Klaus Schlichte | Rezension | 27.11.2024
Frieden als Prozess
Rezension zu „Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen“ von Jörn Leonhard
Um es gleich vorweg zu nehmen: Es sind nicht nur zehn Thesen, die der Historiker Jörn Leonhard in Über Kriege und wie man sie beendet präsentiert, sondern weitaus mehr. Unter den Beobachtungen, die der Autor aus der Geschichte der europäischen Kriege der Neuzeit generiert, finden sich zahlreiche Nebenbeobachtungen und Einsichten, die vielfach auch ihrerseits zu zentralen Thesen hätten erhoben werden können.
„Die Natur des Krieges bestimmt sein Ende“ – mit diesem Satz fasst Leonhard zentrale Beobachtungen des ersten Kapitels zusammen. Jenseits der üblichen Fixierung auf Sieg und Niederlage zeigt er, welche komplexen Dynamiken sich in bewaffneten Massenkonflikten ereignen, ohne sie auf generelle Zusammenhänge zu reduzieren. Sein geschichtswissenschaftliches Misstrauen gegenüber Generalisierungen bewahrt ihn übrigens das ganze Buch hindurch vor unzulässigen Verallgemeinerungen. Leonhards Thesen lassen sich wohl am ehesten als die Offenlegung sozialer Mechanismen fassen, also als Muster häufig verketteter Wahrscheinlichkeiten, und eben nicht als strikte Kausalgesetze. Von solchen sozialen Mechanismen, die in Kriegen wirken können, finden sich im Buch eine ganze Reihe.
Das erste Kapitel schon zeigt, wie stark, erstens, Technologie und Organisation die Natur des Krieges bestimmen, und damit auch die Möglichkeiten seiner Beendigung.[1] Kriege und ihre Beendigung unterscheiden sich jedoch, zweitens, hinsichtlich des Wandels politischer Legitimität, die nicht nur die Struktur der Krieg führenden Parteien selbst bestimmt, sondern auch für die Art der Kriegsbeendigung und den Prozess, den wir Frieden nennen, von größter Bedeutung ist. Die dritte Beobachtung dieses Kapitels betrifft die Frage der wechselseitigen Anerkennung der Kriegsparteien. Klassischerweise gilt hier die grundsätzliche gegenseitige Anerkennung der europäischen Großmächte als Normalfall, während die Verweigerung derselben gegenüber kolonisierten Gesellschaften und politischen Gebilden die andere Seite der europäischen Kriegsführung bildet.
Die vierte Frage, die über die Chance einer friedlichen Einigung und ihre Form entscheidet, ist das Vorhandensein eines als neutral anerkannten Dritten. Leonhard zeigt, dass jenseits der militärischen und strategischen Fragen eine genuin politische Logik über Kriegsverläufe, aber auch über Möglichkeiten der Kriegsbeendigung entscheidet. Schon das ist ein wesentlicher Beitrag zur laufenden Debatte über die beiden gegenwärtig in der deutschen Öffentlichkeit behandelten Kriege, nämlich dem zwischen Russland und der Ukraine und dem zwischen Israel und Palästina. Wie unangemessen die Reduzierung der Diskussion auf die Frage der Waffensysteme ist, wird schon im ersten Kapitel deutlich.
Im zweiten Kapitel behandelt Leonhard die kontingenten Dynamiken des Krieges. Nicht nur Bürgerkriege sind eigendynamisch,[2] sondern auch zwischenstaatliche. Der berühmte Moltke-Satz, dass kein Plan die Begegnung mit dem Feind überlebe, wird vom Autor noch einmal differenziert. Ein wesentliches dynamisierendes Moment jedes Krieges sei die immer wieder aufflammende Hoffnung auf die Möglichkeit einer kriegsentscheidenden Maßnahme. Das gelte für alle später militärisch geschlagenen oder zum Rückzug gezwungenen Akteure, wie etwa die deutsche Wehrmacht, die Kolonialmacht Frankreich in Indochina und Algerien, die Vereinigten Staaten in Vietnam sowie die Sowjetunion in Afghanistan.
Während Leonhard in diesem zweiten Kapitel den von ihm zitierten Clausewitz variiert, demzufolge der Krieg ein Gebiet des Zufalls ist, entwickelt er im dritten Kapitel eine historisch gesättigte skeptische Sicht auf Friedensregelungen. Der „faule Friede“ sei häufiger als gedacht Anlass für den nächsten Krieg. Faul könne ein Friede nicht ausschließlich aufgrund unlauterer Absichten sein, sondern auch, wenn er auf Machtasymmetrien beruhe, die im Krieg verdeckt geblieben waren, oder weil sich die Kalküle der Akteure im Nachgang des Krieges verschöben. Eine wesentliche Voraussetzung für einen stabilen Frieden sei es – und auch hier lässt sich Leonhards Buch als Kommentar zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine verstehen –, dass sich die Akteure gegenseitig nicht das Existenzrecht absprächen.
Das vierte Kapitel behandelt das lange Ende des Krieges, das wiederum mit seiner Eigendynamik zusammenhängt. Mit fortschreitender Dauer würde sich jeder Krieg selbst zur Begründung. Mitunter geschehe die Fortsetzung nur noch aus Angst vor Prestigeverlust oder aus Sorge um Dominoeffekte. Auch hier beobachtet der Autor wieder eine zentrale politische Dimension, denn jede Kriegsbeendigung sei letztlich eine Legitimitätsfrage. Dieser Aspekt, so scheint es dem Rezensenten, ist deshalb besonders wichtig, weil, wie Leonhard betont, Kipppunkte schwer a priori zu bestimmen sind – zumal in jedem zwischenstaatlichen Krieg die Umstellung auf Kriegswirtschaft eine schwer abschätzbare Streckung des Krieges erlaubt.
Wer das Buch zur Hand nimmt, wird im Laufe der Lektüre also mehr als einmal an den Krieg zwischen Russland und der Ukraine denken müssen, auch wenn das vom Autor vielleicht nicht immer beabsichtigt ist. Man kann den Text als einen Kommentar zum laufenden Geschehen lesen, und das mit großem Gewinn. Positiv hervorzuheben ist auch, dass Leonhard darauf verzichtet, seine historisch gewonnenen Einsichten in wohlfeile Plädoyers für die eine oder andere Position in der international heftig umstrittenen Frage nach der Regelung des Krieges umzumünzen.
Das Buch ist allen zu empfehlen, die sich gegenwärtig über Fragen der Kriegsbeendigung und Friedensregelung Gedanken machen, ob im wissenschaftlichen oder politischen Feld. Bei der Lektüre muss man sich nur die Tatsache vergegenwärtigen, dass der Autor sich auf die zwischenstaatlichen Kriege Europas beschränkt. Weder koloniale Eroberungskriege, noch Sezessionskriege oder die zahlenmäßig weit überwiegenden innerstaatlichen Kriege außerhalb Europas spielen in der Betrachtung eine größere Rolle, obwohl sie den Großteil des Kriegsgeschehens nach 1945 ausmachen. Der Dreißigjährige Krieg, die beiden Weltkriege und einige Dekolonisationskriege sind das historische Material, aus dem der Autor seine Argumente gewinnt. Das ist kein Nachteil, weil die Varianz des globalen Kriegsgeschehen ohnehin so groß ist, dass es schwerfiele, daraus generelle Beobachtungen abzuleiten.
Für einen Historiker ist Leonhard mit seinem systematisierenden Ansatz schon ein großes Wagnis eingegangen, aber man kann konstatieren, dass es sich ausgezahlt hat. Seine Einsichten sind so wertvoll, weil sie den politischen und pragmatischen Aspekten von Krieg und Frieden die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdienen. Eine Rekapitulation der zahlreichen Debatten über das überwiegend innerstaatliche, wenn auch zunehmend internationalisierte Kriegsgeschehen außerhalb Europas hätte den Rahmen des Buches gesprengt und es für das breite Publikum nicht attraktiver gemacht. So ist nun ein knapp 190 Seiten starkes Vademecum entstanden, das besonders jenen ans Herz gelegt sei, die sich von den ungeplanten Effekten organisierter Gewalt immer noch überrascht zeigen und in der Betrachtung von Kriegen allein das militärische Geschehen in den Blick nehmen. Dass dies der Realität nicht gerecht wird, wird besonders in den Kapiteln fünf bis neun deutlich.
Kapitel fünf ist einem Aspekt der Ökonomie des Krieges gewidmet, der gegenwärtig stark diskutiert wird, nämlich den Möglichkeiten und Grenzen einer Kriegswirtschaft. Leonhard zufolge bestimmen die Verfügbarkeiten von Ressourcen häufig den Kipppunkt von Kriegen, allerdings ohne dass dies den Akteuren unmittelbar einsichtig würde. Ebenso aktuell ist das Thema des sechsten Kapitels, das den Bedingungen und Folgen von Waffenstillständen auf den Grund geht. Elementar ist zunächst die Einsicht, dass die Phasen vor und während der Waffenstillstände immer das Risiko eines Verlusts der politischen Kontrolle beinhalten, weil Militärs drohen, die Macht zu übernehmen. Waffenstillstandsphasen sind zweideutige Perioden, die immer seltener durch formelle Friedensregelungen abgelöst werden. Auch sind die aufgenommenen Verhandlungen häufig so langwierig, dass die Kämpfe ununterbrochen weitergehen. Eine klare Unterscheidung von Kriegsfortsetzung und Bemühungen um ein friedliches Ende ist empirisch oft sehr schwierig. Während formelle vertragliche Friedensregelungen seltener werden, so ist doch beobachtbar, dass sie belastbarer sind als Kriegsbeendigung, die nur auf nicht weiter geregelten Waffenstillständen beruhten.
Kapitel sieben behandelt dann das Problem des Verhältnisses von Siegern und Besiegten nach dem Ende der Kampfhandlungen. Jede weitere Demütigung der Besiegten mache den Frieden instabil, so Leonhard. Insbesondere nach 1900 lässt sich noch eine weitere Erschwernis friedlicher Regelungen beobachten: Massenmedial vermittelte Symboliken und Inszenierungen würden derart emotional aufgeladen, dass insbesondere die Besiegten Ressentiments entwickelten.[3] Leonhard beobachtet auch hier eine qualitative Veränderung gegenüber den früheren Kabinettskriegen, in denen die europäische Hocharistokratie noch einen geteilten Habitus und eine geteilte Lebenswelt hatte, weshalb die gegenseitige Anerkennung der politischen Führungen unabhängig vom Kriegsausgang garantiert blieb. In den Zeiten nationalistischer Aufladung sei dieses der Kriegsbeendigung förderliche Element weggefallen, was eine vorsichtige Kommunikationspolitik umso wichtiger gemacht habe, so der Autor.
Die achte These behandelt überzogene Erwartungen, die jede Friedensregelung destabilisieren. Je höher die Erwartungen, desto höher ist die Gefahr der Enttäuschung und damit eines neuerlichen Krieges. Phasen der Friedensregelung seien schon deshalb schwierig, weil es diverse Gründe gebe, weshalb eine siegreiche Koalition zerbrechen könne. Auch in diesem Punkt sieht der Autor einen qualitativen Wandel im europäischen System. Vor dem Zeitalter der Demokratisierung und des Nationalstaats, das nach dem Ersten Weltkrieg anbrach, waren stabile Friedensregelungen möglich, weil sie weniger durch nationale Agenten und emotionale Aufladung strapaziert wurden. Die praktische Konklusion aus dieser Beobachtung ist für Leonhard, dass in gegenwärtigen Friedensbemühungen ein klares Bewusstsein für die Hypotheken einer jeden Friedensregelung geschaffen werden muss. Er empfiehlt Ehrlichkeit, was geregelt werden könne und was als Konflikt über das Ende des Krieges hinweg bestehen bleiben werde.
Kapitel neun macht auf die ausgedehnte Dauer von Friedensregelungen aufmerksam. Historisch ließe sich beobachten, dass Multipolarität nicht notwendig Friedensregelungen erschwere. Die Entwicklungen nach 1919 etwa hätten sich als tragfähiger erwiesen als der schlechte Ruf des Völkerbunds es im Nachhinein erscheinen lasse. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich mit Leonhard durchaus als ein kollektiver Lernprozess begreifen, insbesondere mit dem steigenden Bewusstsein dafür, dass Friedensregelungen nicht notwendig Gerechtigkeitsprobleme lösen.
„Nicht jeder Sieg ist ein Gewinn, und manche Niederlage wird zur Chance“ – mit dem so betitelten zehnten Kapitel schließt das Buch von Leonhard. Als Beleg für diese letzte These führt er etwa die preußischen Reformer an, die ebenso wie die französische Regierung nach 1871 eine Erneuerung der staatlichen Institutionen und des gesamten politischen Systems vorantrieben. Niederlagen können Katalysatoren sein, aber auch diese Einsicht wird vom Autor nicht zu einer allgemeinen Regel erhoben. Nicht minder wichtig ist, dass die Gefühle der Sieger häufig nicht einheitlich sind. So war das Ende des Ersten Weltkrieges auch auf der Sieger-Seite eher fragil, besonders angesichts der enormen Opfer, die der Krieg gefordert hatte. Jedes Kriegsende sei aber auch eine Zeit der Fabrikation von Mythen, wie wir bis in die Gegenwart beobachten können.
Leonhards Fokussierung auf die wichtigsten Mechanismen der Interaktion zwischen Siegern und Besiegten macht die Stärke des Bandes aus. Und wie jede Fokussierung bedeutet sie zugleich eine Auslassung. Insbesondere mit Blick auf die inzwischen stark internationalisierten innerstaatlichen Kriege, wie wir sie etwa im Jemen, in Somalia, in Afghanistan oder auch in den Sahelstaaten beobachten, werden die Leerstellen der vorgelegten Beobachtungen deutlich. Das relativ isolierte europäische Kriegsgeschehen nach 1800, das erst mit dem Kriegseintritt der USA im Ersten Weltkrieg eine globale Dimension hinzugewann, kann deshalb nur eingeschränkt als Folie für das gegenwärtige globale Kriegsgeschehen fungieren, in dem eine viel größere Zahl von Akteuren erheblichen Einfluss auf die Chancen von Kriegsbeendigung ausübt. Das ändert nichts daran, dass Leonhards Buch wirklich Grundlegendes zu bieten hat, auch wenn viele seiner Einsichten, wie erwähnt, in den Werken anderer bereits vorlagen. Auf den letzten Seiten schließt der Autor mit einer wichtigen Selbstverortung: Dass es nämlich nicht die Aufgabe einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung sei, das Spiel von Sieger oder Besiegten zu spielen, sondern die rationale Analyse dessen voranzutreiben, was im Krieg und im Frieden passiert. Dazu ist Jörn Leonhard ein leicht fasslicher Beitrag gelungen, dem eine breite Leserschaft zu wünschen ist.
Fußnoten
- Vgl. hierzu auch die einschlägigen Passagen in Michael Howard, War in European History, Oxford 1981, und Siniša Malešević. The Sociology of War and Peace, Cambridge 2010.
- Siehe hierzu Peter Waldmann, Gesellschaften im Bürgerkrieg: Zur Eigendynamik entfesselter Gewalt, Zeitschrift für Politik, 42 (1995), 4, S. 343–368.
- Ähnlich hierzu Wolfgang Schivelbusch, Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden, Frankreich 1871, Deutschland 1918, Berlin 2001.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Geschichte Gewalt Globalisierung / Weltgesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Internationale Politik Kolonialismus / Postkolonialismus Macht Militär Politik Staat / Nation
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