Gesa Lindemann, Wibke Liebhart | Interview |

"Die Gedanken kommen zu mir und wollen aufgeschrieben werden"

Gesa Lindemann im Gespräch mit Wibke Liebhart

Verstehen Sie sich primär als Autorin oder primär als Hochschullehrerin und Wissenschaftlerin?

Für mich gibt es da keinen Unterschied. Das Autorin-Sein gehört zur Wissenschaft, denn es ist Teil des wissenschaftlichen Arbeitens, aufzuschreiben, was man herausgefunden hat. Ohne Schreiben gibt es keine Wissenschaft. In der Regel sind meine Bücher eher an ein wissenschaftliches Publikum gerichtet, wobei ich hier nicht differenzieren würde zwischen Erstsemestern und Kollegen, da die potenziellen Verständnisschwierigkeiten bei beiden Gruppen ähnlich sind. Gelegentlich versuche ich auch, mich einem breiteren Publikum verständlich zu machen, zuletzt mit dem Buch, das ich über die Coronakrise geschrieben habe – Die Ordnung der Berührung.

Sprechen beziehungsweise schreiben Sie trotzdem als Wissenschaftlerin zu dieser breiten Öffentlichkeit?

Ja, im Fall der Ordnung der Berührung spreche ich als Wissenschaftlerin, die versucht, mit Bezug auf die Coronakrise wissenschaftliche Ergebnisse zu präsentieren.

Wie viel Raum nimmt das Schreiben in Ihrem (Berufs-)Alltag ein?

Nun, gerade bin ich in einem Forschungsfreisemester, da kann ich mir dafür natürlich sehr viel Zeit nehmen. In einer regulären Woche im Semester ist es maximal ein Tag, vielleicht eineinhalb. Dazu kommt noch das Wochenende, was allerdings häufig mit dem Privatleben kollidiert, das ebenfalls Ansprüche stellt. Der Freitag ist mein Schreibtag, an dem ich nach Möglichkeit nur schreibe. Allerdings sind in vielen Forschungsverbünden freitags Sitzungen, sodass er als Schreibgelegenheit en bloc oft wegfällt. Übers Jahr gerechnet wäre es also übertrieben, von einem Schreibtag pro Woche zu sprechen.

Ist es wichtig oder gar notwendig, dass Sie einen Tag am Stück zum Schreiben zur Verfügung haben?

Wenn das Schreiben unterbrochen ist, fällt es mir schwer, den Gesamtbogen eines Textes im Kopf zu behalten. Den brauche ich, um daran den Aufbau der Arbeit zu orientieren und um zu wissen, wo ich gerade stehe mit dem, was sich schreibe. Der Gesamtbogen ist bei einem Aufsatz einsichtigerweise viel kürzer und überschaubarer als bei einem Buch. Aber selbst dafür scheint mir die Möglichkeit zu längeren Schreibphasen notwendig zu sein. Wenn ich jede Woche einen Tag zum Schreiben habe, bekomme ich pro Semester einen Aufsatz fertig.

Woran merken Sie an einem solchen Schreibtag, dass Sie Ihr Maximum an Textproduktion erreicht haben?

Daran, dass sich ein geistiger Erschöpfungszustand einstellt, vergleichbar mit körperlicher Erschöpfung, etwa wenn Sie merken, dass Sie keinen Fuß mehr vor den anderen setzen können. Dann sollte man, sollte ich besser aufhören. Es kann auch vorkommen, dass ich denke: „Wenn ich jetzt noch weitermache, die Müdigkeit und die Konzentrationsschwierigkeiten überwinde, kann noch etwas Verwertbares herauskommen.“ Über die eigene Erschöpfungsgrenze hinauszugehen, ist allerdings nur sinnvoll, wenn ich am nächsten Tag aufgrund anderer Faktoren sowieso nicht mehr weiterschreiben kann. Denn es bedeutet, dass der darauffolgende Tag, was das Schreiben angeht, geliefert ist. Wenn ich tatsächlich einmal mehrere Tage hintereinander schreiben kann – so wie jetzt gerade –, muss ich mit meinen Schreibkräften haushalten. In solchen Phasen ist es wichtig, aufzuhören, bevor ich vollkommen ausgelaugt bin, weil das Haushalten mit den Kräften noch einen beziehungsweise mehrere produktive Tage verspricht.

In der Regel braucht man etwas Zeit, um sich in ein Thema einzuarbeiten. Wann fangen Sie mit dem Schreiben an?

Die Frage kann ich mittlerweile nicht mehr beantworten. Denn die Sachen, an denen ich arbeite, verfolge ich schon seit vielen Jahren. Dass dem so ist, habe ich gemerkt, als ich die Weltzugänge schrieb. Mir wurde klar, dass ich an dem, was ich dort schrieb, seit fast zwanzig Jahren gearbeitet hatte. Das Gleiche gilt für den ersten Band der Theorie moderner Gesellschaft – an den dort behandelten Themen saß ich bereits seit zehn oder sogar fünfzehn Jahren. Der zweite Teil, an dem ich gerade arbeite, beschäftigt sich mit Sachtechnik, Raum und Zeit – Themen, die mich auch schon seit zwanzig Jahren begleiten. Die Fragen der allgemeintheoretischen Arbeiten haben mich schon zu Zeiten umgetrieben, während derer ich noch sehr viel empirischer geforscht habe. Das heißt, ich greife oft auf Gedanken zurück, die ich schon vor Jahrzehnten formuliert habe, und die ich jetzt wieder aus der Schublade hole, um sie in den aktuellen Schreibprozess einfließen zu lassen – sofern sie damals nicht schon verarbeitet wurden. Ich fange also nicht mit einem Thema neu an und ab einem bestimmten Punkt schreibe ich darüber.

Gibt es äußere Bedingungen oder persönliche Rituale, Techniken, die Sie brauchen, um im Schreiben zu bleiben?

Ich muss am Schreibtisch sitzen. Das ist ganz wichtig. Ich will mittags ein Nickerchen halten können und ich möchte morgens nicht gleich aufstehen müssen. Nach dem Aufwachen brauche ich eine Phase des Übergangs von Schlafen zu Wachen, in der mir die Gedanken – ganz unkoordiniert und wenig beeinflusst – durch den Kopf gehen können. Dabei ergeben sich oft ungeahnte Lösungen für Probleme.

Kommen Ihnen in diesen morgendlichen Übergangsphasen auch Ideen für Texte? Wie gelangen Sie zu den Themen, zu denen Sie etwas schreiben wollen?

Ich habe umgekehrt eher den Eindruck, dass die Themen zu mir kommen. Vielleicht lässt sich dies am Beispiel der Theorie der modernen Gesellschaft verdeutlichen, die von Anfang an auf drei Bände angelegt war: Die Notwendigkeit, etwas auszuarbeiten, ergibt sich aus der Logik des Gesamtprojekts. Dabei habe ich nicht das Gefühl, den Themenfindungsprozess steuern zu können. Vielmehr weist mich meine Intuition in eine bestimmte Richtung – so entwickelt sich Stück für Stück das gesamte Projekt. Mitunter werden dabei auch Korrekturen vorheriger Arbeiten notwendig. Die Ausarbeitung der Theorie der modernen Gesellschaft hat sich beispielsweise auf die Sozialtheorie (formuliert in Weltzugänge) ausgewirkt. Mir wurde klar, was dort präziser auszuformulieren ist. Die Überarbeitungen sind in die englische Übersetzung der Weltzugänge eingeflossen, sodass die englische Fassung nun nicht mit der deutschen identisch ist. In sie sind ebenjene Weiterentwicklungen eingegangen, die ich in der Zwischenzeit ausgearbeitet hatte beziehungsweise deren Schlüssigkeit mir klar geworden war. So gesehen ist die englische Version keine schlichte Übersetzung, sondern eine neue aktualisierte und übersetzte Auflage. Ich habe nicht viele neue Ideen, und es braucht seine Zeit, bis ich sie klar formulieren kann. Auch dann gelingt mir die Explikation manchmal nicht im ersten Anlauf, weshalb mitunter nachträgliche Korrekturen und Überarbeitungen notwendig sind.

Welche Rolle spielen Vorlesungen für die Zuspitzung von Themen und Fragestellungen?

Um ehrlich zu sein: keine. Ich halte Vorlesungen für die didaktisch unsäglichste Form akademischer Lehre und versuche, sie nach Möglichkeit zu vermeiden. Wenn ich Vorlesungen anbiete, ist es eher andersherum: Ich arbeite die Themen eines Buches in eine Vorlesung ein, anstatt zum Thema einer Vorlesung ein Buch zu schreiben.

Gibt es denn Themen, die sich nur in Büchern, nicht aber in Aufsätzen oder Vorlesungen abhandeln lassen?

Ja, sicher. Ich wüsste nicht, wie man eine Gesellschafstheorie in einem Aufsatz verfassen sollte. Mir ist auch vollkommen unklar, wie man eine konsistente Sozialtheorie im Rahmen eines Aufsatzes fabrizieren könnte. Die dem Format geschuldeten Limitierungen führen immer öfter zu einer denkerischen Kurzatmigkeit, unter der die Soziologie massiv leidet, weil kaum jemand in der Lage ist, die eigenen Gedanken in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Letzteres lernt man nur durch die Arbeit an und mit Büchern. Nach meinem Empfinden hat die Kurzatmigkeit der Soziologie in den letzten Jahren durchaus zugenommen. Mit dieser Einschätzung möchte ich allerdings etwas zurückhaltend sein, denn alle alten Leuten meinen, dass es früher besser war. Deswegen muss man sich vor derlei Aussagen in Acht nehmen.

Die denkerische Kurzatmigkeit wird schon durch die Organisation des Studiums gefördert, wenn nicht gar bedingt. Die Bologna-Reform hat dazu geführt, dass das Format des Lektürekurses weitgehend ausgestorben ist und dass nicht zuletzt dadurch die Studierenden viel weniger Bücher lesen. Wobei eben die Jugend wenig bis nichts dafür kann, dass nichts mehr von ihr gefordert wird. Die Studierenden brauchen die Möglichkeit, sich an etwas abzuarbeiten. Zu lernen, ein Argument auf Stichhaltigkeit und einen Text auf Wissenschaftlichkeit hin zu prüfen, gehört zur wissenschaftlichen Ausbildung. Mit der Frage nach den theoretischen Prämissen einer Argumentation sind aber oftmals schon die Dozenten überfordert, entsprechend können sie es auch nicht an die Studierenden weitergeben. Letztlich werden die Studierenden kaum noch mit komplexen Sachverhalten, wie sie sich häufig nur in Büchern finden, konfrontiert.

Versuchen Sie, Ihre Studierenden und Promovierenden dazu anzuhalten, sich nicht nur als Konsument*innen, sondern auch als Produzent*innen von wissenschaftlichen Texten, also als Autor*innen, zu begreifen?

Am Ende müssen alle schreiben. Die Studierenden müssen Autorin oder Autor einer Bachelor- oder einer Masterarbeit werden. Und wenn sie in der Wissenschaft bleiben wollen, müssen sie eine Dissertation verfassen. Insofern kommen sie gar nicht darum herum, zu schreiben und das Schreiben zu lernen. In meiner Arbeitsgruppe gibt es ein Kolloquium, in dem alle ihre Arbeiten vorstellen und in dem wir uns gegenseitig kritisieren – auch darin, wie etwas ausgedrückt, also geschrieben ist.

Darüber hinaus versuche ich, den Studierenden zu vermitteln, dass die Auseinandersetzung mit Texten nicht damit endet, den Text einmal gelesen zu haben. Man muss sich überlegen, was in den einzelnen Absätzen steht und welche Absätze wie thematisch zusammengehören. Diese Gedanken zu einem Text gilt es in ganzen deutschen Sätzen zu formulieren, nicht in Stichworten. Damit ist der erste Schritt zum Schreiben getan. Ich gebe also Unterstützung darin, wie man an Texte herangeht und nach meinem Verständnis führt der richtige Umgang mit Texten sofort zum Schreiben.

Man kommt also in einem Studium, zumindest der Soziologie, nicht umhin, zu schreiben. Kann man das Schreiben Ihrer Meinung nach lernen, im Sinne von: Kann man es verbessern?

Sicher. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Beim Schreiben hilft nur üben. Wenn ich die Studierenden heute dazu auffordere, Fließtexte zu schreiben über Aufsätze und Bücher, die sie gelesen haben, entspricht diese Empfehlung meiner langjährigen Erfahrung. Ich habe bereits während des Studiums damit angefangen, das aufzuschreiben, was ich von meinen wissenschaftlichen Lektüren verstanden habe. Dieses Vorgehen war im Prinzip meine Schreibschule, von Beginn an. Man lernt schreiben, indem man viel liest und dazu schreibt. Allerdings darf man auch nicht zu viel lesen, denn man sollte das Gelesene noch für sich erfassen und formulieren können, sodass man zu ihm eine Distanz einnehmen kann. Wer viel liest, ohne den nötigen Abstand zu bekommen, mag zwar ausgesprochen gebildet sein, ist aber nicht mehr in der Lage, selbst etwas zu schreiben, weil er – aus nachvollziehbaren Gründen – den Eindruck gewinnen muss, sowieso nichts Neues mehr sagen beziehungsweise schreiben zu können.

Die Frage, ob es überhaupt noch viel Neues zu schreiben gibt, stellt sich womöglich generell.

Diesbezüglich bin ich der Meinung, dass die Anzahl der Publikationen pro Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin begrenzt werden sollte, meinetwegen auf fünf Bücher und dreißig Aufsätze. So hätte jeder sein Quantum, das er im Laufe seines akademischen Lebens abarbeiten könnte. Im Endeffekt passt das, was wirklich neu ist, pro Autor*in wahrscheinlich in ein Buch – in meinem Fall ist es wahrscheinlich sogar nur ein halbes. Diese Einschätzung gilt auch für Kapazitäten unseres Fachs wie Niklas Luhmann, Max Weber oder Jürgen Habermas.

Wo wir schon bei den großen Namen sind: Haben Sie Vorbilder im Schreiben?

Ja, es gab Vorbilder. Søren Kierkegaard war eines, weil er eine sehr klare, präzise Sprache entwickelt hat, ebenso Helmuth Plessner, der auch sehr klar und präzise schreibt. Und die Romanautorin Ágota Kristóf. Ihr Buch Das große Heft empfehle ich allen, die ethnografisch arbeiten, als sprachliche Vorlage, um zu lernen, in einem ganz nüchternen, wertfreien Duktus zu beschreiben, was ist. Das kann man sich in der Lektüre dieses Romans erarbeiten. Daran orientieren sich in Teilen meine eigenen ethnografischen Beschreibungen zur Intensivmedizin und zur Hirntod-Diagnostik in den Grenzen des Sozialen.

Sie sagen, es gab Vorbilder. Bedeutet das, dass diese ihren Vorbildcharakter mittlerweile eingebüßt haben?

Nein, keineswegs. Es ist vielmehr so, dass ich das, worin mir diese Personen Vorbilder waren, inzwischen in mein eigenes Schreiben integriert habe. Vorbilder schweben einem ja meist buchstäblich vor. Die eben genannten Personen stehen mir beim Schreiben aber mittlerweile eher zur Seite, ihre Stile sind mehr eine Orientierung beim Schreiben als ein Vorbild im Schreiben. Daher die Vergangenheitsform. Gegenüber meinen Studierenden und Mitarbeiter*innen benenne ich sie allerdings nach wie vor als Vorbilder und vor allem als Lektüreempfehlungen; bis auf Kierkegaard. So etwas zu lesen, kann man heute wohl von niemandem aus der Soziologie mehr erwarten.

Was ich mir von Kierkegaard, Plessner und – wenn auch in anderer Weise – Kristóf angeeignet habe, war eine metaphernarme Sprache. Hermann Schmitz, Begründer der Neuen Phänomenologie und einer meiner liebsten unbekannten Philosophen, hat Folgendes gesagt: „Man muss nicht verschwommen über das Verschwommene reden.“ Gerade diejenigen, die einen kritischen Anspruch haben, versuchen oftmals, das Verschwommene ihres Gegenstands, das nicht begrifflich klar zu fassen ist, darüber abzubilden, dass sie sich selbst unklar ausdrücken. Als wissenschaftliche Schreibpraxis finde ich eine solche Tendenz nicht sonderlich anziehend, Unklarheit oder auch Unverständlichkeit gehören für mich eindeutig zum literarischen Schreiben.

Mit Ágota Kristóf nennen Sie eine literarische Autorin als Vorbild, auch oder gerade für wissenschaftliches Beschreiben. Welche Rolle spielt die Belletristik für Sie als wissenschaftliche Autorin?

Eine sehr geringe, um nicht zu sagen: keine. Kristóf ist hier eine wirkliche Ausnahme. Bei den Autorinnen und Autoren, für die ich ein literarisches Faible habe, bin ich oftmals geradezu erschlagen davon, wie schön der Text ist. Dafür könnte ich nicht sagen, was in dem jeweiligen Text steht. Ich verstehe nichts, aber es ist wunderschön. Literarisches Schreiben ist eine andere Welt, es lässt sich nicht auf die Wissenschaft übertragen oder mit ihr vergleichen. Wenn ich es könnte, würde ich lieber Romane oder Gedichte schreiben als wissenschaftlich zu arbeiten. Aber ich kann es nicht, insofern stellt sich die Frage auch nicht. Mich begeistert die Orientierung an sprachlicher Schönheit. Wahrscheinlich lese ich deshalb auch so gerne Kierkegaard, bei ihm finde ich diese Orientierung am ehesten. Es gibt kaum einen Autor, der so witzig ist, bei dem ich so viel lachen kann. Seine Hegel-Kritik ist wahnsinnig komisch, und nicht zuletzt deshalb so überzeugend. Und auch bei ihm habe ich – wie bei meinen liebsten literarischen Texten – seitenweise nichts verstanden. Seine in den späteren Schriften entwickelte formelhafte Präzision hat, wie schon gesagt, Vorbildcharakter für mein wissenschaftliches Schreiben.

Kann man sagen, es gibt verschiedene Stile wissenschaftlichen Schreibens? Und wenn dem so ist, wie viele Stile sollte ein Wissenschaftler, eine Wissenschaftlerin beherrschen?

Nun, es gibt unterschiedliche Adressat*innen, die wiederum verschiedene Stile erfordern. Ein Antragstext beispielsweise darf weder zu präzise noch zu komplex formuliert sein. Anstatt eine stringente Argumentation zu entfalten, wie es Aufgabe eines Aufsatzes ist, muss er Assoziationsspielräume eröffnen. Zu viel Präzision ist das Todesurteil für einen Antrag. Denn allzu genau wollen es die Gutachter*innen, an die sich der Antragstext letztlich richtet, meist nicht wissen. Je ausführlicher etwas dargestellt ist, umso anstrengender wird sein Nachvollzug. Antragstexte liest man nicht selten in der Bahn, auf dem Rückweg von einer Tagung – zumindest war es vor Corona so. Das heißt, die Texte müssen so geschrieben sein, dass sie in einer solchen Umgebung erfass- und bewertbar sind.

Außerdem gibt es einen eher didaktischen Stil, mit dem ich meinen Studierenden bestimmte Inhalte vermitteln möchte. Zwar handelt es sich eher um einen Erzähl- denn einen Schreibstil, dennoch ist es eine Darstellungsform von Wissenschaft. Auch hier geht darum, ein Argument zu plausibilisieren – nur eben mündlich im Rahmen eines Seminars und nicht schriftlich in einem Aufsatz oder gar einem Buch. Dabei kann ein Witz, der in einem geschriebenen Text geradezu deplatziert wirken würde, an der richtigen Stelle im Seminar den Studierenden eine wichtige Einsicht vermitteln. Ebenso tragen bestimmte Beispiele in einer Vorlesung zum Verständnis bei, auch wenn sie in einem Text keinen Bestand haben würden. In den Veranstaltungen kommt es darauf an, sich auf die Studierenden einzulassen, darauf, welche Fragen sie haben. Dafür muss ich in der Gesprächssituation wach sein, die Fassungslosigkeit der Studierenden – die sich einstellt, wenn sie zum ersten Mal mit bestimmten Inhalten konfrontiert sind – aufnehmen und dazu passende Beispiele und Erklärungen entwickeln. Gelegentlich bespreche ich mit den Studierenden etwas und verstehe es dabei selbst zum ersten Mal; dies sind eigentlich die besten Situationen.

Ein Aufsatz ist wiederum in einem anderen Stil geschrieben als ein Buch, denn der Aufsatz richtet sich zunächst nicht an die Leserschaft, sondern an diejenigen, die den Aufsatz im Rahmen eines Peer-Review-Verfahrens begutachten. Dieser Zwischenschritt führt mitunter zu argumentativen Verrenkungen, die man sich im Buch ersparen kann – da hat man größere Freiheiten, zumindest im deutschsprachigen Bereich. Und natürlich bedarf ein Buch, das sich an eine breitere Öffentlichkeit richtet, eines anderen Stils als eine Publikation, die für eine Fachöffentlichkeit geschrieben wurde.

Das schließt an das an, worüber wir zu Beginn gesprochen haben: ihren Essayband zur Coronakrise. Woher kam der Impuls, ein quasi tagesaktuelles Buch zu schreiben, das sich an eine breitere Öffentlichkeit richtet?

Zum einen war ich der Meinung, dass die Soziologie etwas zu diesem Thema sagen sollte. Und zum anderen fand ich es vollkommen unsinnig, davon auszugehen, dass sich jetzt etwas grundlegend verändert. Die Strukturen unserer Gesellschaft sind ausgesprochen stabil, was ich einmal mehr bewiesen fand: Beispielsweise ist die Differenzierung in Wirtschaft und Politik erhalten geblieben. Ich plädiere für etwas Gelassenheit, im Gegensatz zu der ganzen Hektik, die gerade am Anfang der Coronakrise die Debatte kennzeichnete.

Zudem war mir ein anderer Punkt wichtig: Die Soziologie leugnet hartnäckig, wie wichtig die Existenz einer überlegenen Staatsgewalt ist. Die Bürger sind dieser Zentralgewalt einerseits unterworfen und sollen ihr zugleich als kritische Subjekte gegenüberstehen – ein Spannungsverhältnis, das für die moderne Gesellschaft kennzeichnend ist. Ich fand es attraktiv, diese Zusammenhänge einem breiteren Publikum aufzuzeigen oder zumindest zugänglich zu machen. Um mein Ziel zu erreichen, musste ich auch meinen Schreibstil anpassen, mich leicht verständlich ausdrücken, ohne dabei zu viel Komplexität zu verlieren.

Fiel Ihnen diese Art des Schreibens leicht?

Nein, keineswegs. So zu schreiben, war eine ganz neue Anstrengung für mich. Als erstes musste ich mir verkneifen, nach jeder Aussage einen Literaturhinweis zu geben, denn das ist störend für den Lesefluss. Außerdem brauchte es kürzere Sätze, der Text sollte flüssig sein. Das heißt, die Leserin sollte leicht von einem auf den nächsten Satz kommen, ohne dabei von allzu schwierigen Rückbezügen aufgehalten zu werden. Und die Wortwahl ist wichtig: Soll es allgemein verständlich sein, muss die akademisch übliche Menge an Fremdwörtern drastisch reduziert werden. Nun bin ich auf die Resonanz gespannt; den ersten Rückmeldungen zufolge ist das Buch durchaus zugänglich.

Welchen Stellenwert hat die Zusammenarbeit mit Lektorinnen und Redakteuren, gerade in einem solch anstrengenden und ungewohnten Schreibprozess?

Im Fall des Essaybandes habe ich den Verlag explizit darum gebeten, das Manuskript dahingehend zu prüfen, ob es tatsächlich allgemein verständlich ist. Da waren mir die Rückmeldungen des Lektors besonders wichtig. Das ist allerdings eher die Ausnahme, meistens beziehe ich das Lektorat nicht so bewusst ein. Dafür haben die Texte, wenn ich sie an den Verlag gebe, schon mehrere Kritikschleifen von Kolleg*innen und Mitarbeitenden durchlaufen. Nach der durchaus positiven Erfahrung mit dem Corona-Buch kann ich mir allerdings vorstellen, die frühzeitige Zusammenarbeit mit dem Lektorat in Zukunft auch bei anderen Projekten zu forcieren.

Apropos Zusammenarbeit: Schreiben Sie auch Texte gemeinsam mit anderen Autor*innen?

Ich habe viele Jahre überwiegend oder eigentlich ausschließlich allein geschrieben. Mittlerweile schreibe ich auch Aufsätze gemeinsam mit meinen Mitarbeitenden und mache dabei ganz neue Erfahrungen. Durch die anderen Personen kommen empirische Bezüge zu bestehenden Konzepten hinzu, was ich als sehr produktiv empfinde. Meist macht jemand einen schriftlichen Aufschlag, den die anderen aufnehmen und weiterverarbeiten. Oder es werden von Anfang an Schwerpunkte verteilt. Dabei gibt es zwei Grundregeln: Erstens muss alles auf die geplante Struktur des Aufsatzes bezogen sein und zweitens kann alles jederzeit weggestrichen werden. Das heißt, es ist durchaus möglich, dass ein Mitarbeiter etwas schreibt und nichts davon findet Eingang in die endgültige Fassung des Textes. Die Regeln gelten für alle, auch meine Textpassagen können also rausfallen.

Das bringt mich zur letzten Frage, Frau Lindemann. Wer oder was lizensiert Sie zum Schreiben? Was sorgt dafür, dass Sie sich dazu ermächtigt fühlen, zu schreiben?

Das finde ich schwer zu beantworten. Lassen Sie es mich etwas kryptisch ausdrücken: Nicht ich autorisiere mich zum Schreiben, sondern die Gedanken kommen zu mir und wollen aufgeschrieben werden. Damit verbunden ist auch der Anspruch, dass das, was ich aufschreibe, wahr ist und dass ich es möglichst gut zum Ausdruck bringe. Eigentlich wäre ich froh, wenn alles geschrieben wäre, denn ich finde das Schreiben elend anstrengend. Es gibt andere Dinge, die ich viel lieber tue, als alleine am Schreibtisch zu sitzen. Ich würde nie sagen, dass mir diese Arbeit Spaß macht. Ich folge damit vielmehr einer Verpflichtung, die ich im Sinne der Sache verspüre: Das muss jetzt gesagt respektive geschrieben werden.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Universität

Gesa Lindemann

Gesa Lindemann, Studium der Soziologie und Rechtswissenschaft in Göttingen und Berlin, ist seit 2007 Professorin für Soziologie an der Carl von Ossietzky-Universität, Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozial- und Gesellschaftstheorie, Soziologie der Menschenrechte, Techniksoziologie, Soziologie der Gewalt und Medizinsoziologie. (© Hans Ulrich Oehlke)

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Wibke Liebhart

Wibke Liebhart ist Soziologin. Sie arbeitet für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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