Stefanie Börner | Rezension |

Der schwierige Wesenskern der europäischen Identität

Rezension zu „Der Kontinent ohne Eigenschaften. Lesezeichen im Buch Europa“ von Peter Sloterdijk

Abbildung Buchcover Der Kontinent ohne Eigenschaften von Sloterdijk

Peter Sloterdijk:
Der Kontinent ohne Eigenschaften. Lesezeichen im Buch Europa
Deutschland
Berlin 2024: Suhrkamp
296 S., 28,00 EUR
ISBN 978-3-518-43214-3

Wer und was ist Europa angesichts der gegenwärtigen Polykrisen, des drohenden geopolitischen Bedeutungsverlustes und einer „Entrücktheit Europas in eine noble Adress-Schwäche“ (S. 9)? Letztere gehört schon lange zu den zentralen Kritikpunkten der Europa beforschenden Disziplinen und wird mal als Demokratie-, mal als Öffentlichkeits- oder Transparenzdefizit konkretisiert. Allerdings befinde sich nicht nur der Kontinent in einem Zustand der „Eigenschaftslosigkeit“ (S. 11), sondern auch „der Europäer von heute“, der im Prozess einer undankbaren „Verniemandung“ (S. 14) zu einem bloßen „Endverbraucher eines Komforts geworden ist, von dessen Entstehungsbedingungen er nicht mehr den geringsten Begriff hat“ (S. 29), so Peter Sloterdijks einleitende Problemdiagnose in Der Kontinent ohne Eigenschaften. Lesezeichen im Buch Europa. Die Publikation beruht auf einer Vorlesung, die Sloterdijk zwischen April und Juni 2024 am Collège de France gehalten hat, wo er 2023/2024 den temporären Lehrstuhl für die L'invention de l'Europe par les langues et les cultures innehatte.

Wie können sich Europäer:innen positiv auf ein solch defizitäres und widersprüchliches, ja geradezu „extraterrestrische[s]“ (S. 29) EU-Europa beziehen? Als selbsternannter Psychopolitiker lässt Sloterdijk das jüngere Europa der Europäischen Union sogleich wieder hinter sich und begibt sich, gewissermaßen als Hofpsychologe Europas, in bewährter essayistischer Manier auf eine kultur- und philosophiegeschichtliche Suche nach dem Wesenskern der europäischen Identität. Aber ist der Versuch, den Wesenskern Europas im Singular erfassen zu wollen, nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt? Denn der Begriff suggeriert eindeutig zuortbare und abgrenzbare Qualitäten, was sich spätestens ab dem 17. Jahrhundert als schwierig und heute als unmöglich erweist.

Um der Vielfalt an potenziellen ereignis- und ideengeschichtlichen Bezügen und Diskussionszusammenhängen habhaft zu werden, bedient sich Sloterdijk eines metaphorischen Kunstgriffs: Er versteht Europa als schier unerschöpfliches Buch, auf dessen Kapitel er – zwangsläufig hochgradig selektiv – rekurriert. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hierbei auf der Neuzeit (spätes 15. bis 18. Jahrhundert), während der sich das mittelalterliche Europa in seinen Grundfesten erschüttert sah und gänzlich erneuert hat. Ein Großteil der sieben Lektionen des Buches widmet sich diesen in jeder Hinsicht „virulentesten Jahrhunderten“ (S. 251), die mit Epochenbeschreibungen wie dem Zeitalter der Aufklärung und der Entdeckungen, der ersten Welle der Globalisierung, Kolonialismus oder der Erfindung der Staatlichkeit mit sich an der Idee der Nation ausrichtenden Bevölkerungen erfasst werden.

So entwickelt der Autor in Lektion eins äußerst aufschlussreich die These, Europa sei ein „jahrhunderteübergreifende[r] Lernzusammenhang“ (S. 66), zu dem Sloterdijk so unterschiedliche Phänomene wie die erste Bildungsexpansion in der Renaissance, den unerschöpflichen Erfindungsreichtum, den Matthäus-Effekt und die Entstehung des modernen Staatswesens zählt. Dieser hyperproduktive Lernzusammenhang münde schließlich ab dem 18. Jahrhundert in „Europas bedeutendste[r]“ Innovation, der Fähigkeit, „die Einzelnen aus dem Zustand totaler Mitgliedschaft in geschlossenen Kult- und Glaubensgemeinschaften entlassen zu haben“ (S. 95), wobei Sloterdijk den neu entstehenden totalen Mitgliedschaften der Nationalstaaten erstaunlich wenig Aufmerksamkeit schenkt. 

Die zunächst unkritisch-bewundernde Darstellung sowohl des europäischen Expansionsstrebens als auch seiner Akkumulationslogik, die für Sloterdijk unter der großen Überschrift der zivilisatorischen Errungenschaften firmieren, ergänzt er in Lektion sechs um die Betrachtung eines spezifischen Kapitels der Erweiterungslogik, das mit der Entwicklung der Seefahrt und der Umrundung der Erde einsetzte. Das vom „Geist der Ausdehnung“ (S. 240) durchzogene „Muster der mutwilligen Überdehnung“ (S. 41) und die damit verbundene koloniale Pädagogik, die sich seit Beginn der konquistadorischen Entdeckungsreisen über die gewaltvolle Kolonialgeschichte bis zur heutigen Entwicklungshilfe vergleichsweise kritiklos durch die europäische Geschichte zieht, begreift der Autor als das bewusstseins- und vor allem weltprägende Wesensmerkmal des Kontinents schlechthin. So drängt sich am Ende der Lektüre der Eindruck auf, dass eine solch überhöhende, obgleich vielfach anregende Abhandlung nur als mahnende Erinnerung an den (west-)europäischen Größenwahn und Egozentrismus gelesen werden kann, die bis heute das Selbstverständnis und den Blick auf die Welt so vieler Menschen prägen.

Das Buch Europa (als Metapher) enthält aber auch seltsam ins Leere laufende und gestrig scheinende Kapitel wie Lektion drei, die sich mit Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes befasst und die Sloterdijk ausdrücklich nicht als analogieschwangere Niedergangsmahnung für das heutige Europa verstanden wissen will. Vielmehr führt er Spengler als zwiespältigen Propheten des Untergangs an, um vor selbsternannten Rettern zu warnen, die auch heute wieder Konjunktur haben und „deren Hilfsdienste sich als schlimmer erweisen würden als die Probleme, zu deren Bewältigung sie ihre Rezepte empfehlen“ (S. 171). Scheinbar gehört – neben jahrhundertealtem Lernwillen und Expansionsdrang – zu Europas eher überraschenden Wesenszügen auch ein Hang zur ehrlichen Bekenntnis, „seine Verirrungen zu gestehen“ (S. 204), der aus christlichen Praktiken wie der Beichte und der Gewissensprüfung erwachsen ist, wie Sloterdijk in Lektion vier herausarbeitet.

Statt der titelgebenden vermeintlichen Eigenschaftslosigkeit eines Kontinents, von dem große Teile im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem transnationalen, interdependenzverstärkenden Sozialraum zusammengewachsen sind, schält sich Lektion für Lektion eine Fülle an zivilisatorischen Qualitäten heraus, die Zeitgenoss:innen mahnend bestärken und ob der drohenden Bedeutungslosigkeit mit Trost erfüllen sollen, denn selbst von außen könne man Europa nicht kritisieren oder bekämpfen, „ohne es zu zitieren“ (S.293), so Sloterdijks abschließende Erkenntnis. Das Buch enthält viele kluge Beobachtungen und überraschende Verknüpfungen, sodass eine intellektuell geschulte Leser:innenschaft, die an dem „soft-power-Gebilde“ (S. 35) Sprache ihre Freude hat, bei der Lektüre auf ihre Kosten kommt. Mit dem Bild vom Buch Europa bietet Sloterdijk metaphorische Deutungsangebote, die – anstatt durch Stichhaltigkeit und empirische Überprüfbarkeit des Arguments – durch die Wortgewalt der Sprache und die Schönheit des Bildes zu überzeugen hoffen. 

Insgesamt bleiben die Überlegungen seltsam gestrig. Das hat drei Gründe: Erstens überführt der Autor seine zum Weiterdenken einladenden Thesen nicht ins Heute. Wie vermag es das Europa des 21. Jahrhunderts, die benannten Leistungen – je nach Kontext – zu aktualisieren oder zu schützen? Welche Bedeutung kommt der „Demokratisierung der Biographien“ (S. 101) im Internet der Prosumer zu? Inwiefern trägt die oben angesprochene Neigung zum ehrlichen Bekenntnis im postfaktischen Zeitalter noch? Und vor allem: Wohin führt uns das Muster der Ausdehnung und Kolonisierung als Grundgerüst europäischer Zivilisation, wenn wir es gegenwärtig offensichtlich auf die Zukunft der heranwachsenden Generationen und auf das Weltall anwenden? So vergibt der Autor die Chance, bei seinen intellektuellen Tiefenbohrungen die teils inspirierenden Thesen für den „mittleren Europäer“ (S. 11), nach dem er sich eingangs auf die Suche macht, fruchtbar zu machen. Denn bei aller Vorsicht vor Analogien ist es wohl kein Zufall, dass zwischen der vielbemühten Neuzeit und dem heutigen Europa zumindest eine Parallele besteht: Auch die Zeitgenoss:innen der andiskutierten Jahrhunderte haben die auf Zerstörung und Erneuerung ausgerichteten Dynamiken und Triebkräfte vermutlich als Polykrise empfunden.

Zum zweiten bietet uns Sloterdijk trotz wiederholter zaghafter Kritik an den Unrechtsregimen und Gewaltverbrechen der Kolonialherren eine durch und durch eurozentrisch-affirmative Lesart seines Europas an. Als Psychopolitiker bringt er Verständnis für die biopolitisch und psychologisch motivierten weltumspannenden Ausdehnungs- und Ausbeutungsbemühungen der Kolonialzeit auf. Sloterdijks Eurozentrismus entlarvt sich darüber hinaus selbst, indem seine historischen Abhandlungen als vermeintlich neutrale Deutungsangebote daherkommen, während er sämtliche postkoloniale und linke Theorien – denen er sehr wenig Raum einräumt – als ideologieverdächtig, „dogmatisch benommen“ (S. 89) und widerlegt beziehungsweise irrtümlich darstellt (S. 255, S. 261 f.). Auch der abschließende Blick auf die Außenwahrnehmungen Europas relativiert die eurozentristische Darstellung nicht, speist er sich doch aus der essentialistischen Überzeugung, dass sich jeder globale Diskursbeitrag unweigerlich aus dem zivilisatorischen Kern europäischen Denkens speist.

Dass in Anbetracht des Anspruchs, dem „durchschnittliche[n] Europäer von heute“ (S. 29) ein aufrichtendes und aufklärendes Lesebuch an die Hand zu geben, zudem nur von männlichen Vertretern des europäischen Menschen (S. 22, S. 189) die Rede ist, ist drittens doch mehr als erstaunlich. Sloterdijk besitzt durchaus ein Händchen dafür, nicht nur die üblichen Verdächtigen zu rezipieren. Wenn er sich schon die Mühe macht, so viele in Vergessenheit geratene Denker wieder aufleben zu lassen, wäre es jedoch eine Aufgabe von unschätzbarem Wert gewesen, den Blick auch auf Forscherinnen, Revolutionärinnen und Autorinnen zu lenken, an denen es nicht mangelt, die aber angesichts eines eingeschränkten Sichtfeldes immer wieder aus dem Blick geraten. Dies zeigt das Buch eindrücklich, wenn es ausnahmslos männliche Triebkräfte der europäischen Geschichte ausmacht. Gerade in Bezug auf die großen Umwälzungen wäre es umso interessanter gewesen, zu sehen, wie weibliche Subjektformierung in der Neuzeit vonstattenging. Sloterdijks „europäische[r] Mensch“ (S. 189) ist also nicht nur ausnahmslos männlich, sondern zeigt sich zudem nicht gerade von seiner besten Seite, wie Größenwahn, Gewaltausbrüche, Machtmissbrauch und derlei Charakterschwächen zeigen, die den Kontinent ohne Eigenschaften geformt haben.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Europa Geschichte Globalisierung / Weltgesellschaft Kolonialismus / Postkolonialismus Philosophie Staat / Nation

Stefanie Börner

Stefanie Börner ist Juniorprofessorin für die Soziologie europäischer Gesellschaften am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Soziologie der Sozialpolitik, der Arbeitssoziologie sowie der Europäischen Integration.

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