Marc Buggeln | Rezension | 24.01.2019
Die vier apokalyptischen Reiter der Nivellierung
Rezension zu „Nach dem Krieg sind alle gleich“ von Walter Scheidel
In letzter Zeit wird vermehrt über die Rolle der beiden Weltkriege für die Verminderung der sozialen Ungleichheit und den Ausbau des Sozialstaats debattiert. Während Historiker dabei die Bedeutung des Krieges eher gering bewerten[1], haben stark quantitativ arbeitende Ökonomen und Politologen dessen Einfluss als sehr hoch veranschlagt.[2] Letzterer Position schließt sich nun der in Stanford lehrende Althistoriker Walter Scheidel an. Scheidel hat allerdings bisher nur zur antiken Welt publiziert. Auch hat er sich für das Buch anscheinend nur bedingt mit umfassenden historischen Studien zu den Weltkriegen beschäftigt.[3] Stattdessen wird weitgehend quantitativ argumentiert.
Scheidel erhebt den Anspruch, die Reduktion von sozialer Ungleichheit in der Menschheitsgeschichte erklären zu können. Dabei geht er davon aus, dass es in der Geschichte seit der Sesshaftwerdung der Menschen einen relativ beständigen Zug zu wachsender oder stabiler Ungleichheit gab. Demgegenüber seien Episoden, in denen die soziale Ungleichheit zwischen den Menschen deutlich sank, samt und sonders durch Ereignisse ausgelöst worden, die Scheidel die „vier apokalyptischen Reiter der Nivellierung“ (S. 16) nennt: Massenmobilisierungskriege, transformative Revolutionen, Staatsversagen und verheerende Pandemien. Das Buch ist so aufgebaut, dass Scheidel zuerst einen kurzen Überblick über die Geschichte der Ungleichheit gibt, dann die Ungleichheitswirkungen der vier Nivellierungskatastrophen analysiert, danach die friedlichen Alternativen prüft und abschließend einen Ausblick in die Zukunft wagt.
In das Kapitel über den Massenmobilisierungskrieg führt Scheidel mit einem Abschnitt über Japan und die egalisierende Wirkung des Zweiten Weltkriegs ein. Japan eignet sich für Scheidels Erzählung insofern besonders, als dort die Ungleichheit von 1942 bis 1946 rapide sank. Die Abnahme der Ungleichheit ist dadurch klar auf das Ende des Zweiten Weltkriegs zu datieren, während die Leistung der Nachkriegszeit darin bestand, die Ungleichheit auf diesem niedrigen Niveau zu stabilisieren. Für die meisten Länder in Europa und Nordamerika ist der Verlauf aber keineswegs so eindeutig. Dessen ist sich Scheidel natürlich bewusst, aber er behauptet, dass dies Maßnahmen zuzuschreiben sei, die kriegsbedingt ergriffen wurden. Diese Zuordnung ist aber äußerst schwierig und stellt bisher auch den Kern der Diskussion um das Buch dar. Neben der Kapitalzerstörung durch den Krieg selbst sieht Scheidel vier weitere Entwicklungen, die im Kontext der beiden Weltkriege zur Nivellierung der Ungleichheit beitrugen: 1) dramatische Steuererhöhungen, 2) Staatsintervention in die Wirtschaft, 3) Verlust an Kapital und Kapitalwert durch finanzielle Zusammenbrüche sowie 4) Ausweitung des Wahlrechts und gewerkschaftlicher Rechte.
Scheidel stellt fest, dass es in der Moderne nur die beiden Weltkriege waren, die als Massenmobilisierungskriege die Ungleichheit reduziert haben. Die Frühe Neuzeit und das Mittelalter kannten keine Massenmobilisierungskriege, die Scheidels Mindestmaß einer Rekrutierung von mindestens zwei Prozent der Bevölkerung erfüllten. Diese Marke erreichten zwar einige Kriege im antiken chinesischen und römischen Reich, doch diese führten nicht zu einer Nivellierung der Ungleichheit. Scheidel sieht am ehesten in der Hochphase des antiken Athen die Kombination von Massenmobilisierungskrieg und Ungleichheitsreduktion gegeben. Allerdings ist die Datenbasis im Hinblick auf Einkommens- und Vermögensungleichheit hier recht schmal.
Im Kapitel zu den transformativen Revolutionen zeigt sich, dass diese ebenfalls vor allem im 20. Jahrhundert Effekte der Ungleichheitsnivellierung hatten. Im Wesentlichen waren es die Revolutionen kommunistischer Parteien, die dies mit viel Gewalt bewerkstelligten. Die Enteignung der ländlichen und städtischen Eliten und die Kollektivierung oder Umverteilung des Bodens vernichteten die Basis des Reichtums der früheren Elite. Allerdings ist der Effekt aufgrund nur geringer Daten nicht einfach zu bemessen. Neben den kommunistischen Revolutionen war nach Scheidel nur die Französische Revolution in vorindustrieller Zeit erfolgreich in der Ungleichheitsnivellierung. Auch hier spielten Enteignung und Landverteilung neben der Ermordung der Elite eine zentrale Rolle. Allerdings existieren bisher keine Daten, die das Maß der Nivellierung einigermaßen überzeugend einschätzbar machen würden.
Demgegenüber sieht Scheidel den Staatszerfall vor allem als vormoderne Form der Ungleichheitsreduktion. Als herausragende Beispiele nennt er den Niedergang der Tang-Dynastie in China im 9. Jahrhundert und den Niedergang des Weströmischen Reiches. In beiden Fällen zerfiel der Staat, der die Bereicherung der Elite gesichert hatte, weil er sich äußeren und inneren Angriffen nicht mehr zur Wehr setzen konnte. Als modernes Beispiel untersucht Scheidel nur Somalia am Ende des 20. Jahrhunderts. Hier kommt er aber zu dem Ergebnis, dass die staatlichen Strukturen vor dem Zerfall schon zu schwach und die Gesellschaft zu arm gewesen seien, um erhebliche Ungleichheit zu erzeugen. Insgesamt erweist sich dieses Kapitel als wenig systematisch. Es wird nicht einmal erläutert, warum Somalia als einziges modernes Beispiel gewählt wurde.
Während es sich bei den ersten drei Einkommensnivellierungsereignissen um solche handelt, die eng mit menschlicher Gewalt verbunden waren, stellten Bakterien und Viren die Hauptverantwortlichen für die Pandemien dar, die das vierte von Scheidels Einkommensnivellierungsereignissen sind. Er zeigt jedoch, dass auch Pandemien, die erhebliche Teile der Bevölkerung hinrafften, nur dann Umverteilung zur Folge hatten, wenn Märkte für Boden und Arbeit existierten und die Elite nicht in der Lage war, den durch den Arbeitskräftemangel gestiegenen Wert der Arbeitskraft durch Gewalteinsatz nicht zum Tragen kommen zu lassen. Dies machte während der großen Pest im 14. Jahrhundert die Differenz zwischen Westeuropa auf der einen, Osteuropa und auch Ägypten auf der anderen Seite aus. In Westeuropa war die Elite zum Verhandeln gezwungen und musste für etwa 150 Jahre egalitärere Verhältnisse als vor Ausbruch der Pest akzeptieren, während in Osteuropa und Ägypten die Unterjochung der Bauern verschärft wurde, sodass keine soziale Nivellierung stattfand.
Nachdem Scheidel so gezeigt hat, dass es in der Menschheitsgeschichte der letzten 2.000 Jahre nur wenige durch seine vier apokalyptischen Reiter ausgelöste Katastrophen gab, die die soziale Ungleichheit deutlich reduzierten, prüft er, ob es nicht auch auf friedlichem Wege zur Nivellierung kam. Bodenreformen, Schuldenerlasse, Sklavenemanzipation und Bauernbefreiung ohne umfassende Gewalt haben aber seiner Meinung nach bestenfalls sehr milde Nivellierungswirkungen entfalten können. Die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen lassen sich bisher nur für das 20. Jahrhundert genauer bemessen. Quantitative Studien haben hier belegt, dass sich in der Mehrzahl der Wirtschaftskrisen die Ungleichheit eher verstärkt hat. Eine bedeutende Ausnahme war die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre, die in den USA die Ungleichheit deutlich verringerte. Auch die Finanzkrise 2008 führte nur zu einem kurzfristigen Rückgang der Einkommensanteile der Spitzenverdiener, der aber 2012 bereits wieder wettgemacht war. Die Rückwirkungen von Wahlrechtsausweitung und Demokratieentwicklung auf die Ungleichheit bezeichnet Scheidel als „widersprüchlich“ (S. 462).
Das folgende Kapitel untersucht die Möglichkeiten, durch wirtschaftliches Wachstum und Bildungsausweitung die Ungleichheit zu reduzieren. Der Befund, dass es keinen immer gleichen Verlauf der Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Ungleichheit gab, dürfte zwar treffend sein, aber es überrascht, dass Scheidel demgegenüber einer anderen Entwicklung so wenig Beachtung schenkt: Eine Grafik (S. 470) zeigt, dass der Gini-Index der ärmsten Länder im Jahr 2010 durchschnittlich bei etwa 0,42 beginnt und mit steigendem Wohlstandsniveau relativ stetig bis auf etwa 0,25 bei den wohlhabendsten Ländern abfällt. Da es beim Bildungsniveau eine enge Korrelation mit dem Wohlstandsniveau gibt, dürfte auch hier eine ähnliche Abnahme zu konstatieren sein, doch Scheidel wischt beides mit dem Hinweis beiseite, dass vieles durch Steuersysteme ermöglicht werde, die wiederum Ausfluss von Kriegen seien.
Zum Abschluss wendet sich Scheidel der jüngsten Vergangenheit und der Zukunft zu. Im Durchschnitt von 26 führenden Industrienationen bildet das Jahr 1983 den Wendepunkt, ab dem die Ungleichheit der Markteinkommen wieder zu steigen begann. In den angelsächsischen Ländern setzte diese Trendumkehr schon in den 1970er-Jahren ein. Aber auch in China, Indien oder Pakistan stieg der Gini-Index seit den 1980er-Jahren an. Dies lag für Scheidel daran, dass die Eliten stark von der Globalisierung profitierten, während die Macht der Gewerkschaften abnahm. Zudem sanken die Einkommensteuerspitzensätze vielerorts. In der Eurozone und Skandinavien kann derzeit noch die hohe Markteinkommensungleichheit durch Steuern und staatliche Transfers reduziert werden, doch Scheidel hält dies für ein teures System und geht fest von einer negativen Korrelation von Wirtschaftswachstum und Staatsquote aus. Bisher vorliegende Vorschläge zur Verringerung der Ungleichheit empfehlen vor allem die Erhöhung des Einkommensteuerspitzensatzes und die Einführung einer globalen Vermögensteuer. Scheidel glaubt nicht, dass diese Maßnahmen ohne sehr grundlegende Erschütterungen durchgesetzt werden können. Gleichzeitig vermutet er, dass keiner seiner vier apokalyptischen Reiter in naher Zukunft erneut zuschlagen werde. Wahrscheinlich ist für ihn deswegen vorerst eine weitere Zunahme der sozialen Ungleichheit, die durch die möglicherweise bald „biomechatronisch und gentechnisch veränderte Elite“ (S. 555) neue Züge annehmen könnte.
Insgesamt ist Scheidel ein durchaus beeindruckendes Buch gelungen. Es ist gut geschrieben, hat starke Thesen und trägt eine große Menge an quantitativem Material und Studien zur Ungleichheit in den letzten 3.000 Jahren zusammen. Die bisherige Diskussion ist deswegen auch vor allem von Lob und Zustimmung und nur von vereinzelten Kritikpunkten getragen.[4] Ohne Zweifel ist jedem, der sich für Geschichte und Zukunft sozialer Ungleichheit interessiert, die Lektüre der Studie dringend anzuraten, doch scheint mir eine grundsätzlichere Kritik angebracht zu sein, denn das Buch zeigt auch die üblichen Probleme vorwiegend quantitativer Studien. Die Daten werden den Thesen gemäß arrangiert, Korrelationen zwischen Phänomen überstrapaziert und den eigenen Interpretationen widersprechende Begründungen zu wenig geprüft. Letzteres ist zum Beispiel für die Ungleichheitsreduktion im 20. Jahrhundert der Fall. Scheidel weist selbst auf die umfassende Bedeutung von Steuererhöhungen, Stimmrechtsausweitung und Gewerkschaftsstärkung für die große Kompression hin, aber die einzelnen Phänomene werden nicht separat analysiert, sondern in einem der schwächsten Abschnitte des Buches (S. 462–464) verkürzt zusammen abgehandelt, um dann doch wieder nur festzustellen, dass ihr Aufstieg kriegsbedingt war. Dies vermag aber nur bedingt zu überzeugen. Ein Beispiel für eine friedliche Reduktion der Ungleichheit im 20. Jahrhundert bilden die skandinavischen Länder. Für Schweden, Norwegen oder Dänemark waren weder der Erste noch der Zweite Weltkrieg ein Massenmobilisierungskrieg. Auch gab es dort keine transformative Revolution, kein Staatsversagen und keine Pandemie. Und trotzdem gehören die drei Länder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den egalitärsten Ländern der Welt.[5] Verantwortlich dafür waren keine Katastrophen, sondern Demokratie, Wahlrechtsausweitung, Steuerpolitik, eine starke Sozialdemokratie und eine starke Gewerkschaftsbewegung. Dies zeigt, dass Scheidel die Bedeutung der Demokratie sowie des Aufstiegs der Arbeiterbewegung in ihrer Bedeutung für die Ungleichheitsnivellierung zu sehr unterschätzt. Sicherlich ist heute durchaus fraglich, ob sich eine ähnlich erfolgreiche Konstellation irgendwo in Asien, Lateinamerika oder Afrika herausbilden wird, völlig ausgeschlossen ist dies aber keineswegs. Somit besteht zwar viel Grund für Scheidels pessimistische Annahmen über die weitere Zunahme von Ungleichheit, aber es ist keineswegs so, dass diejenigen, die sich Anderes wünschen, zwangsläufig auf zerstörerische Massengewalt und Katastrophen setzen müssen.
Fußnoten
- Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2017, S. 43; Mark Roseman, War and the People. The Social Impact of Total War, in: Charles Townsend (Hrsg.), The Oxford History of Modern War, Oxford 2000, S. 280–302, hier S. 299.
- Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, S. 362; Kenneth Scheve / David Stasavage, Taxing the Rich. A History of Fiscal Fairness in the United States and Europe, Princeton 2016.
- So fehlt etwa Adam Toozes Standardwerk zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus wie auch sonst alle einschlägigen Bücher zu diesem Thema im Literaturverzeichnis.
- Ein Überblick über alle Besprechungen findet sich auf der Homepage von Walter Scheidel; siehe https:/
/web.stanford.edu/~scheidel (11.01.2019)./Leveler.pdf - Siehe World Inequality Database, https:/
/wid.world/ (11.01.2019).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Ralf Ahrens. Zuerst erschienen in H-Soz-Kult.
Kategorien: Soziale Ungleichheit Gewalt Geschichte
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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