Wolfgang Knöbl | Essay |

Ist Gewalt erklärbar?

Zweiter Kommentar zu Jan Philipp Reemtsma

Jan Philipp Reemtsma beginnt den systematischen Teil seiner Ausführungen, gemeint ist derjenige unmittelbar nach der Schilderung der revolutionären Situation im Lübeck Thomas Manns, mit Anmerkungen zu einem in den Sozialwissenschaften weit verbreiteten Fehler, vor dem man freilich schon die Studierenden in guten Einführungskursen eindringlich warnt, nämlich der ebenso wahllosen wie willkürlichen Funktionszuschreibung. Die Warnung lautet ungefähr so: »Liebe Studierende, in den Sozialwissenschaften hat man es mit bestimmten Phänomenen wie etwa Gewaltausbrüchen zu tun, die schwer zugänglich und verständlich sind. Nicht wenige, durchaus auch berühmte Sozialwissenschaftler behalfen und behelfen sich oft damit, dass sie diesen Phänomenen zumindest im Nachhinein bestimmte Funktionen zuschreiben und sie damit scheinbar ›erklären‹. In Wahrheit liegt allenfalls eine Pseudoerklärung vor, weil sich solche Funktionen immer erfinden lassen und die Benennung von Funktionen somit nichts über tatsächliche kausale Zusammenhänge aussagt, sondern lediglich über die blühende Fantasie von Forschern. Liebe Studierende, passt also auf, lasst euch nicht vorschnell zu solchen Funktionszuschreibungen verführen!« Der französische Kollege Fabien Jobard, von dessen Auftritt hier am Hamburger Institut für Sozialforschung Jan Philipp Reemtsma berichtete (S. 5 f.), hat diese Lektion offenbar vergessen, schrieb er den gewalttätigen Plünderungen in den französischen Vorstädten doch im Rückblick eine politische Funktion zu, obwohl von einer artikulationsfähigen politischen Agenda bei den Akteuren tatsächlich nichts zu sehen war.

Reemtsma ist darüber zu Recht einigermaßen ungehalten, belässt es aber bei ganz wenigen kritischen Sätzen. Wichtiger ist ihm in diesem Zusammenhang der allgemeine Verweis darauf, dass gerade auch linke Theoretiker von Massenbewegungen und Revolutionen – Marx zählte zu ihnen – immer ein Problem mit bestimmten Gruppen in der Gesellschaft hatten, deren oft unerfreuliches Verhalten – weil irgendwie unpolitisch – mit den herkömmlichen Kategorien nicht zu erklären war. Deswegen wurden Begriffe wie »Lumpenproletariat« verwendet, die bei Lichte besehen auch nicht wesentlich anders konnotiert waren als solche wie beispielsweise »Canaille«, »Abschaum« oder »Gesindel«, jene eher im rechten politischen Lager verwendeten Typisierungen. Es liegt also, so die Diagnose Reemtsmas, ein Problem vor, nämlich dasjenige, wie die Sozialwissenschaften – abstrakt gesprochen – »Gewaltmilieus« zum Thema machen und theoretisieren sollen.

Reemtsmas Antwort auf diese Problemlage ist äußerst radikal. Er schlägt explizit vor, diese Gewaltmilieus nicht zu erklären, sondern sie zu beschreiben. Ich bin mir hier an dieser Stelle allerdings nicht sicher, ob sein Vorschlag ein wirklich angemessener Schritt ist und – noch wichtiger – obReemtsma selbst ernsthaft auf eine Erklärung verzichtet (wobei man an dieser Stelle freilich darüber diskutieren müsste, was genau unter einer ›Erklärung‹ zu verstehen ist). Meine diesbezügliche These wäre, dass Reemtsma lediglich bestimmte Erklärungen zurückweist, andere aber durchaus akzeptiert. Man kann Reemtsmas Argumentationsstrategie vielleicht durch einen Gedankengang des US-amerikanischen Soziologen Jack Katz erläutern, dessen Analysen zur Gewalt mit denjenigen Reemtsmas im Übrigen durchaus korrespondieren. Katz sprach Anfang der 1990er-Jahre in einem Artikel, der aussagekräftig mit »Criminals’ Passions and the Progressive’s Dilemma«[1] überschrieben war, davon, dass es gerade den progressiven Linken schwerfalle, Gewalt zu verstehen, weil sie stets versucht seien, Gewalt auf irgendwelche fernliegende kulturelle, politische und vor allem soziale Ursachen zurückzuführen, sie also dadurch zu erklären, womit sie aber wesentliche Aspekte des Gewalthandelns gerade unterbelichtet ließen. Genau dieses Verfahren scheint mir auch Reemtsma zu monieren! Er verzichtet deshalb darauf, die von ihm anvisierten Gewaltmilieus aus den sozialstrukturellen, kulturellen oder psychologischen Dispositionen ihrer Mitglieder zu erklären: Es hätte ja beispielsweise durchaus nahegelegen – dies wäre die häufig in Anschlag gebrachte sozialstrukturelle Erklärung –, auf das Phänomen von Armut und sozialer Ungleichheit hinzuweisen; es hätte nahegelegen – dies wäre eine kulturelle Erklärung à la Michail Bachtin[2] –, auf den karnevalesken Charakter mancher Gewaltformen wie etwa den auch von Reemtsma angesprochenen ›revolutionären Ersten Mai‹ (S. 12) aufmerksam zu machen; und es hätte nahegelegen – dies wäre eine Art sozialpsychologischer Erklärung –, Axel Honneths Argumentationsfigur des Kampfes um Anerkennung[3] und Respekt heranzuziehen. Auf derartige Reduktionen verzichtet Reemtsma – und mit guten Gründen! Diese Erklärungen geben entweder kaum Aufschluss über die Gewalt oder sie sind bestenfalls tautologisch, weil mittlerweile – gleichgültig ob Synagogen angezündet oder Prügeleien welcher Art auch immer angezettelt werden – die jeweils beteiligten und dann interviewten Täter als Tatmotiv in aller Regel vom fehlenden Respekt für wen und was auch immer reden.

Stattdessen konzentriert sich Reemtsma auf phänomenologische und gelegentlich auch auf anthropologische und psychoanalytisch angeleitete Beschreibungen, die aber – wie schon von mir angedeutet und behauptet – tatsächlich mehr sind als bloße Beschreibungen. Der Kern- und Ausgangspunkt der in der Tat doch auf Erklärungen abzielenden Argumentation findet sich vermutlich im letzten Satz des Vortrages, in dem vom »Hass auf die Symbolisierungen der Fähigkeit zur Sublimation« die Rede ist, das heißt davon, dass Gewaltmilieus – wie Reemtsma an anderer Stelle formulierte – als antibürgerliche »Möglichkeit exzessiver Entsublimation« (S. 16) begriffen werden können. Die Ausübung von Gewalt ist demnach auch und nicht zuletzt eine Entgrenzungserfahrung. Gewaltpraktiken können gerade deshalb attraktiv sein, weil es schlicht die Versuchung und Verlockung durch Grenzenlosigkeit gibt, weil – wie es der schon genannte Jack Katz formulierte – Gewalt zuallererst im Kontext von »powerful attractions of sneaky thrills«, von »seductive play« und der »temptation of desecration«[4] zu interpretieren sei. Jack Katz spricht mit Blick auf bestimmte US-amerikanische männliche Jugendgangs von »Eliten der Straße«, deren an Hybris grenzende und gelegentlich gar als faschistisch zu deutende Macht- und Herrschaftsfantasien zu einer Lebensform führen, in der Gewalt gewissermaßen völlig anders wahrgenommen und erlebt wird als im bürgerlichen Leben.[5]

Reemtsma konnte in seinen Ausführungen nur kurz andeuten, was seine These von der in Gewaltmilieus sich bietenden »Möglichkeit exzessiver Entsublimation« zwingend erfordert, nämlich eine Analyse der (verhassten) bürgerlichen Lebensform als solcher, wobei er vom Mangel an narzisstischen Gewinnen in der Bürgerlichkeit ebenso sprach wie von der immer nur diffusen Identität als Bürger im Unterschied zur klaren Identität von Tätern in einem Gewaltmilieu, zumal eine genau solche klare und auf Gewalt fußende Identität jene Faszination ausmacht, die – und dies hat Reemtsma eindringlich dargestellt – das Bürgertum eben immer auch abwehren muss. Ich glaube, das sind wichtige und richtige Hinweise, die ich zum Schluss nur noch akzentuieren und vielleicht auch ausweiten will. Drei Punkte seien hier genannt:

1. Jan Philipp Reemtsma hat seinen Vortrag ja an Thomas Manns Rede von Lübeck als geistiger Lebensform angelehnt und damit unweigerlich eine bestimmte historische Gestalt vormals hegemonialer Bürgerlichkeit im Blick. Gewaltmilieus als Ausdruck der affektiven Abwehr bürgerlicher Sublimation zu begreifen, heißt dann aber auch, sich fragen zu müssen, was im heutigen Bürgertum (gibt es dieses überhaupt noch als soziale Einheit?) und auf welche Weise sublimiert worden ist. Nur durch eine Antwort auf diese Frage ließe sich ermitteln, was eigentlich – aus der Perspektive von Menschen in Gewaltmilieus – derart hassenswert an Bürgerlichkeit ist. Damit hängt unmittelbar

2. zusammen, dass Gewaltmilieus selbst ja vermutlich nicht als schlechthin entsublimiert begriffen werden können, sondern dass dort allenfalls vom Hass auf bestimmte Sublimierungen die Rede sein, anderes als durchaus sublimiert und damit – wenn man so will: als »selbstverständlich« und »normal« gelten kann. Umso wichtiger ist es dann aber, die in den Gewaltmilieus zirkulierenden Bilder und Rhetoriken zu analysieren, jene Hybris, von der Jack Katz sprach, oder jenes wie auch immer vermittelte Gefühl der »Grandiosität«, das Reemtsma ins Spiel brachte und das dem Bürgertum ihm zufolge fehlt. Die Vermutung, dass ein solches (stabiles) Selbstgefühl von Grandiosität dem Bürgertum tatsächlich abgeht, wie Reemtsma an manchen Stellen zu argumentieren scheint, sollte man aber nochmals genauer diskutieren, sind bürgerliche Heldengeschichten doch vielleicht armseliger und weniger aufregend als antibürgerliche, vielleicht jedoch selbst in ihrer Sublimierung noch als (durchaus tragende) Heldengeschichten zu identifizieren. So wären, wollte man Reemtsmas Argumentation an dieser Stelle weiterdenken, die je unterschiedlichen Heldenrhetoriken der verschiedenen Milieus und deren Beziehungen zueinander stärker ins Bild zu rücken.

3. Wenn man diesen Faden aufgreift und weiterspinnt, dürfte eine solche Gewaltforschung etwas weniger bescheiden auftreten, als es Reemtsma nahelegt. Sie müsste sich nicht mit bloßer Beschreibung begnügen, könnte vielmehr im Medium der genannten Analysen durchaus auch Erklärungsansprüche geltend machen. In diesem Sinne bleiben dann, glücklicherweise, dem Hamburger Institut für Sozialforschung noch genügend Aufgaben, die es auch nach dem Abschied von Jan Philipp Reemtsma – und dabei seinen Spuren folgend – zu erledigen gibt.

Dieser Beitrag bezieht sich auf die Abschiedsvorlesung, die Jan Philipp Reemtsma am 5. Juni 2015 in Hamburg gehalten hat. Wolfgang Knöbl und Michael Wildt haben seine Argumentation aus soziologischer respektive geschichtswissenschaftlicher Perspektive kommentiert. Den Veranstaltungsmitschnitt finden Sie hier zum Nachhören. Alle drei Texte sind Teil eines Soziopolis-Schwerpunkts zum Thema „Gewaltforschung“ - Sie finden die bisher erschienenen Aufsätze hier.

  1. Jack Katz, »Criminals’ Passions and the Progressive’s Dilemma«, in: Alan Wolfe (Hg.), America at Century’s End, Berkeley / Los Angeles / Oxford 1991, S. 396–417.
  2. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main 1995.
  3. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992.
  4. Jack Katz, »Criminals’ Passions«, S. 403.
  5. Ders., Seductions of Crime. Moral and Sensual Attractions in Doing Evil, New York 1988.

Kategorien: Gewalt

Wolfgang Knöbl

Professor Dr. Wolfgang Knöbl, Soziologe, ist Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Gastprofessor für Soziologie und Kulturorganisation an der Leuphana Universität Lüneburg.

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