Stefan Wallaschek | Rezension | 22.05.2018
Bedingt realitätstauglich
Seyla Benhabib plädiert für einen Kosmopolitismus ohne Illusionen

Dass Seyla Benhabib in diesen turbulenten Zeiten ausgerechnet über Kosmopolitismus nachdenkt, mag nicht jeder[1] sofort einleuchten. Zu viel Gewalt, Hass und Zerstörung gibt es von Mexiko bis Syrien und von der Krim bis in den Jemen, als dass man sich eine kosmopolitische Welt vorstellen könnte, die durch Menschenrechte, Selbstbestimmung und demokratische Prozesse konstituiert ist.
Doch genau das versucht die hier zu besprechende Aufsatzsammlung der an der Yale University lehrenden Politikwissenschaftlerin und Philosophin Seyla Benhabib, der im Wesentlichen auf Beiträgen des Bandes Dignity in Adversity basiert.[2] Für die sorgfältig edierte deutschsprachige Ausgabe hat Benhabib die Auswahl variiert[3] und die Aufsätze teilweise überarbeitet und mit Blick auf neuere Entwicklungen ergänzt. So nimmt sie beispielsweise in mehreren Texten ausdrücklich Bezug auf den „Sommer der Migration“[4] des Jahres 2015.
Benhabibs Beschäftigung mit der Thematik des Kosmopolitismus nimmt ihren Ausgang von alltäglichen Menschenrechtsverletzungen, die sie zum Anlass nimmt, an das den Menschenrechten innewohnende emanzipatorische Potenzial und das damit verbundene Versprechen auf ein Leben in Würde zu erinnern. Benhabib ist nicht so naiv, an einen linearen Prozess der weltweiten Implementierung der Menschenrechte zu glauben. Ebenso wenig geht es ihr um eine aggressive Durchsetzung derselben um jeden Preis. Ihr zufolge müssen Menschenrechte vielmehr kontextsensibel gedacht und in lokale soziale, politische und kulturelle Praktiken eingebettet werden, weshalb ihre besondere Aufmerksamkeit dem Problem der Vermittlung von universalistischem Anspruch und partikularer Implementierung gilt. Vor dem Hintergrund von Migrationsbewegungen, der Fragilität staatlicher Souveränität oder der Spannung zwischen Staatsbürgerrechten und Menschenrechten widmet sich Benhabib in neun Kapiteln verschiedenen Formen und Herausforderungen dieses Vermittlungsprozesses.
Im Einleitungskapitel setzt sich Benhabib zunächst mit dem Begriff des „Kosmopolitismus“ auseinander, den sie im Spannungsverhältnis von Partikularismus und Universalismus verhandelt. Im Anschluss an David Depew[5] plädiert sie dafür, Kosmopolitismus als ein „kritisches Ideal“ zu begreifen (S. 20), welches weder vorschnell als subtile Form imperialistischer Herrschaft noch als fixe Idee eines utopistischen Universalismus missdeutet werden sollte. Stattdessen wirbt Benhabib für einen „Kosmopolitismus ohne Illusionen“, dessen Konzeptualisierung und Konturierung die nachfolgenden Kapitel gewidmet sind
In den Kapiteln zwei bis vier entwickelt Benhabib die theoretischen Grundlagen zur Bearbeitung des von ihr als zentral erachteten Problems der Vermittlung von universellen menschenrechtlichen Geltungsansprüchen und sozio-kulturell divergierenden Umsetzungsbedingungen. Zu diesem Zweck reformuliert sie Hannah Arendts Diktum vom „Recht, Rechte zu haben“, und fordert anstelle eines auf politischer Zugehörigkeit basierenden Rechts ein Recht, das einem jeden Menschen qua Menschsein zukommt. Das in der Formulierung als erstes genannte „Recht“ meint dabei das moralische Recht, überall und zu jeder Zeit als Mensch anerkannt zu werden – und zwar unabhängig von anderen Zugehörigkeiten wie beispielsweise der Staatsangehörigkeit. Das zweite „Recht“ in Arendts Diktum wird von Benhabib diskurstheoretisch gedeutet: So versteht sie Menschenrechte als stets vorläufige Ergebnisse prozeduraler Aushandlungsprozesse, in denen die Menschen sich im Medium moralischer Diskurse um deren Ausgestaltung und Gültigkeit bemühen. Der moralische Kern der Menschenrechte wird durch die konkreten politisch-justiziablen Rechtsansprüche komplementiert, die dann ebenfalls Teil der Diskursaushandlungen sind.[6]
Benhabib ist es um zweierlei zu tun: Zum einen hält sie das moralische und unbedingte Recht des Einzelnen auf sein Menschsein und eine menschenwürdige Behandlung hoch, zum anderen hebt sie die Bedeutung des Rechts auf Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung hervor. Als logische Konsequenz aus ihrem Bemühen um die Verbindung der beiden Rechtsansprüche plädiert Benhabib für ein Menschenrecht auf Demokratie. Denn wie ließe sich effektiv gegen Einschränkungen bestimmter Menschenrechte, etwa der Religions- oder Meinungsfreiheit, vorgehen, wenn nicht unter Berufung auf das Recht zur Selbstgesetzgebung und mit Hilfe der Ausübung demokratischer Praxen? Alle partikularen Aushandlungen der Menschenrechte müssen sich Benhabib zufolge am diskursethischen Ideal messen lassen – was konkret nichts anderes bedeutet, als dass es gute Gründe braucht, um etwaige Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen oder in Frage zu stellen. Darin sieht Benhabib die Möglichkeit für zivilgesellschaftliche und andere Akteure, Menschenrechte einzufordern und bestehende Praktiken auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Mit Hilfe dieses prozeduralen Verfahrens soll sichergestellt werden, so Benhabib, dass „die Menschen nicht bloß als dem Recht Unterworfene, sondern auch als Urheber des Rechts betrachtet werden“ können (S. 115).
Emanzipatorische Potenziale des Kosmopolitismus
Die Kapitel fünf bis acht bauen inhaltlich auf den theoretischen Ausführungen der vorhergehenden Kapitel auf. In ihnen argumentiert Benhabib für die These von der gewachsenen Bedeutung kosmopolitischer Normen im globalen Recht. Bestand das bevorzugte Instrument internationaler Politik lange Zeit in zwischenstaatlichen Verträgen, in denen die Vertragspartner einander als handelnde Akteure adressierten, so existieren mittlerweile eine Reihe von Abkommen, die sich auf andere, nicht-staatliche Akteure und Individuen beziehen. Das geschieht zum Beispiel in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (samt Protokoll von 1967) oder der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), die 1981 in Kraft trat.
Vor diesem Hintergrund kritisiert Benhabib unter anderem neomarxistische und postkoloniale Kritiken der Menschenrechte, die in selbigen nur ein weiteres Instrument des westlichen Imperialismus und Neokolonialismus sehen können. Diese Kritik, so Benhabib, übersehe zum einen das emanzipatorische Potenzial der Menschenrechte im Rahmen von wirtschaftlichen Prozessen, wie es sich beispielsweise im Recht auf faire Arbeitsbedingungen und gleichen Lohn (Art. 23) findet. Zum anderen gehe vor allem die postkoloniale Perspektive davon aus, dass Ideen wie Gleichheit oder Freiheit genuin westliche Konzepte seien und deshalb auch nur in dem betreffenden Kontext Gültigkeit besäßen. Dabei würden jedoch die Prozesse wechselseitiger Beeinflussung von Normen zwischen verschiedenen Kulturen unterschätzt: Ideen wie Gleichheit oder Freiheit gebe es in vielen Kulturen und diese Gemeinsamkeit gelte es herauszustellen. Darauf aufbauend ließen sich dann die verschiedenen Bedeutungsebenen und kulturellen Unterschiede diskursethisch verhandeln.
Die Umsetzung diskursethischer Verfahren und die demokratietheoretische Einbettung derselben werden anhand der Begriffe „Jurisgenerativität“ und „demokratische Iterationen“, die eng miteinander verwoben sind, verdeutlicht. Jurisgenerativität betont im Anschluss an Arbeiten von Robert Cover[7] die vielfältige Bedeutung, die das Recht haben kann, sowie den Interpretationsspielraum, den es bietet. Rechte werden ausgelegt, erlangen in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Bedeutungen, verändern sich und schaffen so Normenkonflikte.[8] Damit unterstreicht Benhabib neben der legalen Funktion von Recht auch dessen normative Kraft. Diese besteht ihr zufolge in der Schaffung einer moralischen Sprache, durch die neue Forderungen oder Kritiken artikulierbar werden. Hier schließt die Idee der „demokratischen Iterationen“ an, die Benhabib in Anlehnung an Jacques Derrida entwickelt hat (wobei sie diese Referenz im hier besprochenen Band nicht mehr deutlich macht).[9] Demokratische Iterationen sind bei Benhabib Kommunikations- und Interaktionsprozesse, in denen freie Willens- und Meinungsbildung stattfindet. Basierend auf diskursethischen Prinzipien (Gleichheit, Symmetrie und Reziprozität) werden in diesen Prozessen Entscheidungen ausgehandelt und interpretiert. Dabei spielen kulturelle, soziale oder politische Kontextfaktoren eine Rolle und fließen mit in den Diskurs ein. Benhabib hebt den Aspekt der interaktiven Aushandlung hervor, um die Menschen nicht allein als Unterworfene, sondern auch als Urheber des Rechts zu berücksichtigen (s. o.). Eine kollektiv ausgehandelte Regel gewinnt nach Benhabib nicht nur an demokratischer Legitimität, sondern wird auch aus einem strikt universalistischen Denken herausgelöst. Der iterative Charakter des Rechts, also der Umstand, dass einmal verabschiedete Normen unter Rekurs auf neue „gute Gründe“ auch wieder zur Disposition gestellt werden können, bildet für Benhabib mithin die Voraussetzung dafür, dass Menschenrechte andere Bedeutungskontexte gewinnen oder um neue Rechte erweitert werden können.[10]
In kreativer Auseinandersetzung mit den internationalen Abkommen über Menschenrechte, den gegenwärtigen Migrationsbewegungen und der Veränderung nationalstaatlicher Souveränität plädiert Benhabib für ein Menschenrecht auf Zugehörigkeit: Keinem Menschen dürfe aufgrund askriptiver Eigenschaften dauerhaft der Zugang zu einem Staat verwehrt werden. Benhabib plädiert jedoch nicht für offene Grenzen, sondern für die Regulierung von Zuwanderung mittels spezifischer Restriktionen wie zum Beispiel dem Besitz von Sprachkenntnissen oder „marktfähige[n] Qualifikationen“ (S. 193), die je nach Land verschieden sein können.[11] Die Autorin rechtfertigt diese Einschränkung mit der „Logik demokratischer Repräsentation“ (S. 195–198): Das Volk, welches sich durch Abgrenzung nach außen konstituiert, autorisiert Gesetze, die durch (gewählte) Repräsentantinnen beschlossen werden und schließlich auf dem Staatsgebiet bindend sind. Die moralische Rechtfertigung für die als notwendig erachtete Abgrenzung nach außen folgt dabei für Benhabib aus dem Umstand, dass eine gemeinsame Repräsentation aller auf der Welt lebenden Menschen weder deren effektive politische Vertretung noch echte Demokratie ermögliche. Ob die territoriale Abgrenzung unterschiedlicher politischer Einheiten dann in nationalstaatlicher oder anderweitiger Form erfolgt, lässt Benhabib offen.
Im achten Kapitel zeigt die Autorin anhand der sogenannten ‚Kopftuchdebatte‘ in Frankreich, Deutschland und der Türkei exemplarisch auf, wie Normen gesellschaftlich umkämpft sind und neu ausgehandelt werden. Sie verweisen damit auch auf grundlegende Fragen zum Verhältnis von Säkularität und Religiosität, sowie Privatem und Öffentlichen und zur Rolle der Frau. Es sind eben solche fundamentalen moralischen Fragen und Veränderungen, deren Verhandlung Benhabib vor Augen hat, wenn sie von ‚jurisgenerativer Politik‘ und ‚demokratischen Iterationen‘ spricht.
Widersprüche im Kosmopolitismus
Nach der Lektüre des Bandes stellen sich dem Rezensenten zwei Fragen: Wie lassen sich Moral, Ethik und Politik vereinbaren? Und in welchem Verhältnis stehen Kapitalismus und Menschenrechte im Kosmopolitismus?
(1) Benhabib diskutiert die Differenz zwischen Moral, Ethik und Politik (S. 204–212). Dieser Unterscheidung zufolge geht es in der Moral um universalistische Prinzipien, die für alle Gültigkeit besitzen, während es die Ethik mit der Klärung konkreter Fragen in einem jeweils partikularistischen Kontext zu tun hat.[12] Mit der Erweiterung der Diskursethik um die Figuren des „allgemein Anderen“ und des „konkret Anderen“ sowie ihren Ideen zu Jurisgenerativität und demokratischen Iterationen versucht Benhabib dem notorischen Vermittlungsproblem diskursethischer Ansätze Rechnung zu tragen. Doch muss auch sie sich meines Erachtens die Frage gefallen lassen, ob sie dabei nicht die Orientierungs- und Bindekraft moralischer Prinzipien überschätzt. So mögen diese zwar als (kritische) Handlungsideale dienen, doch werden sie in den konkreten ethischen Kontexten der Selbstverständigung unweigerlich durch Herrschafts- und Machtverhältnisse beeinflusst und verändert.[13] Sie kann sich zwar auf ihre Rolle als Diskursethikerin berufen und Politik als eine andere, von der Moral getrennte Sphäre ansehen, doch was heißt es dann einen „illusionsfreien“ Kosmopolitismus zu denken? Wie lassen sich Moral, Ethik und Politik vereinbaren, wenn etwa Hilfsorganisationen wie „Ärzte ohne Grenzen“ aus Protest gegen die rigide EU-Flüchtlingspolitik keine Gelder aus der EU mehr annehmen wollen? Wenn Geflüchtete nach Afghanistan abgeschoben werden, obwohl das jedweder Vernunft und Menschenwürde widerspricht? Oder wenn der US-Präsident Donald Trump als eine der ersten Amtshandlungen per Dekret Finanzzuschüsse für Organisationen im Ausland streicht, die bei Abtreibungen beraten und informieren?[14] Lässt sich in diesen Fragen kritisch vermitteln wie Benhabib fordert? Aus meiner Sicht stößt der Benhabib’sche Kosmopolitismus dabei an seine (politischen) Grenzen. Benhabib würde wohl in allen drei Fällen die offiziellen Praktiken kritisieren und deren Unvereinbarkeit mit den normativen Grundlagen ihres Kosmopolitismus erläutern, da sie gegen die Menschenwürde und die grundlegenden Menschenrechte verstoßen (moralisch-universelle Ebene). Möglicherweise würde sie auch darauf hinweisen, dass die EU eine Charta der Grundrechte besitzt, der sie selbst kaum folgt, dass die Abschiebung in das vermeintliche sichere Herkunftsland das Asylrecht untergräbt und dass die Finanzkürzungen einen massiven Eingriff in das Selbststimmungsrecht von Frauen zur Folge haben, weil grundlegende Informationen nicht mehr bereit gestellt werden können (ethisch-partikulare Ebene). Sie scheint aber keine Antwort auf die politischen Fragen zu haben, sondern führt deren Existenz als bloße Kontextfaktoren mit an, die eine (diskursethische) Vermittlung einschränken. Sollte es jedoch wirklich um einen „illusionsfreien Kosmopolitismus“ gehen, dann müsste eine realistischere Theorie des Politischen Eingang in ihr Konzept des Kosmopolitismus finden.[15]
(2) In ihrer Laudatio zur Entgegennahme des Ernst-Bloch-Preises 2009 zitierte Benhabib den namensgebenden Sozialphilosophen mit den Worten: „,Keine wirkliche Installierung der Menschenrechte also ohne Ende der Ausbeutung, aber auch kein wirkliches Ende der Ausbeutung ohne Installierung der Menschenrechte.‘“[16] Gleichwohl fällt ihre Kritik von Prozessen ökonomischer Ausbeutung auch in den Texten des neuen Bandes eher zurückhaltend aus: So nimmt sie die ökonomischen Ungleichheiten nicht zum Anlass, um für eine Stärkung der sozialen Menschenrechte einzutreten. Auch die Widersprüche der ‚Externalisierungsgesellschaft‘ (Lessenich) werden von ihr nicht näher thematisiert.[17] Stattdessen betont Benhabib das Recht auf Autonomie und Selbstgesetzgebung und nimmt somit die Politik stärker in den Fokus als die Ökonomie. Überdies personalisiert sie zuweilen den Kapitalismus, in dem sie von ihm wie von einem autonom handelnden Akteur spricht,[18] der durch staatliche Politik und Menschenrechte gebändigt werden müsste. Wie demnach Ausbeutung beendet werden kann, um die Menschenrechte zu verwirklichen und wie durch eine menschenrechtsbasierte Kritik Ausbeutungsverhältnisse beendet werden können, bleibt offen. Der Benhabib’sche Kosmopolitismus scheint sich zu Fragen des Ökonomischen nur schwerlich äußern zu können. Es wäre zu wünschen, dass dieses größere Forschungsdesiderat zukünftig mehr theoretische Aufmerksamkeit erfährt.
Ungeachtet dieser Kritikpunkte ist der Sammelband sehr lesenswert. Zum einen, weil er die theoretische Diskussion über Menschenrechte bereichert. Zum anderen, weil Benhabib mit dem ‚kosmopolitischen Finger‘ auf Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in den bestehenden Praktiken und Verfahren zur Regulierung von Zuwanderung und Zugehörigkeit zeigt. Mit ihren Konzepten der Jurisgenerativität und demokratischen Iteration entwickelt Benhabib zudem interessante Ansatzpunkte zur theoretischen Erörterung sowohl normativer als auch empirischer Fragen. Am Prozess der demokratischen Iteration für einen beliebigen Gegenstand ließe sich theoretisch wie empirisch prüfen, ob die Regeln der Diskursethik eingehalten werden oder wo diese verletzt werden. Zudem lässt sich fragen, welche Konsequenzen dies für den Kommunikationsprozess, dessen Legitimität sowie dessen konkreten Inhalt hat. Der Begriff der „Jurisgenerativität" betont wiederum, dass der demokratischen Iteration ein Prozess der Willens- und Meinungsbildung innewohnt, in dessen Verlauf neue Bedeutungszusammenhänge entstehen, die in den politischen Prozess miteinfließen. Beide Konzepte werfen somit Licht auf diskursive Prozesse, die in der Diskursethik für gewöhnlich zu kurz kommen. Über Kosmopolitismus nachzudenken, so ließe sich schlussfolgern, lohnt allein schon deshalb, um den eigenen normativen Kompass zu überprüfen und sich der Bedeutung moralischer Prinzipien zu vergewissern, die derzeit arg ins Hintertreffen geraten sind.[19]
Fußnoten
- Ich verwende in loser Abfolge mal die weibliche, mal die männliche Form.
- Seyla Benhabib, Dignity in Adversity. Human Rights in Troubled Times, Cambridge 2011.
- Für das deutschsprachige Publikum ist das insofern ein kleiner Wermutstropfen, als zum Beispiel Benhabibs Vergleich der Arbeit von Hannah Arendt mit der Theodor W. Adornos und Max Horkheimers nicht übersetzt wurde. Außerdem liegen einige der Texte bereits in deutscher Übersetzung vor, da sie bereits anderweitig veröffentlicht wurden.
- Siehe Bernd Kasparek / Marc Speer, Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration, 2015.
- Vgl. David J. Depew, Narrativism, Cosmopolitism, and Historical Epistemology, in: CLIO 4 (1985), S. 357–378, hier S. 375.
- Die diskurstheoretische Annahme ist dabei, dass alle Menschen zu kommunikativer Freiheit fähig sind, wenn sie sich gegenseitig als Gleiche anerkennen, Gründe für ihre Position angeben können und sich als Diskursteilnehmende auch von guten Gründen überzeugen lassen. Benhabib geht über Habermas‘ Ansatz kommunikativen Handelns hinaus, indem sie die zwei Figuren des „Anderen“ entwirft, ohne dabei Aussagen über die menschliche Natur zu machen. Die erste Figur, der „allgemein Andere“, entspricht der moralischen Vorstellung, dass sich alle als gleich anerkennen und in einem reziproken Verhältnis stehen. Die zweite Figur, der „konkret Andere“, nimmt hingegen die Individualität von Menschen ernst und betont, dass Menschen in unterschiedlichen sozialen Kontexten leben und verschiedene Identitäten ausbilden. Diese doppelte Bestimmung des Anderen sowie die formale Bindung an Gleichheit, Reziprozität und Symmetrie im Diskurs bilden den Ausgangspunkt für die (potenziell unendliche) Auseinandersetzung unter den Teilnehmenden (S. 58–68). Dabei hält Benhabib fest: „Die Diskursethik ist aufs Engste mit den politischen und institutionellen Praktiken der Kommunikation, der Rechtfertigung, der Anfechtung und des erneuten Argumentierens verknüpft und zielt nicht auf unwiderrufliche Konsensakte.“ (S. 107) Siehe dazu auch: Seyla Benhabib, Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, übers. v. Isabella König, Frankfurt am Main 1995.
- Robert Cover, The Supreme Court 1982 Term. Foreword: Nomos and Narrative, in: Harvard Law Review 97 (1983), S. 4–68.
- Zum Problem der Normenkonflikte vgl. u. a. Antje Wiener, A Theory of Contestation, Heidelberg u. a. 2014.
- Benhabib scheint die dekonstruktivistische Lesart Derridas zu Iterationen, mit der sie sich in Die Rechte der Anderen noch auseinandergesetzt hat, immer weniger zu teilen und stattdessen die deliberativen Züge demokratischer Iterationen stärker zu betonen. Hier verpasst sie einen interessanten Brückenschlag zu poststrukturalistischen Ansätzen, weil sich mit der Idee der Iteration eben die Hinterfragung von bisher als selbstverständlich Gesetztem und Unhinterfragtem hervorheben lässt. Janosik Herder und ich haben versucht, diese Brücke mit Blick auf das Weltsozialforum aufzuzeigen. Siehe Janosik Herder / Stefan Wallaschek, Das Weltsozialforum – mehr als nur ein globalisierungskritischer Akteur? Subversive und kosmopolitische Perspektiven. in: Simon Scholz / Julian Dütsch (Hg.), „Krisen, Prozesse, Potentiale“. Beiträge auf dem vierten Studentischen Soziologiekongress, Bamberg 2015, S. 257–293. Zu Derridas deskonstruktivistischer Lesart siehe Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: Peter Engelmann (Hg.), Jacques Derrida. Randgänge der Philosophie, übers. v. Gerhard Ahrens u. a., 2. überarbeitete Auflage, Wien 1999, S. 325–351. Zu Benhabibs früher Aneignung vgl. Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt am Main 2008, S. 173–176.
- Benhabib gesteht ein, dass sie die durch demokratische Iterationen ausgehandelten Entscheidungen tendenziell für normativ richtig hält (S. 213–215), doch wird m. E. nicht hinreichend klar, ob sie dies nun kritisch reflektiert oder nicht. Sie zeigt aus meiner Sicht nur auf, dass es sich in Fällen, in denen die diskursethischen Prinzipien Gleichheit, Symmetrie und Reziprozität nicht gewährleistet sind, auch nicht um demokratische Iterationsprozesse handelt – ein Argument, das tautologisch anmutet.
- Dieses Argument für die Einschränkung der Freizügigkeit, das Benhabib schon in Die Rechte der Anderen angeführt hat (S. 137–141), führte bereits zu Diskussionen: Vgl. die Beiträge im Special Issue zu The Rights of Others im European Journal of Political Theory, 6 (2007).
- Siehe dazu auch Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1992, S. 138–143.
- Vgl. Raymond Geuss, Kritik der Politischen Philosophie. Eine Streitschrift, übers. v. Karin Wördemann, Hamburg 2011.
- Deutsche Welle, „Ärzte ohne Grenzen“ lehnen EU-Hilfsgelder ab, 17.6.2016; Monitor, Das Märchen vom sicheren Afghanistan, 8.12.2016; sowie Zeit Online, Trump setzt Signal für Abtreibungsgegner, 24.1.2017.
- Siehe dazu auch Geuss, Kritik der Politischen Philosophie; Jörg Schaub, Politische Theorie als angewandte Moralphilosophie? Die realistische Kritik, in: Zeitschrift für Politische Theorie 3 (2012), S. 8–24; sowie die Beiträge in dem von Martin Nonhoff und Frieder Vogelmann herausgegebenen Heft des Mittelweg 36 (2/2016) zum Thema „Politische Theorie in der Krise“.
- Seyla Benhabib, Utopie und Anti-Utopie. Das „Prinzip Hoffnung“ im kosmopolitischen Zeitalter, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 54 (2009), S. 75–85, hier S. 77.
- Vgl. Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, München 2016; Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa‘ (Hg.), Kämpfe um Migrationspolitik, Bielefeld 2014.
- Beispielsweise schreibt Benhabib auf Seite 166: „Der globale Kapitalismus schafft eine eigne Form des ‚Weltrechts ohne Staat‘ (Teubner) und sabotiert die Bemühungen von Gesetzgebern, offen und öffentlich über die Verrechtlichung von Kapitalströmen und grenzüberschreitenden Bewegungen anderer Güter zu beraten.“ Oder auf Seite 172: „Angesichts grenzüberschreitender Kapitalströme und des Austauschs von Waren, Informationen und Technologie ist der Staat heute mehr Geisel als Souverän.“ Später im Text resümiert sie: „Die Globalisierung erzeugt ein Rechtsgebilde, das sich selbst generiert und reguliert und das weder legislativen noch deliberativen Handlungen nationaler Gesetzgeber entspringt.“ (S. 175).
- Ich danke Simon Tunderman für hilfreiche Kommentare zu früheren Textfassungen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz, Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Globalisierung / Weltgesellschaft Internationale Politik Lebensformen Demokratie
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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