Maria-Sibylla Lotter | Rezension | 10.09.2024
Der schleichende Abschied von der Freiheit
Rezension zu „Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“ von Frauke Rostalski
Schon seit längerem vollzieht sich ein Wertewandel in den westlichen Gesellschaften, mit enormen Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Menschen und den Charakter öffentlicher Debatten. Er entspringt einer zunehmenden Aufmerksamkeit für die menschliche Verletzlichkeit und dem daraus resultierenden Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit. Der englische Soziologe Frank Furedi spricht in diesem Zusammenhang von einer „Therapiekultur“ und einer „Kultur der Angst“.[1] Mit dem Ausdruck „Therapiekultur“ bezeichnet Furedi das Phänomen, dass sich durch die Verbreitung therapeutischer Begrifflichkeiten und Denkmuster auch die Wahrnehmung von Problemen ändert. So geht es in etlichen Studien über Rassismus heute weniger um Aspekte wie sozioökonomische Ungleichheit, Diskriminierung oder Gewalt, als vielmehr um den psychischen Stress, dem Schwarze und andere People of Color in der Rolle von verletzlichen Opfern ausgesetzt sind. Die deutsche Philosophin Svenja Flaßpöhler hat diese zunehmende Sensibilität für subjektives Leiden und die damit einhergehende „moderne Empfindlichkeit“ auf ideengeschichtliche und kulturelle Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert zurückgeführt.[2] Furedi spricht aber auch von einer „Kultur der Angst“, weil das Bedürfnis nach Sicherheit in der Moderne ebenfalls zunehmende Bedeutung bekommt. Das zeigt sich nicht zuletzt in den Veränderungen im Rechtswesen, die das gesteigerte Bedürfnis nach Sicherheit und die Subjektivierung von Missständen unter dem Rubrum psychischer Verwundbarkeit in den letzten Jahren gezeitigt haben. Der englische Jurist Peter Ramsay konstatierte schon 2012 einen wachsenden Einfluss der Idee der Vulnerabilität auf das englische Recht. In seinem Buch The Insecurity State wies er auf eine damit einhergehende Veränderung im Verständnis von Rechten hin, die von den Institutionen zunehmend als eine Form des Schutzes und nicht mehr als Grundlage für die individuelle Freiheit verstanden würden. Ramsay zufolge lässt sich eine Vielzahl von jüngeren Straftatbeständen im englischen Recht nur damit erklären, dass man neuerdings von einem Recht auf Sicherheit ausgeht und Freiheit als Freiheit von Angst versteht – mit der Folge, dass das Wesen der individuellen Autonomie in der Praxis untergraben werde.[3]
Die an der Universität Köln lehrende Rechtswissenschaftlerin Frauke Rostalski diagnostiziert in ihrem unlängst erschienenen Buch Die vulnerable Gesellschaft eine ähnliche Entwicklung nun auch für Deutschland. Deren gesellschaftliche Grundlagen verortet sie ebenfalls in einem veränderten Selbstverständnis von Individuen und sozialen Gruppen. Ihr zufolge führt der damit einhergehende Wertewandel fast zwangsläufig zu einem Machtzuwachs des Staates:
„Vulnerable Gesellschaften sind nicht nur besonders risikoavers, sondern neigen außerdem dazu, die Aufgabe der Risikobewältigung in staatliche Hände zu legen und diesen Vorgang immer weiter auszudehnen.“ (S. 27)
Allerdings erscheint der von ihr konstruierte Zusammenhang zwischen persönlicher Vulnerabilität und staatlicher Freiheitseinschränkung insofern nicht logisch zwingend, als ja zumindest theoretisch das gesteigerte Bewusstsein der eigenen Verwundbarkeit auch als Ansporn zur Entwicklung von Resilienz und gruppenbezogenen Formen der Selbstermächtigung fungieren könnte. Schaut man sich jedoch die Entwicklungen der vergangenen Jahre an, so kann man Rostalskis Einschätzung, der zufolge die Fokussierung auf Verwundbarkeit und damit auf Sicherheit faktisch mehr und mehr Forderungen nach staatlicher Intervention mit sich brächten, schwerlich bestreiten:
„Ein besonderes Maß an Sicherheit vor Angriffen und Verletzungen wird eben nicht durch freiwillige private, sondern durch staatliche Interventionen erreicht. Der Mangel an individueller Widerstandsfähigkeit wird also durch eine Verstärkung äußerer Sicherheitsmaßnahmen kompensiert. Aus freiheitlicher Sicht vollzieht die vulnerable Gesellschaft damit eine Selbstverzwergung, die dazu dient, der eigenen (zumindest empfundenen) Ohnmacht gegenüber spezifischen Risiken entgegenzuwirken.“ (S. 38)
Worin genau besteht nun diese Selbstverzwergung? Rostalski diskutiert eine Reihe von Gesetzeserweiterungen, die stets demselben Muster folgten:
„(1) Aufwertung des Rechtsguts […] angesichts der Vulnerabilität des Menschen; (2) Feststellung der Beeinträchtigung [der je vulnerablen menschlichen Autonomie] durch das jeweilige Verhalten; gefolgt von (3) dem Schluss auf die Notwendigkeit neuer Schutzgesetze.“ (S. 79)
Während es jeweils das Ziel sei, die Selbstbestimmung besonders vulnerabler Personen zu schützen, bringe diese Entwicklung jedoch zwangsläufig immer weitere Einschränkungen von Freiheiten mit sich. Rostalski nennt drei Formen solcher Einschränkungen:
„Erstens geht dem Bürger Handlungsfreiheit verloren, weil er sich nun an bestimmte allgemein verbindliche Gesetze halten muss, die es bislang nicht gab. Zweitens verliert der Einzelne infolge staatlicher Risikovorsorge einen Teil seiner Eigenverantwortung. Und drittens gehen ihm auf diese Weise Räume privater Konfliktlösung verloren.“ (S. 54)
Viertens, so könnte man hinzufügen, gehen auch Gelegenheiten zur Entwicklung neuer Formen kreativer Gegenwehr verloren, wie sie etwa Judith Butler in ihrem Buch Haß spricht artikuliert hat.[4] Butler spricht sich dort gegen staatliche Verbote von Hassrede aus, weil Betroffene dadurch die Möglichkeit der Selbstermächtigung durch eine Wendung der Sprache gegen die beabsichtigte Diskriminierung verlören, etwa durch die Umwertung von beleidigend gemeinten Begriffen wie queer oder schwul.
Gegen Rostalskis Hinweis auf die mit zunehmendem Vulnerabilitätsbewusstsein und präventivem staatlichem Schutz einhergehenden Freiheitsverluste ließe sich nun einwenden, dass rechtliche Reformen in manchen Bereichen auch Freiheitsgewinne für vulnerable Personen mit sich bringen. Verweisen könnte man hier etwa auf das Sexualstrafrecht, das die Handlungsspielräume von Frauen erweiterte, indem es lange Zeit nicht sanktionierte Praktiken als sexuelle Übergriffe definierte und unter Strafe stellte. So zu argumentieren wäre allerdings müßig, da Rostalski derartige Effekte gar nicht bestreitet. Sie scheint die Erweiterungen des Sexualstrafrechts insgesamt eher positiv zu sehen (S. 156), wenngleich sie sich hier nicht immer eindeutig positioniert. Sie entkräftet jedoch das häufig vorgebrachte Argument, bei der Einschränkung von Freiheitsrechten handle es sich gar nicht um Freiheitsverluste, da es, „im Bereich von Fragen sozialer Gerechtigkeit vornehmlich darum gehe, Freiheiten neu zu verteilen“ (S. 11). Diese Vorstellung ist insofern unzutreffend, als die Freiheit einer Gruppe ja nicht einfach zugunsten eines Freiheitsgewinns einer anderen Gruppe eingeschränkt wird:
„Richtigerweise muss es heißen, dass die Freiheit aller zugunsten der Freiheitsauslebung einiger und zugunsten des Befugniszugewinns des Staates beschnitten wird.“ (S. 57)
Auch wenn gute Gründe für das neue Recht sprechen, hat es einschränkende Folgen für die Autonomie und Handlungsfähigkeit aller, denn wo neben dem unerlässlichen Schutz vor Gewalt weitere Präventions- und Verteidigungsmaßnahmen vom Staat übernommen werden, gehen stets auch Möglichkeiten und Fähigkeiten zum Selbstschutz oder zur eigenständigen Konfliktlösung verloren.
Gleichwohl spricht sich Rostalski insgesamt gegen eine negative Bewertung der Rechtsentwicklung aus. Sie plädiert für eine je nach Anlass und Kontext differenzierte Sichtweise. So verteidigt sie die seit den Neunzigerjahren im Zuge der Strafrechtsänderungsgesetze vorgenommenen Freiheitseinschränkungen mit dem Argument, dass neue Straftatbestände wie sexualisierte Gewalt in der Ehe die Bedeutung der sexuellen Selbstbestimmung als Rechtsgut und somit die Freiheit derer stärkten, die andernfalls in ihrer sexuellen Selbstbestimmung beeinträchtigt würden (S. 70, 156). Das gilt auch für die mit den Neufassungen des § 177 StGB (sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) und des § 184 StGB (sexuelle Belästigung) verbundenen Änderungen (S. 71 f.). Der stärkere Schutz diene gerade „dazu, jedem Einzelnen das Ausleben seiner persönlichen Sittlichkeitsvorstellungen zu ermöglichen – weshalb ihm eben nicht die Sexualität eines anderen aufgedrängt werden darf“ (S. 74.). Allerdings gibt sie zu bedenken, dass das hohe Gut der sexuellen Selbstbestimmung nicht als Rechtfertigung für jegliche Art der Regulierung verstanden werden sollte (S. 75); insbesondere dann nicht, wenn dies dem Verhältnismäßigkeitsprinzip widerspreche (S. 76.).
Mit besonderer Sorge betrachtet Rostalski die neue „Diskursvulnerabilität“ (S. 17). Darunter versteht sie „besondere Verletzlichkeiten […], die Menschen im Gespräch mit anderen aufgrund des Gesprächs selbst aufweisen“ (S. 110). Unter Diskursvulnerabilität fällt aber nicht nur die erhöhte Empfindlichkeit von Individuen oder Gruppen gegenüber bestimmten Begriffen oder Themen, sondern auch die Verrohung des Diskurses, die häufig mit dem Schlagwort der Cancel Culture umschrieben wird: der Ausschluss von Personen aus der öffentlichen Debatte, deren Positionen als verletzend empfunden werden, sowie der Ausschluss von Argumenten und Positionen, von denen angenommen wird, dass sie die Gefühle vulnerabler Personen verletzen könnten. Hier übt Rostalski deutliche Kritik: Diskursvulnerabilität bedrohe die Diskutierbarkeit von Themen und damit auch die Qualität der Diskussionsergebnisse. Was sie hier anführt, ist freilich weder in normativer Hinsicht noch im Hinblick auf den Tatbestand neu: Wir sind auf den freien Diskurs angewiesen, um gesellschaftlich relevante Probleme von allen Seiten betrachten und zu gut begründeten Entscheidungen kommen zu können.[5] Hier argumentiert sie im Anschluss an diskurstheoretische Überlegungen von Jürgen Habermas und Robert Alexy:
„Im öffentlichen Diskurs zwischen den Gesellschaftsmitgliedern werden Normen auf ihre Richtigkeit überprüft. Dies betrifft sowohl bereits geltende Gesetze, die kritisch hinterfragt werden können, als auch mögliche neue Rechtsvorschriften. Ob der Diskurs gelingt, ist ein starkes Argument für die Richtigkeit der auf diesem Wege erzielten Ergebnisse. Je besser das qualitative Niveau der Debatte, desto höher die Richtigkeitsgewähr für das Resultat.“ (S. 149)
Wenn öffentliche Diskurse jedoch behindert und bestimmte Positionen von vornherein ausgeschlossen werden, kann von dieser Richtigkeit nicht mehr ohne Weiteres ausgegangen werden. Dass eine freie Debatte unter Andersdenkenden mittlerweile keineswegs mehr selbstverständlich ist, führt Rostalski insbesondere auf eine Fortsetzung gewisser diskursfeindlicher Reaktionsmuster aus der Corona-Zeit zurück; hierzu gehört für sie insbesondere die Neigung, „die eigene Diskursvulnerabilität über den offenen Austausch zu stellen und zur Vermeidung potenzieller Verletzungen Debatten gar nicht bzw. nur sehr eingeschränkt zu führen“ (S. 130). Darüber hinaus führt sie die mit der Diskursvulnerabilität verbundenen Verschärfungen im Bereich der ehrverletzenden Delikte (§ 192 und § 188 StGB) auf die Verrohung der Diskussionskultur durch die sozialen Medien zurück, sowie auf grundlegende „Wertverschiebungen, wonach die Ehre als Rechtsgut gegenwärtig erheblich stärker gewichtet wird als noch vor einigen Jahrzehnten“ (S. 63).
Insgesamt leistet das mitunter etwas spröde formulierte, aber klar und verständlich argumentierende Buch einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung eines Problembewusstseins angesichts einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sich so schleichend vollzieht, dass die mit ihr verbundene zunehmende Einschränkung individueller Freiheitsrechte von vielen Bürgerinnen und Bürgern kaum wahrgenommen wird. Rostalski möchte aufklären und zur Diskussion über die Frage anregen, wie viel staatliche Prävention im Namen von Verletzlichkeit wir tatsächlich für angemessen halten und wie viel individuelle Freiheit wir dafür zu opfern bereit sind (S. 159). Diese Debatte brauchen wir dringend.
Fußnoten
- Frank Furedi, Therapy Culture: Cultivating Vulnerability in an Uncertain Age, London u.a. 2004; ders., Culture of Fear: Risk Taking and the Morality of Low Expectation, London u.a. 1997; ders., How Fear Works: Culture of Fear in the Twenty-First Century, London u.a. 2018.
- Svenja Flaßpöhler, Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren, Stuttgart 2021.
- Peter Ramsay, The Insecurity State: Vulnerable Autonomy and the Right to Security in the Criminal Law, Oxford 2012.
- Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, übers. von Kathrina Menke und Markus Krist, Berlin 1998.
- Vgl. Maria-Sibylla Lotter, Probleme der Streitkultur in Demokratie und Wissenschaft, Baden-Baden 2023; dies., Sind „vulnerable Gruppen“ vor Kritik zu schützen? Die Funktionen der Redefreiheit für die liberale Demokratie und die Ideologisierung der Vulnerabilität, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 9 (2022), 2, S. 375–398.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Affekte / Emotionen Gesellschaft Kommunikation Kultur Normen / Regeln / Konventionen Öffentlichkeit Queer Rassismus / Diskriminierung Recht Sicherheit
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Judith von der Heyde, Francesca Barp
„Der Prototyp Ultra ist ein Mann“
Judith von der Heyde im Gespräch über ihre Forschungen zur Fankultur
Das Kind als eindimensionales Subjekt
Rezension zu „Das Problem Kind. Ein Beitrag zur Genealogie moderner Subjektivierung“ von Christoph T. Burmeister
Staaten und Körper in der Pandemie
Rezension zu „Die Ordnung der Berührung. Staat, Gewalt und Kritik in Zeiten der Coronakrise“ von Gesa Lindemann