren je spezifische Karrierewege, von den formalisierten Laufbahnen etwa in der Justiz bis zu den offenen Karrierewegen in Medien und Kultur. Betrachtet man die verschiedenen Organisationslogiken näher, liegt eine zweite Hypothese nahe: „Aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen ist für Politik und Justiz eine erhöhte, für Verwaltung, Militär und Wirtschaft eine verringerte Ausscheiderate zu erwarten.“ (S. 160) Zudem lässt sich vermuten, dass „Elitengruppierungen, deren sozialstrukturelle Merkmale von denen der etablierten Eliten abweichen“, eher ausscheiden (S. 160). Daher die dritte Hypothese: „Personen mit dem durchschnittlichen Sozialprofil der Eliten in Deutschland (westdeutsche, männliche Personen ohne Migrationshintergrund) weisen im Durchschnitt eine geringere vertikale Elitenzirkulation auf als Frauen, Ostdeutsche oder Personen mit Migrationshintergrund.“ (S. 161)

Die Untersuchungsergebnisse bestätigen die Annahmen nicht. Das Ausmaß der Elitenzirkulation scheint erheblich. Zwischen 2018 und 2022 behielten fast 40 Prozent „unverändert dieselbe Position“, zehn Prozent wechselten auf eine andere Elitenposition, fast 50 Prozent schieden aus (S. 166). Dabei wiesen die Sektoren unterschiedliche Zirkulationsraten auf: Das Maß an personellem Austausch war besonders groß in den Bereichen Gewerkschaften/Arbeitnehmerverbände, Sicherheit, Politik, Militär und staatliche Verwaltung; im Mittelfeld lagen Wirtschaft und Justiz. „Die geringste Elitenzirkulation fand innerhalb der Medien, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kultur und Religion statt. Auch die zweite Hypothese konnte nicht bestätigt werden: Anders als theoretisch zu erwarten war, „sind die Ausscheideraten in Militär, Verwaltung und Wirtschaft erhöht und in der Justiz leicht verringert“ (S. 167).

Die Autoren diskutieren und prüfen Sondereffekte, Verzerrungen und mögliche Einwände. Es bleiben interessante Beobachtungen: Zum einen sind innerhalb von vier Jahren die Hälfte der Personen aus Elitenpositionen ausgeschieden. Das spreche, so Vogel und Schneickert, „zumindest nicht für eine völlig abgeschottete und personell stabile Machtelite im Sinne hegemonialer Sektoren […], deren Angehörige die Bedingungen ihres Zu- und Abgangs kontrollieren“ (S. 170). Zum anderen zeichnen „sich gerade die dem Selbstverständnis sowie der elitentheoretischen Einschätzung nach nicht-dominanten bis herrschaftskritischen Sektoren (Religion, Kultur, Zivilgesellschaft, Medien, in Teilen auch Wissenschaft) durch im Vergleich höhere personelle Stabilität aus“ (S. 170). Es lassen sich darüber hinaus keine höheren Ausscheideraten von Frauen oder Personen mit Migrationshintergrund feststellen, lediglich Ostdeutsche scheiden in der Tendenz häufiger aus, allerdings ist der Unterschied nicht groß. Leider fehlen Daten zur sozialen Herkunft, sodass diese nicht berücksichtigt wurde.

Lars Vogel und Christian Schneickert wollen ihre Untersuchung als Auftakt für eine Dauerbeobachtung von Elitenzirkulation verstanden wissen. Auch seien für ein besseres Verständnis international vergleichende Querschnittsuntersuchungen erforderlich. Ihre Daten zeigen, dass es irreführend ist, von der Elite zu sprechen. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sektoren lassen sich „nicht mit aus den zentralen Elitentheorien entwickelten Hypothesen erklären“ (S. 173). Also braucht es, will man sich nicht mit elitenkritischen Klischees begnügen, mehr Daten, neue Thesen, Theorien mittlerer Reichweite.

Einen aufschlussreichen Einblick in das Leben der Wirtschaftselite bietet ein Aufsatz von Katie Higgins im British Journal of Sociology: „Therapy Culture for the Business Class“. Auf der Basis von 41 Interviews mit reichen, in und um Manchester lebenden Angehörigen der Business Class untersucht sie Organisation und Bedeutung einer CEO peer group, die sich OBP (Organization for Business Peers) nennt. Mitte des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten gegründet, zählt diese heute weltweit Zehntausende Mitglieder. Die Aktivitäten sind vielfältig, am wichtigsten für diese Organisation sind kleine, lokale Zusammenschlüsse, Foren von Führungskräften, die nicht in wirtschaftlicher Konkurrenz zueinander stehen und sich regelmäßig treffen, um in vertraulicher Atmosphäre und vertrauter Umgebung über Geschäftliches, Familiäres und Persönliches zu sprechen. Der Zeitaufwand ist hoch und erfordert von den üblicherweise sechs bis acht Personen Engagement und die Bereitschaft, sich emotional zu öffnen. Man trifft sich einmal im Monat für vier Stunden zu einer Art „group coaching session“ (S. 2), wobei kein professioneller Coach hinzugezogen wird. Die Mitglieder organisieren und moderieren ihre Treffen selbst. Den Vorteil charakterisiert einer der Interviewten so: “It’s almost like a board of non‐executive directors. These people are all experienced. All have their own contacts… [and] they’ve no axe to grind, so they’re not ‘Yes men’. They’ll say, ‘What [are] you talking about? That’s stupid.’“ (S. 4). Die meisten der Befragten fühlen sich einsam an der Spitze, isoliert im professionellen Umfeld und nutzen daher die Möglichkeit zur Selbsthilfe in diesem Club, der mit traditionellen Clubs und old-boy-Netzwerken wenig gemein hat. Hier finden die erfahrenen, vermögenden Frauen und Männer der Business Class einen Raum, in dem sie unter ihresgleichen über Ängste, Sorgen und Probleme sprechen können. Einer vergleicht die Organisation mit den Anonymen Alkoholikern (S. 5). Strenge Regeln ermöglichen es, über Schwächen und Selbstzweifel ehrlich zu sprechen. Es wird erwartet, dass alle pünktlich und regelmäßig erscheinen, mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache sind – Smartphones sind stummgeschaltet, Laptops aus. Jede und jeder erhält gleich viel Sprechzeit. Nach der Begrüßung geht es mit einer Übungs- und Lockerungsrunde zwecks Vertrauensbildung los, etwa der Frage, wie die eigene Mutter das heutige Ich eines jeden Teilnehmers geprägt hat. Anschließend tauscht man sich über professionelle wie private Neuigkeiten aus, dann folgt die Präsentation eines geschäftlichen oder persönlichen Problems, über das offen diskutiert wird. Da kann es um Fragen der Testamentsgestaltung oder um aggressive Konkurrenten gehen.

Das Reglement sichert Gleichheit und Gegenseitigkeit unter gewiss großen Egos. Dazu wird bewusst das bewährte Repertoire der therapeutischen Kultur genutzt. In einem der Interviews heißt es: “I think the biggest takeaway from it is the ability for leaders, particularly men, to go into emotional vulnerability… opening up that space has got to be a societal benefit.“ (S. 7). Katie Higgins schildert auch Fälle, in denen einzelne die Foren wieder verlassen haben, weil sie ihnen nicht länger nützlich oder ihren Werten zuwiderlaufend erschienen. Die kleinen, äußerst exklusiven Gruppen beruhen auf Homophilie, strukturierter Gegenseitigkeit und der therapeutischen Kultur, wie sie vor allem Eva Illouz analysiert hat. Entschlossen adressiert OBP die mit der Isolation an der Spitze einhergehenden psychischen und sonstigen Probleme. Deutlich wird auch, dass die Floskel „It’s lonely at the top“ gut zur Legitimation obszöner Ungleichheit taugt. Bei Forumstreffen traditionell als weiblich gedeutete Charaktereigenschaften zu zelebrieren, ermöglicht es, im Berufsleben weiter Erwartungen und Normen zu folgen, die als männlich gelten. Man kann unter Seinesgleichen Schwächen gut eingestehen und dennoch seine eigenen Interessen in aller Härte weiterverfolgen. Einer, der ausgeschieden ist, erklärte dies im Interview so: „I think there are some incredibly wealthy people in our region who have minimum wage workforce who don’t need to have a minimum wage workforce that can afford to pay better and just choose not to ‘cos it’s all about profit and I just think that’s wrong. […] And having had one too many arguments with members of OBP about this subject, I decided it wasn’t the group for me.” (S. 8)

  1. Lion Hubrich hat das Buch auf Soziopolis rezensiert [28.10.2025].

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Henriette Liebhart.

Kategorien: Gruppen / Organisationen / Netzwerke Macht Sozialstruktur

Jens Bisky

Dr. Jens Bisky ist Germanist und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis. (Foto: Bernhardt Link /Farbtonwerk)

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