Filipe Carreira da Silva, Marc Ortmann | Interview |

Bücher aus einem anderen Blickwinkel betrachten

Filipe Carreira da Silva im Gespräch mit Marc Ortmann

Sie haben sich in Ihrer Publikation The Politics of the Book (2019) zusammen mit Monica Brito Vieira ausführlich mit dem Buchformat beschäftigt. Was verstehen Sie unter der Politik des Buches?

Monica und ich haben ein sehr klares Verständnis davon, was wir mit der Politik des Buches meinen – alle Politiken, die von menschlichen Akteuren um die, mit den und wegen der materiellen und immateriellen Objekte(n), die wir Bücher nennen, betrieben werden. In dem von Ihnen erwähnten Buch, aber auch in anderen Artikeln, versuchen wir, diesen scheinbar offensichtlichen Punkt über verschiedene Zeiträume, akademische Disziplinen und geografische Gebiete hinweg zu untersuchen. Für uns, die wir in unserer Forschung und Lehre regelmäßig mit sozialen und politischen Ideen arbeiten, war dies ein sehr aufschlussreiches Projekt. Es hat uns auf Dinge aufmerksam gemacht, die wir oft als selbstverständlich ansehen. Es hat uns bewusst gemacht, dass unsere Arbeit als Theoretiker:innen viel mehr mit bescheidenen materiellen Dingen zu tun hat, als die meisten von uns zunächst annehmen und zugeben würden. Da die Rezensionen gut waren und das Buch regelmäßig zitiert wurde, denke ich, dass unsere Leser:innen die Erkenntnis der entscheidenden, aber vernachlässigten Bedeutung der Politik des Buches geteilt haben.

Welche Erkenntnisse darüber, was wir im Zusammenhang mit Büchern normalerweise für selbstverständlich halten, hatten Sie?

Das vielleicht Offensichtlichste, was man beim Lesen eines Buches als gegeben ansieht, ist die Autorschaft – dass das Buch, das wir lesen, von demjenigen erdacht, recherchiert, geschrieben, überarbeitet und so weiter wurde, dessen Name auf dem Umschlag des Buches steht. Wie unsere Studie zeigt, kann dies sehr irreführend sein. So kann der Name auf dem Umschlag von jemandem sein, der sich nie dazu bereit erklärt hat, wie dies zum Beispiel bei George Herbert Mead und Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus geschehen ist. Nicht minder wichtig ist, dass dadurch das Kollektiv an Akteuren – Herausgeber:innen, Designer:innen, Schreibkräfte, Übersetzer:innen usw. – verschleiert wird, ohne deren Handeln es kein Buch gäbe.

Woraus besteht der Materialkorpus Ihrer Untersuchung?

Obwohl der Schwerpunkt auf der Soziologie der Nachkriegszeit in den Vereinigten Staaten liegt, beziehen wir Fälle aus verschiedenen Zeiträumen ein (unsere Diskussion beginnt in der Mitte des 19. Jahrhunderts und reicht bis in die Gegenwart), ebenso nahe Disziplinen wie Politikwissenschaft, Anthropologie und Kulturwissenschaften (zusätzlich zur Soziologie, die der Schwerpunkt des Buches bleibt) sowie Bücher aus mehreren europäischen Ländern. Die Variation der unterschiedlichen Politiken spiegelt sich in der Struktur von The Politics of the Book wider.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich auf diese Weise mit dem Buchformat zu beschäftigen?

Das ist ganz natürlich aus der Kombination unserer Forschungsinteressen erwachsen. Monica ist ausgebildete Historikerin für Ideengeschichte (intellectual history) und arbeitet zu politischer Theorie. Mein Hintergrund liegt hauptsächlich im US-amerikanischen philosophischen Pragmatismus. Beides schlägt sich in der Art und Weise, wie wir die Politik des Buches betrachten, nieder. Wir sind nie wirklich der Tradition der ‚großen Bücher‘ gefolgt, weder in unserer Forschung (siehe Monicas höchst innovative Arbeit über Hobbes) noch in unserer Lehre. Ja, es gibt sicherlich entscheidende Bücher, Klassiker, die es wert sind, immer wieder gelesen zu werden. Das heißt aber nicht, dass es keine Auseinandersetzungen über ihre Bedeutung und ihren Platz im akademischen Kanon gibt – ganz im Gegenteil. Die großen Bücher sind die Gewinner solcher Kämpfe. Dies liegt zum Teil an der Qualität ihres Inhalts, zum Teil an der sozialen Arbeit, die an diesem Inhalt geleistet wurde (zum Beispiel durch Interpret:innen), und an der materiellen Form, die zu ihrem Erhalt erforderlich ist (zum Beispiel durch Herausgeber:innen). Und es bedeutet keineswegs, dass es keine möglichen Konkurrenten gibt, das heißt viele andere Bücher, die es wert sind, immer wieder gelesen zu werden. In diesem Bereich ist die Dekolonialisierung des Lehrplans (decolonise the curriculum) mit am dringendsten erforderlich. Kurz gesagt, Hintergrund unserer Publikation war reine intellektuelle Neugier, ausgelöst durch die Frage: Was würde passieren, wenn wir die Bücher und Autor:innen, die wir unser ganzes Leben lang gelesen haben, aus einem anderen Blickwinkel betrachten würden?

Was verstehen Sie unter der Dekolonialisierung des Lehrplans?

Ich meine damit den Versuch, bisher ausgeschlossene Stimmen in dieses Gespräch, das wir Wissenschaft nennen, miteinzubeziehen. Solche Ausschlüsse waren ein integraler Bestandteil des kolonialen Projekts der Wissensproduktion. Ihre Folgen sind noch lange nach dem Ende der Kolonialisierung und der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonialgebiete zu spüren. Der Abbau von Strukturen der Ungleichheit und Unterdrückung, die den Kolonialismus überhaupt erst möglich gemacht haben, ist noch immer ein sehr unvollständiger Prozess. Aus diesem Grund bleibt das Projekt der Dekolonisierung heute genauso wichtig wie in den 1950er-Jahren.

Wie können wir andere, neue Perspektiven auf das Lesen, insbesondere der ‚großen Bücher‘, entwickeln? Wie wirken sich die dabei gewonnenen Erkenntnisse auf Ihr eigenes Schreiben aus?

Eine der Lehren aus The Politics of the Book besteht genau darin: Die Entsakralisierung der ‚großen Bücher‘ bedeutet nicht, dass man diese Werke weniger respektiert und bewundert. Ganz im Gegenteil. Aber sie bedeutet, sich von Hagiografie und Mythologie zu befreien und sie durch gute alte, solide Forschung zu ersetzen.

Ich kann nicht für Monica sprechen, aber in meinem Fall waren die Schlüsse, die ich aus der Bearbeitung des Themas gezogen habe, beträchtlich. Zum einen wurde ich dadurch besonders vorsichtig gegenüber fragwürdigen Ausgaben. Das Internet ist voll von Werkeditionen, die entweder gekürzt oder aus unklaren Gründen stark bearbeitet wurden. Zum anderen weiß ich jetzt die unsichtbare Arbeit einer großen Gruppe von Menschen noch mehr zu schätzen, die hinter den Kulissen dafür sorgen, dass die Leser:innen eine ausgefeilte, zuverlässige Version des Textes in Händen (oder auf elektronischen Geräten) halten. Und schließlich, und hier schließe ich Monica mit ein, hat uns die Studie die Grenzen der Rolle des Autors bewusst gemacht. Auf eine ziemlich ironische Weise, möchte ich hinzufügen. Am Ende der Produktion von The Politics of the Book hatten wir einen kleinen Streit mit dem Verleger darüber, was in den Klappentext aufgenommen werden sollte. Der Text, den er vorschlug, war von der Marketingabteilung verfasst worden und vermittelte nicht das, was wir für die Botschaft des Buches hielten. Am Ende wurde ein Kompromiss gefunden. Aber erst, als uns klar wurde, dass wir gerade ein Buch über genau diese Art von Kampf geschrieben hatten...

Sind Ihnen bei Ihren internationalen Aktivitäten in der Soziologie unterschiedliche Buchpolitiken aufgefallen? Und haben Sie im Laufe der Jahre irgendwelche Veränderungen bemerkt?

Die Soziologie ist ein sehr kleiner Markt, sogar innerhalb der Sozialwissenschaften, die auch nur einen winzigen Teil des Buchmarktes ausmachen. Dennoch sind die nationalen Buchmärkte wichtig, vor allem die größeren: die USA, China und mehrere europäische Länder, darunter Deutschland. Dies ist natürlich die Sicht der Verleger:innen. Aus der Perspektive der Autor:innen sieht es ein wenig anders aus. Unsere Karriere hängt nicht so sehr davon ab, wie viele Leute uns lesen, sondern davon, wer uns liest. In diesem Sinne ist die Veröffentlichung bei einem renommierten Universitätsverlag unerlässlich – auch wenn die tatsächlichen Verkaufszahlen recht niedrig sein können, manchmal im dreistelligen Bereich. In der Soziologie gibt es natürlich eine große Ausnahme. Polity Press wurde mit dem Ziel gegründet, mit den traditionellen Universitätsverlagen zu konkurrieren und qualitativ hochwertige Monografien im Bereich Soziologie und Sozialtheorie zu veröffentlichen. Im Laufe der Jahre hat sich der Verlag zu einem mittelgroßen Global Player entwickelt. Ich habe zwei Bücher dort veröffentlicht. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass er zu den besten Verlagen der Welt gehört, vor allem, wenn es um Übersetzungen in andere Sprachen geht.

Sie arbeiten und schreiben als Soziologe, leiten den Theory Hub in Cambridge und sind Herausgeber der Buchreihe Theory Workshop. Von dem Hintergrund dieser Expertise, was würden Sie sagen, wie finden man seinen eigenen Schreibstil?

Ich arbeite am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität von Lissabon und schreibe in zwei Sprachen: Portugiesisch und Englisch. Auf Portugiesisch schreibe ich soziologische Arbeiten (Artikel, Bücher), aber auch für die breite Öffentlichkeit in einer überregionalen Lokalzeitung, Público.[1] Mein Schreibstil in diesen beiden Bereichen ist unterschiedlich: In Letzterem ist er aus offensichtlichen Gründen informeller und direkter. Aber es gibt eine gewisse Kontinuität zwischen beiden, da ich dazu neige, Jargon und allzu komplexe Formulierungen beim Verfassen meiner Gedanken zu vermeiden, sowohl auf Portugiesisch als auch besonders auf Englisch. Ich nehme an, dass dies darauf zurückzuführen ist, dass ich mich die meiste Zeit meines Erwachsenenlebens in der anglo-amerikanischen akademischen Welt bewegt habe.

Sie versuchen, Fachjargon nach Möglichkeit zu vermeiden. Welche Rolle spielen Fachtermini für das Denken und Schreiben in der Soziologie?

Meiner Erfahrung nach stehen Soziolog:innen unter erheblichem institutionellem Druck, ihre Gedanken in Fachterminologie und -vokabular auszudrücken. Die Beherrschung dieser Fachsprache – mündlich und schriftlich – ist ein entscheidendes Element der eigenen Identität als Soziologe, als Soziologin. Sicherlich hat dieser Druck die Entwicklung der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin begleitet, vor allem in den Nachkriegsjahren, als die Professionalisierung richtig Fahrt aufnahm. Aber ich habe den Eindruck, dass dies mit der Globalisierung des Arbeitsmarktes seit den 1990er-Jahren noch stärker zugenommen hat. Je mehr man Soziologie jedoch als Lebensweise versteht und praktiziert, desto mehr wird einem bewusst, wie begrenzt dieses technische Vokabular sein kann. Das gilt vor allem für diejenigen, die fachübergreifend arbeiten und/oder mit anderen historischen Epochen vertraut sind. In solchen Fällen bleibt uns nichts anderes übrig, als den Fachjargon wieder zu verlernen und andere Wege zu finden, um unsere Ideen auszudrücken – einfacher, präziser, potenziell kritischer und umfassender.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Kolonialismus / Postkolonialismus Medien Wissenschaft

Abbildung Profilbild Filipe Carreira da Silva

Filipe Carreira da Silva

Filipe Carreira da Silva ist Forschungsprofessor für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Lissabon (ICS-UL) und Fellow am Selwyn College der Universität Cambridge. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Sozialtheorie, Geistesgeschichte und Demokratietheorie im weiteren Sinne. Sein neuestes Forschungsprojekt „Humanism and Empire“ ist eine kritische Auseinandersetzung mit der antikolonialen Kritik des Humanismus und ihren Auswirkungen auf die Menschenrechtsrevolution der 1970er-Jahre.

Alle Artikel

Abbildung Profilbild Marc Ortmann

Marc Ortmann

Dr. des. Marc Ortmann ist Soziologe und Autor. In seinem Promotionsprojekt hat er Beziehungsmodi zwischen Soziologie und Literatur untersucht. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich von Prof. Dr. Andreas Reckwitz (HU-Berlin) und war zuletzt zu Forschungs- und Lehraufenthalten am Centre Georg Simmel der EHESS Paris, an der Universität Basel und der University of Cambridge eingeladen.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Teil von Dossier

Über Schreiben sprechen

Vorheriger Artikel aus Dossier: Das Ende der großen Theorien

Nächster Artikel aus Dossier: Musik ist eine Form der Soziologie

Empfehlungen

Benjamin Möckel

Aus der Not geboren

Rezension zu „Am Anfang war Biafra. Humanitäre Hilfe in den USA und der Bundesrepublik Deutschland“ von Florian Hannig

Artikel lesen

Newsletter