Oliver Römer | Rezension | 07.03.2018
Der Denkraum Max Webers, neu vermessen
Ein Sammelband widmet sich der Genese der Wissenschaftslehre

Spätestens seit dem im Jahre 1964 veranstalteten Heidelberger Soziologentag[1] ist eine andauernde Renaissance des Werkes von Max Weber in Deutschland zu beobachten. Eine mit großem Aufwand unternommene und bis heute noch nicht fertiggestellte Gesamtausgabe seiner Schriften sowie drei in rascher Folge veröffentlichte Biographien bilden nur die Spitze eines ständig wachsenden publizistischen Eisberges aus Qualifikationsarbeiten, Sammelbänden und Einzelbeiträgen zu historisch-philologischen, biographischen und theoretisch-systematischen Aspekten seines Schaffens. Bereits eine oberflächliche Kenntnis der Rezeptionsgeschichte der Weberʼschen Schriften – beginnend bei der von deutschen Exilanten und amerikanischen Deutschland-Kennern vorangetriebenen Weber-Rezeption in den Vereinigten Staaten bis hin zum Reimport und der kritischen Wiederaneignung seiner soziologischen Arbeiten in Westdeutschland[2] – lässt den Aufwand erahnen, mit dem die Soziologie über ein dreiviertel Jahrhundert hinweg das Bildnis eines identitätsstabilisierenden Klassikers und Disziplingründers geschaffen hat.
Was Weber, der wissenschaftlichen Werken bekanntlich eine Halbwertszeit von weniger als hundert Jahren einräumte, zu seiner Adelung als Klassiker einer Disziplin gesagt hätte, deren Entwicklung er obendrein mit großer Distanz und Skepsis verfolgte, ist unklar. Dass er jedenfalls in seiner Zeit grundlegend anders gelesen und eingeordnet worden ist, veranschaulicht etwa die von dieser Rezeptionsgeschichte noch völlig unbeeindruckte, im Jahre 1932 erstmals publizierte Denkschrift des Heidelberger Philosophen und Weber-Schülers Karl Jaspers. Bereits der Titel der kleinen Broschüre Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph verrät eine aus heutiger Sicht irritierende Unterschlagung des Soziologen.[3] Jaspers räumt der Soziologie Webers in seiner knapp sechzig Seiten umfassenden Abhandlung kaum mehr als eine halbe Seite ein. Nach nur wenigen Zeilen hält er kurz und knapp fest, dass Weber „ [i]m Amt“ stets Nationalökonom gewesen sei und das meiste, „was unter dem Namen Soziologie geht“, ihm stets als „Schwindel“ gegolten habe.[4]
Statt also Weber auf den Nenner einer Einzelwissenschaft zu bringen, zielt Jaspers auf den Zusammenhang eines wissenschaftlichen, historischen und politischen Denkens, das am Vorabend des Dritten Reiches „an echte deutsche Größe erinnern“ soll.[5] Dass diese Denkschrift Hinweise auf die Erweiterungsbedürftigkeit des gegenwärtigen Weber-Bildes enthält, zeigt der jüngst von den beiden Frankfurter Soziologen Gerhard Wagner und Claudius Härpfer herausgegebene Sammelband Max Webers vergessene Zeitgenossen. Beiträge zur Genese der Wissenschaftslehre.
Die in dem Band avisierte Wissenschaftslehre kann als eines der umstrittensten Stücke in dem bis heute von andauernden Deutungskämpfen durchzogenen Weberʼschen Gesamtwerk bezeichnet werden.[6] So haben sich gleich mehrere Generationen von Weber-Forschern die Frage gestellt, ob es sich bei dieser erstmals posthum herausgebrachten Aufsatzsammlung[7] tatsächlich um eine vorzeigbare „Einheit“ grundlegender Überlegungen zur Logik der Kulturwissenschaften handele oder ob Weber hier nichts anderes als methodologische „Sonntagsreiterei“[8] betrieben habe. Die unter Weberianern beinahe schon zur Glaubensfrage überhöhte Problematik, ob das an materialen Analysen so reiche historisch-soziologische Werk Webers nicht besser ohne dieses prüde daherkommende epistemologische Fundament auskomme oder ob dieses ein für die Einheit der Kultur- und Sozialwissenschaften unverzichtbares Gründungsdokument sei, verdeutlicht die Dramatik der Diskussion.[9] Nicht weniger umstritten bleiben auch die editorischen Eingriffe, die die Wissenschaftslehre, vergleichbar mit anderen ‚Werken‘ Webers,[10] in ihren unterschiedlichen Auflagen mitmachen musste. Welche Texte wie zu gewichten sind und was etwa das Fragment über die drei Typen legitimer Herrschaft in dem Konvolut zu suchen hat – all dies sind Fragen, die schon lange vor dem jüngst vorgelegten Band von Wagner und Härpfer die Weber-Forschung in Atem gehalten haben.
Wie sehr die beiden Herausgeber nun um Distanz zu dieser Diskussion bemüht sind, signalisiert bereits der Titel des Bandes, antwortet er doch ganz direkt auf die von Wolfgang Mommsen edierte Sammlung Max Weber und seine Zeitgenossen.[11] Auffällig an diesem für wesentliche Teile der Weber-Diskussion im späten 20. Jahrhundert durchaus repräsentativen Band ist seine Orientierung an der Wissenschaftsentwicklung der frühen Soziologie, der Nationalökonomie und den historisch orientierten Kulturwissenschaften – also an jenen Disziplinen, in die Weber zumindest institutionell am deutlichsten eingebunden blieb, auf die sein intellektuelles Oeuvre jedoch keineswegs zu reduzieren ist.
Dass durch solche disziplinären Bornierungen bisher kaum bemerkte Rezeptionsblockaden der Weberʼschen Wissenschaftslehre errichtet worden sein könnten, ist bereits Gegenstand eines äußerst lesenswerten Aufsatzes Wagners und Härpfers über das Verhältnis von Weber zu den Naturwissenschaften.[12] Folgt man der hier entworfenen und in zahlreichen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes weiterentwickelten Argumentation, so wäre die zwar oft bemerkte, aber kaum einmal systematisch untersuchte Mittelstellung der Weberʼschen Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaften sehr viel ernster zu nehmen als bisher. Wie die beiden Frankfurter Soziologen demonstrieren, ist gerade die Wissenschaftslehre von einer breiten wissenschaftstheoretischen Diskussion um die Wende zum 20. Jahrhundert beeinflusst. Wenigstens selektiv greift Weber so auf methodologische Erkenntnisse aus dem Bereich der Physik, der Physiologie, der Astronomie und der theoretischen Medizin zurück. Eine einseitige Verortung der Grundprobleme der Wissenschaftslehre in der Tradition des für Weber prägenden südwestdeutschen Neukantianismus erscheint deshalb zweifelhaft.
Dieser Aufsatz und auch der Sammelband stehen in engem Zusammenhang mit der von Wagner und Härpfer editorisch betreuten Neuauflage des ersten Teils der Wissenschaftslehre im Rahmen der Max-Weber-Gesamtausgabe. Ersichtlich wird diese Herkunft bereits aus der Einleitung in den vorliegenden Band, die sich wie ein problembezogener Werkstattbericht liest. Dass eine systematische Neuvermessung des „Denkraum[es] Webers“ (S. 3) unbedingt ansteht, wird anhand von Kookkurrenz-Netzwerkanalysen des Textkorpus der Wissenschaftslehre veranschaulicht. Bei diesen Analysen handelt es sich zunächst um eine rein deskriptive Auszählung der Häufigkeit und Regelmäßigkeit von direkten Referenzen Webers auf andere Wissenschaftler. Ziel dieses Vorgehens ist es, das Diskussions- und Rezeptionsfeld Webers abzustecken und Korrektive zu den inzwischen weit ausgetretenen Pfaden der Weber-Forschung auszuschildern. Die Beiträge des Bandes sollen die so sichtbar werdenden Rezeptionslücken zumindest punktuell füllen. So steht etwa der bisher nur wenig beachtete Umstand, dass sich Weber in der Wissenschaftslehre „auch Naturwissenschaftler [...] nannte“ (S. 4), schon im Zentrum der ersten drei Beiträge.
Den Anfang macht der Münsteraner Soziologe Peter Isenböck. In seiner Rekonstruktion der psychologischen Subjektkonzeption Hugo Münsterbergs schlägt er einen weiten Bogen von der physiologisch orientierten Psychologie zu Webers Verstehender Soziologie. Münsterbergs Erfahrungstheorie wird als wichtige Gegenkonzeption zur neukantianischen Hermeneutik Rickerts positioniert. Ihren originären Ort innerhalb der Weberʼschen Kategorienlehre findet Isenböck in dem als Gegenbegriff zum „deutenden Verstehen“ konzipierten „aktuellen Sinnverstehen“. Der Verfasser erneuert so die schon in Alfred Schützʼ kritischer Weber-Aneignung aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Verstehender Soziologie und Phänomenologie.[13] Die Antwort auf diese Frage bleibt leider vage und beschränkt sich auf die zwar einleuchtende, allerdings unbefriedigende Feststellung, dass auch Webers Begriff von „Verstehen“ immer schon „nomologisches (intersubjektiv gültiges) Wissen“ (S. 27) in Anspruch nehme.
Webers in weiten Teilen ablehnende Haltung gegenüber dem positivistischen Denken des 19. Jahrhunderts ist Gegenstand des zweiten Beitrags. Der Tübinger Philosoph Matthias Neuber rekonstruiert die Grundlagen der energetischen Kulturtheorie des Chemikers, Philosophen und späteren Soziologen Wilhelm Ostwalds. Er verdeutlicht, dass Ostwalds späte Kulturtheorie unter anderem das Resultat einer Auseinandersetzung mit der Wissenschaftskonzeption von Auguste Comte ist. Diese legt bekanntlich eine „pyramidische Sicht der Wissenschaft“ (S. 37) nahe, an deren Spitze eine unter genauer Kenntnis von sozialen Gesetzen betriebene Soziologie steht. Die Schlussbemerkungen Neubers, die nahelegen, dass der lange Schatten dieser Sichtweise auch Webers Denken verdunkle, droht hier leider die radikalen Vorbehalte Webers gegen jeden Glauben an eine Sozialwissenschaft zu verwischen, die sich an einem naturalistischen Gesellschaftsverständnis orientiert. Wie Weber in aller Klarheit sieht ist Ostwalds monistisches Wissenschaftsverständnis nichts anderes als der Versuch, die Gesellschaft nach einem bestimmten Modell von Wissenschaft politisch zu formen: eine für den frühen Positivismus durchaus typische Verquickung von politischen Werturteilen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die von Ostwald nahegelegte Vorstellung eines gesellschaftlichen Fortschritts, der sich durch eine „Vermeidung unnötiger Energieverschwendung“ (S. 46) auszeichnen soll, mag bis heute als eine nur schwer zu verdrängende Analogie ein subtiles Nachleben etwa in einer bis zu Georg Simmel zurückreichenden Tradition soziologischer Differenzierungstheorie führen. Für bare Münze genommen, enthält sie die durchaus problematische Behauptung, dass Gesellschaft wissenschaftlich feststellbaren und politisch durchsetzbaren Naturgesetzen gehorche. Angesichts dieser Diskussionslage der Sozialwissenschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert erscheint Webers inzwischen als weitgehend antiquiert wahrgenommenes Postulat der Werturteilsfreiheit als eine hochgradig reflektierte Auseinandersetzung mit der Zweck- und Wertbestimmtheit (sozial-)wissenschaftlichen Wissens in seiner Zeit. Berücksichtigt man ferner – etwa in der Linie der Arbeiten Bruno Latours – das Plädoyer für einen ‚neuen Realismus‘ in den Sozialwissenschaften, der ohne eine kritische Auseinandersetzung mit der für Weber leitenden Problematik des vulgären Materialismus und des frühen Positivismus Natur-Kultur-Differenzierungen in den Kultur- und Sozialwissenschaften rhetorisch einebnet, so können Webers Warnungen vor einem naiven Naturalismus in den Sozialwissenschaften gar nicht ernst genug genommen werden.
Webers Ablehnung bestimmter naturwissenschaftlich orientierter Positionen seiner Zeit wie der energetischen Kulturtheorie Ostwalds, aber auch des Biologismus Alfred Plötz‘,[14] haben sicherlich dazu beigetragen, die Vorstellung von einer insgesamt gegen die Naturwissenschaften gerichteten Grundorientierung seiner Soziologie zu erhärten. Wie schief dieses Bild bleibt, verdeutlicht der außerordentlich lesenswerte Beitrag der Heidelberger Literaturwissenschaftlerin Andrea Albrecht. Am Beispiel der Arbeiten des Physiologen Emil du Bois-Reymond wird Webers Orientierung an Diskursen der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts exemplarisch rekonstruiert. Du Bois-Reymonds Versuch, metaphysischen Grundfragen in der wissenschaftlichen Arbeit durch ein auf mühevolles Kleinarbeiten von Teilproblemen gerichtetes „Entsagungsethos“ (S. 75) zu begegnen, scheint für das nüchterne Pathos der Wissenschaftslehre Webers allemal wichtiger zu sein als die neukantianische Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Zu beachten ist insbesondere der Umstand, dass Weber keine philosophische Erkenntnistheorie der Sozial- und Geisteswissenschaften formuliert. Vom Standpunkt des in die konkrete Forschungspraxis einbezogenen Einzelwissenschaftlers ist ihm vielmehr daran gelegen, seine Überlegungen zur Werturteilsproblematik selbst wiederum auf ethische Fragestellungen – also auf das Problem der "personhafte[n] Führung des Lebens"[15] – zu beziehen. Wie Albrecht überzeugend zeigen kann, verlässt Weber damit den Ort des neukantianischen Reflexionswissens und entwickelt Überlegungen, die in die Richtung einer Wissenschaftssoziologie deuten. Diese Entwicklung kann in der Tat als das wissenschaftsgeschichtliche Resultat einer bei du Bois-Reymond beginnenden „interdisziplinären Transfergeschichte“ (S. 86) des zunächst in der Astronomie verorteten Begriffs der „Konstellation“ in die Kultur- und Sozialwissenschaften interpretiert werden. An deren Ende stehen schließlich die Weber’sche Wissenschaftslehre und die ausdrücklich als Konstellationsanalyse ausgewiesene Wissenssoziologie Karl Mannheims.
Ebenfalls an den praktischen Implikationen der Weberʼschen Wissenschaftslehre setzt der Aufsatz Hubert Treibers an. In seiner Abhandlung über den „Takt“" als „vergessenem Schlüsselbegriff“ der Wissenschaftslehre widmet sich Treiber dem ganz grundsätzlichen Problem, dass auch eine auf rationale Erkenntnis gerichtete Soziologie auf das theoretisch nicht zu begründende Urteilsvermögen der Forschenden angewiesen bleibt. Für Weber liegt hier jener methodisch unkontrollierbare Ort, in dem sich wissenschaftliche Arbeit, geniale Phantasie und bloßer Dilettantismus kreuzen. Mit der Formel, dass Eingebung und Phantasie nur „zu heuristischen Zwecken im Entdeckungs- und nicht im Begründungszusammenhang“ (S. 102) einen Platz fänden, gibt Treiber zutreffend jenen ethischen Standpunkt wieder, den Weber etwa in seiner berühmten Rede über Wissenschaft als Beruf entwickelt. Statt nun wie Treiber begriffliche Unterscheidungen wie die vom analogischem und reflektierendem Denken zu diskutieren, wäre es möglicherweise interessanter gewesen, dass eng abgesteckte Feld der Wissenschaftslehre zu überschreiten und den von erkenntnistheoretischen Grundproblemen nie völlig zu trennenden politischen Implikationen der Weberʼschen Ethik nachzuspüren. So wäre zu überlegen, ob nicht die bereits von Immanuel Kant betonte Differenz von im Bereich der reinen Vernunft angesiedelten wissenschaftlichen Wahrheitsfragen und ästhetischen Geschmacksurteilen bei Weber die Form einer auf den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis begrenzten sachlichen Unterscheidung von theoretischen Aussagen und politischen Werturteilen annimmt. Wobei allerdings diese Trennung in einer notwendig von politischen Interessen durchdrungenen wissenschaftlichen Forschungspraxis immer schon unterlaufen wird. Das würde bedeuten, dass wissenschaftliche Erkenntnisse etwa in praktischen Verwendungszusammenhängen selbst die Form von Urteilen annehmen und eine strikte Trennung von objektiven Sach- und normativen Wertaussagen schlicht unmöglich ist.[16] Hinweise, wie dieses bei Weber selbst theoretisch ungelöste Problem weiter zu diskutieren wäre, finden sich beispielsweise in Hannah Arendts späten Vorlesungen über Kants politische Philosophie, die nicht von ungefähr an der Kritik der Urteilskraft ansetzen.[17]
Die politische Seite des Weber’schen Denkens wird in den folgenden Beiträgen einzig von dem Historiker Thomas Gerhards in den Mittelpunkt gerückt. Gerhards‘ Beitrag, der die Wissenschaftslehre Webers nur am Rande berührt, vergleicht die Staatsauffassungen Webers und Heinrich von Treitschkes. In wissenschaftshistorischer Hinsicht ist der Vergleich mit dem ungleich älteren Treitschke von Belang, weil hier ein „Weg vom Historismus zur historischen Soziologie“ (S. 137) sichtbar wird, der mit dem Wandel einer Konzeption europäischen Weltmachtdenkens hin zu einem imperialen Weltmachtdenken einhergeht. Leider unterlässt es der Autor weitgehend, aus dieser frappierenden Parallele weitere Rückschlüsse auf die Soziologie Webers zu ziehen. Hierfür hätte beispielsweise die äußert provokante und kontrovers diskutierte These Herbert Marcuses von einer ‚dialektischen‘ Verschränkung imperialer Weltmachtansprüche und wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung im Denken Webers einen Fixpunkt geboten.[18]
Ein weiterer Beitrag Hubert Treibers beschäftigt sich mit der Frage nach der methodologischen Vorbildfunktion Georg Jellineks für den Weberʼschen Idealtypus, wobei der Verfasser nach eingehender Prüfung von Jellineks Allgemeiner Staatslehre jedoch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten festhält.
Der Münsteraner Philosoph Oliver R. Scholz betritt mit seinem Vergleich von Heinrich Rickert und Weber bereits bekannte Pfade der Weber-Forschung. Andere Beiträge des Bandes ergänzend zeigt Scholz, wie sich Weber aus den erkenntnistheoretischen Problemstellungen neukantianischer Wissenschaftsphilosophie löst: Weber verarbeite die Logik Rickerts „am Leitfaden der eigenen fachwissenschaftlichen Interessen“ (S. 176). Die Schlussfolgerung, dass „Weber die Grenzen von Rickerts Grenzen [der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung; O. R.] aufgezeigt und damit den Weg geebnet [hat] für eine differenzierte Methodologie der Geschichtswissenschaft, der Nationalökonomie und der Soziologie“ (S. 185), entspricht dem in der soziologischen Weber-Rezeption lange gepflegten Klischee von einem ungebrochen aktuellen Begründer der modernen Sozialwissenschaften.
Auch wenn die methodologischen Arbeiten Webers bis heute unbestreitbar produktive Impulse für den Fortschritt der Sozialwissenschaften liefern mögen, bleibt es doch die Aufgabe der wissenschaftshistorischen Rekonstruktion, für ihren Zeitkern zu sensibilisieren und nicht bereits eine in den Fachwissenschaften erst noch zu führende Diskussion vorwegzunehmen. So kann Webers kritische Auseinandersetzung mit den Kultur- und Sozialwissenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Indiz dafür gelesen werden, dass die Geisteswissenschaften seiner Zeit auf eine problematische Weise „Wissenschaften ohne Gegenstand“[19] bleiben. Mit der von Weber selbst in aller Deutlichkeit bemerkten Durchsetzung von experimentellen Verfahrensweisen[20] sprengen die Naturwissenschaften um die Wende zum 20. Jahrhundert die in weiten Teilen noch handwerklich geprägten Arbeitsformen der von Wilhelm von Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts konzipierten Universität mit ihrer Einheit von Forschung und Lehre.[21] Eine unter sachlichen Objektivitäts- und industriellen Verwertungsgesichtspunkten betriebene „Großforschung“[22] wird bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts teilweise an außeruniversitären Forschungseinrichtungen geleistet und erweist sich dabei – nebenbei bemerkt – in erheblichem Maße als weltkriegsrelevant.[23] Sie konterkariert so die Idee des traditionellen geisteswissenschaftlichen Seminars, in dem auf Basis einer gegenüber politischen und ökonomischen Verwertungsinteressen abgeschirmten allgemeinen „Gelehrsamkeit“[24] bestimmte handwerkliche Fertigkeiten nach Art des traditionellen Meister-Gesellenprinzips von Person zu Person weitergegeben werden. Der Umstand, dass Weber auf diese durchgreifenden Veränderungen gerade nicht mit einem neuen Programm der Wissenschaftsorganisation der Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern mit einer rigoros individualistischen Ethik reagiert, verdeutlicht die Grenzen seiner Wissenschaftslehre. Weber formuliert an keiner Stelle eins zu eins auf die heutigen Verhältnisse anwendbare Lösungen, lotet aber im Ausgang des bürgerlichen 19. Jahrhunderts die Grenzen der bisherigen Wissenschaften derartig konsequent von innen her aus, dass die in seiner Wissenschaftslehre aufgeworfenen Fragen bis heute aktuell bleiben.
Den Beziehungen zwischen Weber und der nationalökonomischen Diskussion seiner Zeit widmet sich der Beitrag des lange Jahre in Luzern und mittlerweile in Tokio lehrenden Soziologen Takemitsu Morikawa. Morikawas Diskussion der Jugendschriften des mit Weber befreundeten Ökonomen Friedrich Gottls wirft erneut die Frage nach dem Verhältnis von Verstehender Soziologie und Phänomenologie auf. Gottls ökonomische Theorie wird als Phänomenologie des Wirtschaftslebens rekonstruiert, die den ökonomischen Austausch als eine Form des Alltagshandelns begreift und das Zweckhandeln so zur „Grundkategorie der sinnhaften Welt“ (S. 203) erhebt. Die intime Kenntnis der Schriften Gottls scheint Morikawa jedoch zu dem allzu schnellen Schluss zu verleiten, Webers soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens ließen sich „nicht (nur) als Kasuistik von Begriffen, sondern auch als Phänomenologie des Alltags- und Wirtschaftslebens lesen“ (S. 207). Vernachlässigt wird so, dass die Weberʼsche Kategorienlehre gerade nicht am Fundament der Alltagswelt, sondern an historisch differenzierten Formen des Wirtschaftens und ihrer Verarbeitung durch eine dem Alltagsverstand entgegengesetzte wissenschaftliche Rationalität ansetzt. Vor diesem Hintergrund wäre zu fragen, ob sie zumindest in diesem Punkt vielleicht sogar der Marxʼschen Kritik der politischen Ökonomie wesentlich näher steht, die sich ebenfalls nicht an einem vorwissenschaftlichen Wissensbestand, sondern an den Abstraktionsprodukten einer bereits entwickelten Einzelwissenschaft entfaltet. Bei Weber und Marx rückt so die Historizität wissenschaftlicher Begriffsbildungen und gesellschaftlicher Wirtschaftsformen, aber keine universelle Zweckorientierung menschlichen Wirtschaftshandelns in den Fokus.
Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag des Frankfurter Soziologen Klaus Lichtblau über „Die Bedeutung der Kategorie des ,Einverständnisses‘ in Max Webers Wissenschaftslehre“. Wie Lichtblau nachweist, übernimmt Weber die Kategorie des Einverständnisses aus Ferdinand Tönnies‘ soziologischem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft, modifiziert sie aber zugleich im Hinblick auf seine Analyse des Wirtschaftshandelns. Während Tönnies nämlich die Begriffe „Verständnis“ und „Konsens“ unmissverständlich einer kapitalistischen Vergesellschaftungsformen entgegengesetzten Gemeinschaft zuordnet, tauchen entsprechende Begriffe in der Vorkriegsfassung von Webers Wirtschaft und Gesellschaft zusammen mit dem Begriff der „Marktgemeinschaft“ auf. Im Gegensatz zu dem von Tönnies auf den isolierten Tauschakt zweier wirtschaftlicher Kontrahenten zugespitzten Gesellschaftsbegriff meine Marktgemeinschaft „die vor allem durch den Gebrauch des Geldes bewirkte sinnhafte Orientierung an unbestimmt vielen Dritten“ (S. 222). Die Orientierung aller Marktteilnehmer an der entwickelten Geldwirtschaft kann so als eine „durch den Tausch bewirkte Ordnung“ (ebd.) rekonstruiert werden, die sich durch „sinnhafte Bezogenheit des Handelns auf die ‚Erwartungen‘ anderer Menschen“ (S. 224) konstituiert. Lichtblau rückt diese Überlegungen sicherlich nicht zu Unrecht in die Nähe von Diskussionen um das Verhältnis von spontaner marktwirtschaftlicher und gelenkter planwirtschaftlicher Ordnung, wie sie sich kurz nach Webers Zeit prominent bei Friedrich von Hayek finden. Inwiefern er aber Tönniesʼ Gesellschaftsbegriff gerecht wird, ist eine andere Frage. Eine Rekonstruktion von Tönniesʼ Orientierung an der Marxʼschen Analyse der Warenform hätte jedenfalls zeigen können, dass es Tönnies nie um isolierte Tauschakte individueller Marktteilnehmer, sondern um die marktförmig vermittelte Beziehung von Gebrauchswerten als Tauschwerten geht.[25] Damit eint allerdings nicht die sinnhafte Orientierung an einer durch den Gebrauch des Geldes normativ abgesicherten Wirtschaftsordnung die Marktteilnehmer. Diese Rolle übernimmt vielmehr ein über den Äquivalententausch vermitteltes „System der Bedürfnisse“ (Hegel). In Gestalt des entwickelten kapitalistischen Warentausches, also einer Wirtschaftsform, die sich nicht primär am Erhalt einer bestimmten Produzentengemeinschaft, sondern an den Bedürfnissen eines von Marx und Tönnies bereits als „Weltmarkt“ gekennzeichneten Warenmarktes orientiert, schlägt er „ins Innere des Gemeinwesens zurück, auf das er zersetzend wirkt.“[26]
Am Ende des Buches angekommen, lässt sich erahnen, dass die Heterogenität der von Wagner und Härpfer versammelten Zeitgenossenschaften die Rekonstruktion der Weberʼschen Wissenschaftslehre in einer sorgfältig aufbereiteten historisch-kritischen Ausgabe zu einer Herkulesaufgabe werden lassen. Der seit vielen Jahrzehnten geplante und inzwischen mit dem Titel Zur Logik und Methodik der Kultur- und Sozialwissenschaften für das Jahr 2018 angekündigte Band I/7 der Max Weber-Gesamtausgabe wird zeigen, wie sich die in dem vorliegenden Sammelband vereinten Diskussionsstränge in der konkreten Editionsarbeit weiterverfolgen lassen. Gelingt dies, so dürfte auch diese Edition so manche vergessene Zeitgenossenschaft zu Tage fördern, die den Denkraum der gegenwärtigen Max Weber-Forschung erweitern könnte.
Fußnoten
- Vgl. hierzu Otto Stammer (Hg.), Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1965.
- Vgl. hierzu Uta Gerhard, Max Weber auf Englisch. Zu Text und Werk bei Übertragungen ins Englische, in: Martin Endreß et al. (Hg.), Zyklos 2. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, Wiesbaden 2015, S. 31–72 sowie Oliver Neun, Der andere „amerikanische“ Max Weber: Hans H. Gerth und C. Wright Mills‘ From Max Weber, dessen deutsche Rezeption und das Konzept der „public sociology“, in: Berliner Journal für Soziologie 25 (2015), S. 333–357.
- Vgl. Karl Jaspers, Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph, Bremen 1946. Der Untertitel der Erstauflage lautete noch leicht modifiziert Deutsches Wesen im politischen Denken, Forschen und Philosophieren.
- Ebd., S. 39.
- Ebd., S. 5.
- Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Geschichte der als westdeutsches Pendant zur ursprünglich ostdeutschen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) geplanten Weber Gesamtausgabe (MWG). Vgl. Dirk Kaesler, Zwei Denker aus Deutschland. Eine deutsch-deutsche Editionsgeschichte, in: Leviathan 36/4 (2008), S. 590–596; ders., Max Weber 4.0. Wo stehen wir in der Max Weber-Forschung?.
- Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922.
- Gerhard Wagner/Heinz Zipprian, Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt am Main 1994, S. 9–28, hier S. 10.
- Vgl. ebd.
- Das beste Beispiel hierfür ist natürlich Webers vermeintliches Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft, das so manches Klassiker-Ranking in der Soziologie anführt, an dessen Originalität aber auch unabhängig von dem von Johannes Winckelmann ‚erdichteten‘ Kapitel über Staatssoziologie große Zweifel bestehen. Konsequenz dieser Zweifel ist der Versuch, das vermeintlich geschlossene Werk im Rahmen der Bände 22 bis 24 der Weber-Gesamtausgabe wieder in seine ‚originären‘ Einzelteile zu zerlegen.
- Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988.
- Vgl. Gerhard Wagner/Claudius Härpfer, Max Weber und die Naturwissenschaften, in: Martin Endress et al. (Hg.), Zyklos 1. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, Wiesbaden 2015, S. 164–191.
- Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt am Main 1994, insb. Kapitel 1.
- Vgl. Webers Diskussionsrede zu dem Vortrag von Plötz über Die Begriffe Rasse und Gesellschaft, in: ders. Schriften zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1988, S. 456–462.
- Vgl. Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Zur Biographie des Werks, Tübingen 1986, S. 67.
- Siehe hierzu Christian von Ferber, Der Werturteilsstreit 1909/1959. Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation, in: Ernst Topitsch (Hg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln 1965, S. 165–180.
- Vgl. Hannah Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, übers. v. Ursula Ludz, München 1998.
- Vgl. Herbert Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, in: ders., Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt am Main 1965, S. 107–129.
- Louis Althusser, Schriften Bd. 4: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler, übers. u. m. e. Nachwort v. Frieder Otto Wolf, Hamburg 1985, S. 42.
- Für die Biologie siehe etwa Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt am Main 2005.
- Vgl. Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Hamburg 1963.
- Vgl. Hans Paul Bahrdt, Wissenschaftssoziologie – ad hoc, Gütersloh 1971; Horst Kern, Empirische Sozialforschung. Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien, München 1982.
- Waltraut Bergmann et al. (Hg.), Soziologie im Faschismus 1933–1945: Darstellung und Texte, Köln 1981; C. Wright Mills, Die Konsequenz. Politik ohne Verantwortung, übers. v. Paul Baudisch, München 1959.
- Althusser, Philosophie, S. 46.
- Peter Ruben, Gemeinschaft und Gesellschaft – erneut betrachtet, in: ders., Philosophische Schriften – Online Edition, hrsg. v. Ulrich Hedtke u. Camilla Warnke, Berlin 2006.
- Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: ders., Marx-Engels-Werke 13, Berlin 1971, S. 3–160, hier S. 36.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Clemens Reichhold.
Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Politische Theorie und Ideengeschichte Methoden / Forschung
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