Michael Makropoulos | Essay |

Die Legitimität der Kontingenzkultur

Eine Antwort auf Axel T. Paul: Kontingenzen der Geschichte zwischen ‚Urmensch und Spätkultur‘

1. In seinen Anmerkungen zu meiner Theorie der Moderne erklärt Axel T. Paul aus „universalgeschichtlicher Perspektive“, dass meine Explikation des Zusammenhangs von Modernität und Kontingenz „mit Blick ‚auf die ganze Geschichte‘“ zu „unspezifisch beziehungsweise noch nicht radikal genug“ sei. „Zwischen ‚Urmensch und Spätkultur‘“, zwischen dem Spätpaläolithikum und der Moderne des 20. Jahrhunderts, so seine These, gebe es schließlich nicht nur eine – die moderne –, sondern insgesamt „vier bereichsspezifische Kontingentsetzungen“. Auch die „Kontingenz der Moderne“ sei deshalb „nur eine spezifische“ – genauer: eine „bereichsspezifische – Form der Kontingenz“, der „im historischen Rückblick auf die – auch wenn es vermessen klingt – ganze menschliche Geschichte zwischen ‚Urmensch und Spätkultur‘, also zwischen Menschwerdung und Gegenwart, drei und möglicherweise auch nicht mehr als drei weitere, wiederum bereichsspezifische Formen von Kontingenz beigestellt werden können, die zu unterscheiden dazu führt, die moderne Kontingenz, wenn schon nicht anders zu bestimmen, so doch mit anderem Akzent zu versehen“ als dies bei mir der Fall sei. Dieser andere Akzent ist zunächst ihre Relativierung. Paul reduziert dafür das – von mir bei Hans Blumenberg entlehnte – Konzept der „Kontingenzkultur“, das die Modalstruktur eines bestimmten Weltverhältnisses betrifft, systematisch auf einzelne, scheinbar empirische Handlungsbereiche, indem er die theoretische Dimension des Sachverhalts, nämlich die handlungsleitenden Kriterien, ausblendet. Dass Kontingenz zuallererst ein Reflexionsprodukt ist, verliert damit seine analytische Bedeutung. Dementsprechend identifiziert Paul „vier Formen, Etappen oder Stufen weniger der Theoretisierung als vielmehr der Operationalisierung von Kontingenz“, die im Kontext einer „typologisch rekonstruierbaren“, regelhaften „Sozio-Logik“ der Geschichte und damit in „einer Art Entwicklungslogik“ stünden.[1]

Bereits im Spätneolithikum – so Paul – sei mit der „Multiperspektivität der einzelnen“ in der Gruppe die „Kontingenz der Wahrnehmung, aber auch des Handelns“ das entscheidende Moment sozialer Organisation und eines „wenigstens impliziten Wissens“ um die eigene technische wie ästhetische Kreativität. In der griechischen Antike sei dann „mit der Entdeckung der Gestaltbarkeit der politischen Ordnung“ ein weiterer Kontingenzbereich erschlossen worden. „Die griechische Demokratie war kontingent“, weil es für „das neuartige griechische Kontingenzbewusstsein“ keine Frage war, „dass Herrschaft überhaupt Menschenwerk sei“. Allerdings sei es nur „die politische oder soziale Ordnung, nicht aber die Natur, welche zu gestalten den Menschen geboten“ gewesen sei. „Nur der nomos, nicht die physis“ war in der griechischen Antike „in menschliches Belieben gestellt“. Denn die physis stand innerhalb einer Ordnung, die dem „Ideal einer möglichsten perfekten Ordnung der Dinge“ entsprach. „Die Natur selbst“, so führt Paul seine Stufenfolge der Kontingenzbereiche fort, „wird erst in der Neuzeit zum Gegenstand, der nicht bloß erschlossen, sondern auch manipuliert werden kann.“ Durch das „funktionale Dispositiv“ und die „mathematische Modellierung von natürlichen Prozessen“ mit ihren Abstraktionen und dem „bewussten Absehen von Qualitäten“ sei die „neuzeitliche Kontingent-Setzung der Natur“ vollzogen worden. Aber erst „deren technische Indienstnahme“ habe die „Kontingenz der Moderne“ möglich gemacht. „Seit 1870 und damit mit Anbruch“ des „klassische Moderne genannten Zeitraums“, so Paul, erleben wir „eine in universalgeschichtlicher Perspektive betrachtet vierte Kontingent-Setzung, und zwar die der menschlichen Natur“. Die „Ausweitung der Kontingenzzone“ ins Humane kennzeichne „ein neues Zeitalter der Kontingenz“. Es handle sich um eine neue „Form der Kontingenz“, die weit über „die totalitären Entwürfe eines neuen Menschen“ in der Zwischenkriegszeit und das „Ausgreifen des spätmodernen zeitgenössischen Konstruktivismus auf den Menschen selbst“ hinausginge – das ich in meinen Arbeiten durchaus „thematisiert“ hätte. Einen solchen Befund zu erheben, sei zwar „nicht falsch“, aber „es verkennt, dass die Natur des Menschen kontingent zu setzen praktisch und kategorial über die bisherigen Landnahmen der Kontingenzkultur hinausgeht“.

2. Kontingenz des sozialen Handelns, der politischen Ordnung, der äußeren Natur und schließlich der „menschlichen Natur“ – das sind die vier „Stufen“ der kumulativen „Ausweitung“ einer „Kontingenzkultur“, die Paul in seiner Typologie identifiziert. Die „Kontingent-Setzung“ der „menschlichen Natur“ ist in der Logik dieser Typologie aber nicht nur die letzte, sondern auch die unüberbietbare „Form der Kontingenz“. Gleichzeitig kommt ihr eine besondere Qualität zu, die die „Operationalisierung“ überschreitet, weil die „Kontingent-Setzung“ der „menschlichen Natur“ nicht nur „praktisch“ über „die bisherigen Landnahmen der Kontingenzkultur hinausgeht“, sondern auch „kategorial“. Damit kommt allerdings genau das Moment wieder ins Spiel, das für diese historische Typologie „bereichsspezifischer Formen von Kontingenz“ eigentlich ausgeblendet werden sollte, nämlich die „Theoretisierung“. Man mag darin eine rhetorische Unsauberkeit sehen, wie sie nicht selten in abschließenden Aussagen zu finden ist, die bewusst mit einem schwachen appellativen Überschuss formuliert werden. Wenn man aber unterstellt, dass der Autor hier nicht in rhetorisch überzogenen und deshalb kalkuliert ungenauen, sondern mit Bezug auf seine Absichten in sehr genauen Worten formuliert hat, wird klar, dass diese letzte „Kontingent-Setzung“ nicht nur eine weitere „bereichsspezifische Form der Kontingenz“ ist, sondern eine ausgesprochen problematische – und zwar nicht nur „praktisch“, sondern auch „kategorial“. Diese Schlussfolgerung jedenfalls legt die bewertende Wortwahl nahe, die Pauls keineswegs neutral gemeinte „Ausweitung der Kontingenzzone“ zur letzten „Landnahme der Kontingenzkultur“ radikalisiert: Der Begriff der „Landnahme“ bezeichnet schließlich die selbstmächtige und gemeinhin widerrechtliche Aneignung von Grund und Boden ohne Rücksicht auf bestehende Besitzverhältnisse. Und seine Verwendung in diesem Kontext macht die letzte „Kontingent-Setzung“ zu einem gleichsam illegalen, wenn nicht schlechterdings illegitimen Akt. Dass seine plurale Verwendung dann auch noch retroaktiv die gesamte „Kontingenzkultur“ und nicht nur eine einzelne „Form der Kontingenz“ erfasst, verleiht dieser Kultur von Anfang an etwas Illegitimes und geradezu Usurpatorisches.

Vielleicht ist es das prinzipielle Problem einer anthropologisch fundierten „universalgeschichtlichen Perspektive“, die erst in der Moderne – und gegen das konstruktivistische Selbstbewusstsein der Moderne – formuliert werden kann, dass ausgerechnet die „Kontingent-Setzung“ der „menschlichen Natur“ den Verdacht schürt, die „Kontingenzkultur“ könnte als solche illegitim sein. Freilich hören die Fragen bei diesem Verdacht durchaus nicht auf. Ihre Delegitimierung zielt nämlich keineswegs nur auf die reale, sondern auch auf die transzendentale, eben die „kategoriale“ Dimension des Sachverhalts, und das nicht nur mit Blick auf ihre moderne „Form“, sondern auch auf all ihre „bisherigen“ Formen. Damit steht man aber mitten in einer Debatte, in der die Frage nach der Legitimität der „Kontingenzkultur“ sofort zur Frage nach der ‚Legitimität der Neuzeit‘ wird. Denn mit dem Begriff der „Kontingenzkultur“ hat Blumenberg die „nach-christliche Ära“ gemeint und die europäische Neuzeit gegen das theologische Weltbild des Mittelalters und das kosmologische Weltbild der Antike als eine Epoche ganz eigener Konstitution bestimmt – „als primäre Kristallisation einer zuvor unbekannten Realität“, weil die Neuzeit, anders als die vorangehenden Zeitalter, nicht nur partiell, sondern vollständig „von dem Grundgedanken“ geprägt sei, „daß nicht sein muß, was ist“.[2] Damit ist nicht nur die konstitutive Reflexivität des neuzeitlichen Kontingenzbewusstseins unmissverständlich angesprochen; damit ist auch klar, dass es sich hier nicht um mehr oder weniger weit reichende regionale „Kontingenzen“ handelt – ein Plural, den ich in allen meinen Arbeiten genauso bewusst vermieden habe wie die analytisch unfruchtbare, aber unmissverständlich wertende Formulierung der „Kontingenzbewältigung“ –, sondern um ein umfassendes Wirklichkeitskonzept.[3] „Kontingenz“, so Blumenberg in einem grundlegenden Text – auf den auch Paul, wiewohl nur kursorisch, Bezug nimmt –, „bedeutet die Beurteilung der Wirklichkeit vom Standpunkt der Notwendigkeit und der Möglichkeit her. Das Bewußtsein von der Kontingenz der Wirklichkeit ist nun aber die Fundierung einer technischen Einstel­lung gegenüber dem Vorgege­benen“, die über jede instrumentelle Beschränkung des Könnens hinausgeht, weshalb das neuzeitliche Kontingenzbewusstsein als „Stimulans der Bewußtwerdung der demiurgischen Potenz des Menschen“ fungiert. Wenn „die Sphäre der natürlichen Fakten keine höhere Rechtfertigung und Sanktion mehr ausstrahlt, dann“, so Blumenberg weiter, „wird die Faktizität der Welt zum bohrenden Antrieb, nicht nur das Wirkliche vom Möglichen her zu beurteilen und zu kritisieren, sondern auch durch Realisie­rung des Möglichen, durch Ausschöpfung des Spielraums der Er­findung und Konstruktion das nur Faktische aufzufüllen zu einer in sich konsistenten, aus Notwendigkeit zu rechtfertigenden Kulturwelt“.

Bemerkenswert an Blumenbergs Rekonstruktion des neuzeitlichen Kontingenzbewusstseins ist also nicht nur sein Verweis auf den Totalitätsanspruch dieser Konstruktion, sondern der Umstand, dass ihre Rechtfertigungsbedürftigkeit eine lange Theorietradition fortsetzt, in der die „Technisierung“ seit der griechischen Antike sowohl problematisiert als auch delegitimiert wird, indem man die Finalisierungsbedürftigkeit allen technischen Könnens hervorhebt: „Technisierung“ wird zum Problem, wenn sie nicht instrumentell an bestimmte externe Zwecke gebunden ist, wenn sie ihrer eigenen Logik folgt, die eine Überbietungslogik ist, und wenn sie zur prinzipiell intransitiven, auf kein bestimmtes Objekt ausgerichteten, eigengesetzlichen Entfaltung menschlicher Fähigkeiten wird.[4] Die Legitimität der „Technisierung“ hängt, anders gesagt, an ihrer instrumentellen Finalität, ihrer transitiven Objektbindung und ihrer außertechnischen Kontrolle.

3. Worum es vor diesem Hintergrund in den „Landnahmen der Kontingenzkultur“ geht, ist deshalb dreierlei: Es ist zum einen die illegitime oder zumindest höchst problematische, auf jeden Fall aber intendierte „Kontingent-Setzung“ der „menschlichen Natur“ im Nachgang zur neuzeitlichen, wissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung mit ihren trans-instrumentellen und trans-operativen Momenten. Es ist zum zweiten die intransitive Dimension der Technisierung und ihre Tendenz zur zieloffenen Überbietbarkeit aller erreichten Objektivationen. Um es mit Helmuth Plessner ganz deutlich zu sagen: „Die Technik und die neuen technischen Möglichkeiten sind ihrem eigentlichen Sinn und Geist nach nicht darauf eingestellt, geschlossene Produkte zu liefern, sondern sie sind ihrem ganzen Sinn und Geist nach darauf abgestellt, etwas Offenes, neue Möglichkeiten, die überbietbar sind, zu schaffen.“[5] Damit ist etwas Entscheidendes festgehalten: Technik schafft nicht bloß neue instrumentelle Möglichkeiten – Technik schafft vor allem Möglichkeiten, die stets überbietungsoffen bleiben und deshalb eine positive Unendlichkeit des Konstruierens etablieren. Technik, so wäre Plessner zu paraphrasieren, schafft Möglichkeiten, denen die Veränderbarkeit gleichsam strukturell eingeschrieben ist. Damit wird zugleich verständlich, warum es – zum dritten – überhaupt sinnvoll sein kann, von „Landnahmen der Kontingenzkultur“ zu sprechen: In der Semantik des Illegalen oder gar Illegitimen drückt sich das Misstrauen gegenüber einer historisch-systematischen Disposition aus, für die Kontingenz gerade kein isolierbarer und kontrollierbarer Modus eines spezifischen und klar abgrenzbaren praktisch-operativen Bereichs ist, sondern die realitätsgenerierende Modalstruktur eines selbstmächtig erschlossenen Weltverhältnisses, eben einer „Kultur“ im strikten Sinne des Begriffs.

Das Problem, das die Kritik dieser Kultur, die man die neuzeitliche nennen kann, in allen ihren Facetten hat, besteht darin, dass ihrer „Rationalität“, wie Blumenberg erklärt hat, in hohem Maße „intransitive Erhaltungsaussagen“ zugrunde liegen. Denn das epochenkonstituierende und bis dahin unbekannte Prinzip der „Selbsterhaltung“ sei auf keinen bestimmten Zweck ausgerichtet, sondern etabliert praktisch wie theoretisch zieloffene Prozesse und abstrakte Handlungsdispositionen, wie sie sich am klarsten wohl in der experimentellen Einstellung der neuzeitlichen Wissenschaft niedergeschlagen haben.[6] Oder in den Selbstentfaltungs- und Selbstverwirklichungsdispositiven moderner Subjektivität. Man kann dies mit Arnold Gehlen die „Drehung zur eigengenügsamen Entfaltung des Machbaren“ nennen. Diese „Drehung“, so Gehlen, zeige sich in der „Neigung des Verhaltens, sich von Vollendungszuständen und von der Idee des Angekommenseins zu emanzipieren“. Und sie bringe die „konstruktiven und voraussetzungslosen, die antinaturalistischen Funktionen des Geistes zum Siege“.[7] Das ist zwar ein Topos der konservativen Kulturkritik; aber auch in einem anthropologischen Kontext, der die menschliche Kreativität hervorhebt, gewinnt diese Problematisierung der „konstruktiven“, „voraussetzungslosen“ und „antinaturalistischen Funktionen des Geistes“ geradezu diskursleitende Plausibilität, wenn die Kreativität gleichzeitig von vorneherein instrumentell einhegt wird. Die Konzentration der Analyse auf die „Operationalisierungen“ der Kontingenz, die Paul propagiert, führt deshalb konsequenterweise zur systematischen Marginalisierung der reflexiven Tiefenstruktur neuzeitlicher Kontingenz und ihrer modernen Problematisierungen.

4. Dass die Kontingenzsemantik eine spezifisch neuzeitliche Semantik ist, die in der Moderne auf vielfache und zum Teil gegensätzliche Weise ausgefaltet wurde, muss nicht weiter ausgeführt werden. Die Einzelheiten des Sachverhalts habe ich – und nicht nur ich – hinreichend herausgearbeitet.[8] Für die Fragen, um die es hier geht, mag deshalb die absolute Kurzversion genügen: Der Begriff der „Kontingenz“, der mehr bedeutet als die bloße Latinisierung der antiken tyché, ist eine mehrdeutige – und deshalb ausgesprochen explikative – Modalkategorie. „Kontingenz“ bezeichnet nicht einfach Beliebigkeit oder Unbestimmtheit – wie ein anspruchsloses Verständnis des Sachverhalts nahelegen mag, das auch in den Sozialwissenschaften verbreitet ist –, sondern die zweiseitige Unbestimmtheit, in der etwas weder notwendig noch unmöglich ist. Pointiert gesagt: Kontingent ist, was auch anders möglich ist. Das begründet wiederum zwei diametral entgegengesetzte Bedeutungen des Begriffs. Weder notwendig noch unmöglich ist schließlich nicht nur das Unverfügbare, das Zufällige und das schlechterdings nicht Begründbare, sondern auch das Verfügbare, das Manipulierbare und das Gestaltbare. Das ist auch die Bedeutung, in der der Kontingenzbegriff für unseren Zusammenhang von Belang ist, wohingegen die Zufälligkeit dort von Belang ist, wo Ordnungskonzepte mit Notwendigkeitserwartungen korrespondieren, wie dies lange Zeit in den politischen, sozialen und ästhetischen Ordnungsentwürfen der Moderne der Fall war. Genauer: Es ist die Frage nach der Willkürlichkeit autonomer Konstruktionen im Gegensatz zu heteronomen Gegebenheiten, die der Verfügbarkeitskontingenz von Anfang etwas Legitimationsbedürftiges verleiht.

Das ist jedenfalls die systematische Seite des Sachverhalts. Die historische Seite ist an einen Vorgang gebunden, den man – nicht nur mit Blumenberg – als „Ordnungsschwund“ beschreiben kann. In ihm bekundet sich das Ende der transzendent garantierten Ordnung des Mittelalters und der Übergang in die Selbstbegründungskonzepte der Neuzeit, deren Geltungsanspruch bis in die Klassische Moderne hinein reicht. Allerdings ist der „Ordnungsschwund“ nicht nur ein Verlust. Vielmehr schafft er auch „die Voraussetzung für eine generelle Konzeption des menschlichen Handelns, die in den Gegebenheiten nichts mehr von der Verbindlichkeit des antiken und mittelalterlichen Kosmos wahrnimmt und sie deshalb prinzipiell für verfügbar hält.“ Deutlicher noch: Der „Ordnungsschwund“ ist „mit einem neuen Begriff der menschlichen Freiheit verbunden“.[9] Doch damit nicht genug: Das Problematische einer „Kontingenzkultur“, um das es hier geht, entsteht dann, wenn es nicht nur um bestimmte konkrete Konstruktionen geht, die von ihren Zwecken her gegenüber anderen möglichen Konstruktionen begründet und gerechtfertigt werden können, sondern um konstruktive Dispositionen, die keine interne oder externe Begrenzung haben, einfach weil sie nicht auf bestimmte Ziele ausgerichtet sind.

Das Legitimitätsproblem stellt sich also dann, wenn es um realitätsgenerierende Modalstrukturen geht, die – wie die „Technisierung“ – die Realisierung von Möglichkeiten um der unablässigen Verbesserung willen ausschöpfen und deshalb prinzipiell auf eine offene Zukunft ausgerichtet sind, die sich situativ in der Tendenz zur permanenten Überbietung jedes erreichten Zustandes manifestiert. Das ist der Sachverhalt, der nicht zuletzt den Kern aller Fortschrittskritik ausmacht – weil sie weiß, dass alle Versuche, den Fortschritt auf ein bestimmtes und idealerweise unüberbietbares Ziel hin zu finalisieren, unter der Bedingung persistierender Kontingenz vollkommen aussichtslos sind. Jede Wirklichkeit, die konstruierbar ist, steht unter den Bedingungen eines offenen Möglichkeitshorizonts eben prinzipiell im Wettbewerb mit den anderen Möglichkeiten – konkreten Möglichkeiten, die existieren und die auch hätten realisiert werden können, aber auch abstrakten Möglichkeiten, die fiktional erschlossen werden und die im strikten Sinne des Begriffs Erfindungen sind und nicht nur Verbesserungen. Das ist, nebenbei bemerkt, auch einer der Gründe, weshalb der Wettbewerb in einer „Kontingenzkultur“ niemals endet. Denn er ist gleichsam ihr soziales Organisationsprinzip.[10]

Die Moderne hat dieses Problem auf vielfache Weise gestellt. Allerdings laufen diejenigen Lösungen, die weder auf eine Reaktivierung kosmologischer oder theologischer Weltbilder spekulieren noch die Kontingenz irgendwie „bewältigen“ wollen, – funktionell gesehen – auf genau zwei Optionen hinaus. Die eine Option ist die Kontingenzbegrenzung durch gezielte Kontingenznutzung. Sie zielt auf die Konstruktion eines anderen oder sogar idealen und deshalb unüberbietbaren Zustandes. Ihre allgemeine Form ist die Utopie. Die andere Option ist die soziale Normalisierung der Kontingenz. Sie zielt nicht auf einen anderen Zustand, in dem die Kontingenz definitiv begrenzt wäre, sondern auf die produktivistische Organisierung der Überbietung. Ihre allgemeine Form ist die Optimierung.[11] Beider Voraussetzung ist jedoch ein Vorgang, der als die Fiktionalisierung des gesellschaftlichen Möglichkeitshorizonts zu identifizieren wäre. Gerade in diesem Verfahren manifestiert sich jene entscheidende Besonderheit des neuzeitlichen Kontingenzbewusstseins, die es prinzipiell von allen „bereichsspezifischen Kontingentsetzungen“ unterscheidet: Kontingent ist nach dem Ende der kosmologischen und theologischen Ordnung der Wirklichkeit nicht nur das technische, das ästhetische und das politische Handeln, sondern auch die regulative und normative Wirklichkeit, in der dieses Handeln stattfindet. Deshalb ist Modernität gerade nicht eine „bereichsspezifische“ Kultur der Kontingenz. Sie ist nicht nur eine operative Disposition, die lediglich einzelne Wirklichkeitsbereiche erfasst, sondern ein eigenqualitatives Weltverhältnis, dessen Prinzip die Entfesselung jener „säkularen geschichtlichen Produktivkräfte“ ist, von denen Walter Benjamin sprach und für die nichts mehr die Würde des Unantastbaren hat.[12]

5. Das wird zum Problem, wenn man etwas Gegebenes, Unverfügbares, in Notwendigkeit Begründetes und deshalb unverhandelbar Bindendes voraussetzt, fordert oder erwartet. Aber warum soll ausgerechnet die „menschliche Natur“ dieses Unverfügbare sein? Und was wäre gewonnen, wenn sie tatsächlich den Unantastbarkeitscharakter hätte oder wiederbekommen könnte, den man ihr verleihen will oder den sie einmal gehabt haben soll? Denkbar wäre ja auch eine andere Argumentation – die im Übrigen wirklich eine Argumentation im strikten Sinne sein könnte und nicht ein leidlich kaschierter Tabuisierungs-, Auratisierungs- oder Sakralisierungsversuch: Erst wenn die „menschliche Natur“ tatsächlich kontingent würde, wenn es also möglich würde, sie wirklich nach Belieben zu manipulieren und zu gestalten, wäre es auch möglich – und nötig –, sich über die Argumente zu verständigen, die für diese oder jene Manipulation sprächen. Oder aber für den Verzicht auf ihre Manipulation. Beides wären Akte der Freiheit – Freiheit nicht nur vom äußeren sozialen Zwang zur schrankenlosen Optimierung und permanenten Innovation, sondern auch vom inneren individuellen Zwang, das Mögliche zu realisieren, um Gewissheit zu erlangen, dass die subjektiven Fähigkeiten, die man sich zuschreibt und die zugleich gesellschaftliche Forderungen sind, auch wirklich mit den objektiven Möglichkeiten der historischen Situation korrespondieren. Dann wäre auch Blumenbergs so pessimistische wie nachsichtige Bemerkung zum dominanten Habitus der „Kontingenzkultur“ keine Dystopie, sondern nur ein schöner, nachdenklich machender Aphorismus: „– Wir müssen doch nicht alles machen, was wir können. / – Nein, wir müssen es nicht. / – Aber? / – Aber wir werden es machen. / – Und weshalb? / – Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste Zweifel bleibt, ob wir es wirklich können.“[13]

  1. Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, S. 57.
  2. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, S. 57 bzw. Hans Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt am Main 1974 [1966], S. 59.
  3. Vgl. Michael Makropoulos, Modernität und Kontingenz, München 1997, S. 22 ff. bzw. ders., Blumenberg und die Ontologie des ästhetischen Gegenstandes, in: Michael Heidgen / Matthias Koch / Christian Köhler (Hg.), Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege, München 2015, S. 93–112, hier S. 104 ff.
  4. Hans Blumenberg: „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981 [1963/1959], S. 7–54, hier S. 47 bzw. S. 12 ff.
  5. Helmuth Plessner, Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter, in: ders., Politik, Anthropologie, Philosophie, Aufsätze und Vorträge, München 2001 [1932], S. 71–86, hier S. 84. Dazu vgl. Michael Makropoulos, Zum Begriff der Möglichkeit bei Helmuth Plessner, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 12 (2018), Heft 2, S. 363–381.
  6. Hans Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität, in: Hans Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt am Main 1976, S. 144–207, hier S. 200 bzw. 144 f.
  7. Arnold Gehlen, Zeit‑Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt am Main / Bonn 1965 [1960], S. 190.
  8. Vgl. vor allem Makropoulos, Modernität und Kontingenz, bes. S. 13–32; ders., Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, in: Gerhart von Graevenitz / Odo Marquard (Hg.), Kontingenz. Poetik und Hermeneutik 17, München 1998, S. 55–79; ders., Kontingenz. Aspekte einer theoretischen Semantik der Moderne, in: Archives Européennes de Sociologie 45 (2004), S. 369–399.
  9. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 158.
  10. Vgl. Michael Makropoulos, „Vergesellschaftung im Unendlichen. Simmels Modernität, in: Hans-Peter Müller / Tilman Reitz (Hg.), Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Berlin 2018, S. 769–788, bes. 783 f.
  11. Vgl. Michael Makropoulos, Kontingenzkultur und Optimierungsgesellschaft. Ein historisch-systematischer Aufriß.
  12. Walter Benjamin, Der Erzähler, in ders., Gesammelte Schriften, Bd. II. 2, Frankfurt am Main 1977 [1936], S. 438–465, hier S. 442.
  13. Hans Blumenberg; Alles über Futurologie. Ein Soliloquium, in: ders., Ein mögliches Selbstverständnis. Aus dem Nachlaß, Stuttgart 1997, S. 29.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Politische Theorie und Ideengeschichte Philosophie Anthropologie / Ethnologie Gesellschaftstheorie Moderne / Postmoderne

Michael Makropoulos

Michael Makropoulos, Studium der Germanistik, Soziologie, Publizistik und Philosophie in Göttingen. Promotion an der Universität Göttingen, Habilitation an der Freien Universität Berlin. Lehre und Forschung in Göttingen, Paris, Freiburg, Würzburg, Erfurt, Basel, Chemnitz und Berlin (FU und HU) zur Theorie und Geschichte der kulturellen, ästhetischen und sozialen Moderne. http://hu-berlin.academia.edu/MichaelMakropoulos

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